09.04.2015

Mit Film, Text und Eleganz

LOTTE Dokumentarfilm
Dokumentarfilm im Projektraum: Kalyug von Juri Mazumdar

Lesen geht auch, wenn man Filme vorführt – Das Münchner Werkstattkino als Projektraum

Von Nora Moschuering

Bilder lassen im Kopf Geschichten entstehen, wecken Asso­zia­tionen, indi­vi­du­elle Erin­ne­rungen, die sich wieder mit anderen verknüpfen, Menschen, die einem auf der Straße begegnen, einem Geschmack bei der Eisdiele gegenüber oder dem Sound einer lang verges­senen Band. Filme geben Anlass zu Texten, wie hier auf Artechock, zu Film­be­spre­chungen und Kritiken und sind damit Impuls und Moti­va­tion, sich selber mit dem Film zu beschäf­tigen.

Der Stutt­garter Projekt­raum LOTTE (Land Of The Temporary Enternity), bringt seit drei Jahren durch genreüber­grei­fende Expe­ri­mente verschie­dene Diszi­plinen zusammen. Im letzten Herbst hat »die begrenzte Ewigkeit« endlich einen Beamer bekommen und damit ihren Lebens­raum in Richtung Film erweitert. Im soge­nannten Projek­ti­ons­raum dient jeder Film als Inspi­ra­tion für eine schrift­liche Arbeit eines weiteren Künstlers, Autoren oder Wissen­schaft­lers. Jeder Film ist damit Ausgangs­punkt für einen Text, der völlig unab­hängig von ihm existiert und auf eigenen Beinen steht. LOTTE besucht jetzt mit den ersten beiden Projek­ti­ons­räumen das Werk­statt­kino. Gelesen werden die Texte von der Schau­spie­lerin Bettina Wiehler.

Gestartet wird um 18 Uhr mit dem Doku­men­tar­film Kalyug von Juri Mazumdar, der letztes Jahr auf dem DOK.fest lief. »Kali Yuga« bedeutet in der Sprache des uralten, zentra­lin­di­schen Volks­stammes der Bhil das »Zeitalter des Nieder­gangs«. Der Film zeigt, wie Vers­täd­te­rung, Entfrem­dung und Aids auf die Mythen eines Stammes treffen, der weiter versucht die Verän­de­rungen mit den alten Erzäh­lungen zu erklären. So erzählen die Bhil die poetische Geschichte einer Prin­zessin, eines Heilers und eines Dämons. Sie dient als eine Art kultische Medizin, die aber natürlich eher mythi­scher Trost ist als tatsäch­liche Hilfe.
Zu Kalyug haben zwei Autoren Texte verfasst. Die Münchner Autorin und Über­set­zerin Sara Magdalena Schüller, die im Februar den Lite­ra­tur­wett­be­werb Wartholz gewonnen hat, verfasst ihr »Manifest der Weisen« in der Tonalität eines alten Liedes. Damit nimmt sie den Rhythmus der Erzählung der Bhil auf, der Mythos wird so bis in unsere Zeit hinein weiter­ge­sponnen.
Der zweite Text stammt von Pravu Mazumdar, Vater des Filme­ma­chers. Er arbeitet als freier Autor, Über­setzer und Dozent in München. Neben Schmuck ist eines seiner Themen die kolli­die­renden Para­dies­vor­stel­lungen, die seiner Meinung nach in der heutigen Welt zu großen und sehr gegen­sätz­li­chen Bewe­gungen führen: Migration und Tourismus. In seinem Text steht unsere Gesell­schaft im Mittel­punkt und unsere Erfah­rungen mit Krankheit. Verspürt man nicht immer eine Erleich­te­rung, wenn man eine Diagnose, eine Art Defi­ni­tion der Situation, erhält? So ähnlich geht es auch den Bhil, denn oft ist es schwie­riger die Macht­lo­sig­keit einzu­ge­stehen, als viel­leicht sinnlose, aber dennoch beru­hi­gende Erklä­rungen zu haben.

Im zweiten Programm, das um 20 Uhr beginnt, tauchen Studenten der Hoch­schule für bildende Künste Hamburg mit vier Kurz­filmen in die eigene Vergan­gen­heit ein.
Le creature del vesuvio von Martin Prinoth erzählt von den Kindern in Neapel, wo er selbst zeitweise aufwuchs, die im Dreieck von Vesuv, Camorra und dem Katho­li­zismus leben. Samay Claro, die seit vier Jahren als Redak­teurin beim DOK.fest arbeitet, hat durch ihre Arbeit viel mit Texten zu Filmen zu tun. In einem Interview mit ihr geht es um Stärken und Schwächen des Filmes, aber auch um Asso­zia­tionen zu bestimmten Bildern.
Apropos Bilder, in Reality 2.0 kommt der Mexikaner Victor Orozco nicht von den Bildern seines Heimat­landes los, denn die Narcos haben mitt­ler­weile das Internet als Ort der Selbst­in­sze­nie­rung entdeckt. Der Künstler Marco Schmitt, beken­nender Anhänger des Scha­ma­nismus, der mit anima­li­scher Kraft und Technik versucht, die Zivi­li­sa­tion wieder mit der Natur zu vereinen, schreibt in seinem Text über den Opferkult der Narcos, aber auch den der Azteken.
Oben im Eck – Holger Hiller von Janine Jembere ist ein Porträt des Musikers Holger Hiller, in den Achzigern Mitglied der Hamburger NDW-Band Palais Schaum­burg. Den Text zu der Collage aus Inter­views, Polaroids und alten Film­aus­schnitten schrieb Florian Boser, der für mich der Geist des Kinos war, der sämtliche Film­zi­tate kannte und auch die Zitate der Zitate, der immer durch mehrere Meta­ebenen schlüpfte und auch noch Musik und Kunst mitein­bezog. Er hätte eigent­lich ein eigenes Kino gründen sollen, in dem er ab und an mit Assayas, Jarmusch, Seidl und ähnlichen Typen herum­ge­hangen wäre und sich die Nacht um die Ohren geschlagen hätte. Einer der im Kino zu Hause gewesen ist und es auch noch viel viel länger hätte sein sollen.
The Owls Have Grown As Big As The Half Moon, von Maya Connors versucht sich an den eigenen früh­kind­li­chen Erin­ne­rungen – etwas wie Prousts »Auf der Suche nach der verlo­renen Zeit«. Man bewegt sich mit ihr in einem Rauschen, aus dem ganz allmäh­lich Geräusche, Stimmen, Farben und Bilder entstehen. Die Künst­lerin Adrianna Liedtke putzt, während sie ihr Höschen auszieht, die Pistole sauber. Sie hat den Text dazu geschrieben. In ihm hinter­fragt sie das Wesen der Erin­ne­rungen. Wer ist der Garant für die Rich­tig­keit von Erin­ne­rungen, wer gleicht sie mit uns ab? Besteht Erin­ne­rung nicht viel mehr aus einer Reihe von Erin­ne­rungs­akten, die alleine für sich, einge­schlossen in einem Subjekt, eher Fiktion sind und erst im gegen­sei­tigen sich bestä­tigen, z.B.: innerhalb einer Familie, zu einer Art Realität werden können?

Es geht dem Projek­ti­ons­raum natürlich um nichts weniger als um die Infil­tra­tion des Publikums, denn nach dem Film des Filme­ma­chers und dem Text des Schrei­benden, ist das der nächste Schritt. Auch hier kann wieder Neues passieren. Der Projek­ti­ons­raum ist also, um den Anfang des Textes zu zitieren, – hoffent­lich und im besten Fall – Impuls und Moti­va­tion für jeden einzelnen, sich selber damit zu beschäf­tigen.

Die Autorin ist Mitor­ga­ni­sa­torin von LOTTE.

LOTTE – Lesung und Film­vor­füh­rung, 12.04.2015, 18:00 und 20:00 Uhr, Werk­statt­kino München, Fraun­ho­ferstr. 9