Mit Film, Text und Eleganz |
||
Dokumentarfilm im Projektraum: Kalyug von Juri Mazumdar |
Von Nora Moschuering
Bilder lassen im Kopf Geschichten entstehen, wecken Assoziationen, individuelle Erinnerungen, die sich wieder mit anderen verknüpfen, Menschen, die einem auf der Straße begegnen, einem Geschmack bei der Eisdiele gegenüber oder dem Sound einer lang vergessenen Band. Filme geben Anlass zu Texten, wie hier auf Artechock, zu Filmbesprechungen und Kritiken und sind damit Impuls und Motivation, sich selber mit dem Film zu beschäftigen.
Der Stuttgarter Projektraum LOTTE (Land Of The Temporary Enternity), bringt seit drei Jahren durch genreübergreifende Experimente verschiedene Disziplinen zusammen. Im letzten Herbst hat »die begrenzte Ewigkeit« endlich einen Beamer bekommen und damit ihren Lebensraum in Richtung Film erweitert. Im sogenannten Projektionsraum dient jeder Film als Inspiration für eine schriftliche Arbeit eines weiteren Künstlers, Autoren oder Wissenschaftlers. Jeder Film ist damit Ausgangspunkt für einen Text, der völlig unabhängig von ihm existiert und auf eigenen Beinen steht. LOTTE besucht jetzt mit den ersten beiden Projektionsräumen das Werkstattkino. Gelesen werden die Texte von der Schauspielerin Bettina Wiehler.
Gestartet wird um 18 Uhr mit dem Dokumentarfilm Kalyug von Juri Mazumdar, der letztes Jahr auf dem DOK.fest lief. »Kali Yuga« bedeutet in der Sprache des uralten, zentralindischen Volksstammes der Bhil das »Zeitalter des Niedergangs«. Der Film zeigt, wie Verstädterung, Entfremdung und Aids auf die Mythen eines Stammes treffen, der weiter versucht die Veränderungen mit den alten
Erzählungen zu erklären. So erzählen die Bhil die poetische Geschichte einer Prinzessin, eines Heilers und eines Dämons. Sie dient als eine Art kultische Medizin, die aber natürlich eher mythischer Trost ist als tatsächliche Hilfe.
Zu Kalyug haben zwei Autoren Texte verfasst. Die Münchner Autorin und Übersetzerin Sara Magdalena Schüller, die im Februar den Literaturwettbewerb Wartholz
gewonnen hat, verfasst ihr »Manifest der Weisen« in der Tonalität eines alten Liedes. Damit nimmt sie den Rhythmus der Erzählung der Bhil auf, der Mythos wird so bis in unsere Zeit hinein weitergesponnen.
Der zweite Text stammt von Pravu Mazumdar, Vater des Filmemachers. Er arbeitet als freier Autor, Übersetzer und Dozent in München. Neben Schmuck ist eines seiner Themen die kollidierenden Paradiesvorstellungen, die seiner Meinung nach in der heutigen Welt zu großen und sehr
gegensätzlichen Bewegungen führen: Migration und Tourismus. In seinem Text steht unsere Gesellschaft im Mittelpunkt und unsere Erfahrungen mit Krankheit. Verspürt man nicht immer eine Erleichterung, wenn man eine Diagnose, eine Art Definition der Situation, erhält? So ähnlich geht es auch den Bhil, denn oft ist es schwieriger die Machtlosigkeit einzugestehen, als vielleicht sinnlose, aber dennoch beruhigende Erklärungen zu haben.
Im zweiten Programm, das um 20 Uhr beginnt, tauchen Studenten der Hochschule für bildende Künste Hamburg mit vier Kurzfilmen in die eigene Vergangenheit ein.
Le creature del vesuvio von Martin Prinoth erzählt von den Kindern in Neapel, wo er selbst zeitweise aufwuchs, die im Dreieck von Vesuv, Camorra und dem Katholizismus leben. Samay Claro, die seit vier Jahren als Redakteurin beim DOK.fest arbeitet, hat durch ihre Arbeit viel mit Texten zu Filmen zu tun.
In einem Interview mit ihr geht es um Stärken und Schwächen des Filmes, aber auch um Assoziationen zu bestimmten Bildern.
Apropos Bilder, in Reality 2.0 kommt der Mexikaner Victor Orozco nicht von den Bildern seines Heimatlandes los, denn die Narcos haben mittlerweile das Internet als Ort der Selbstinszenierung entdeckt. Der Künstler Marco Schmitt, bekennender Anhänger des Schamanismus, der mit animalischer Kraft und Technik versucht, die Zivilisation
wieder mit der Natur zu vereinen, schreibt in seinem Text über den Opferkult der Narcos, aber auch den der Azteken.
Oben im Eck – Holger Hiller von Janine Jembere ist ein Porträt des Musikers Holger Hiller, in den Achzigern Mitglied der Hamburger NDW-Band Palais Schaumburg. Den Text zu der Collage aus Interviews, Polaroids und alten Filmausschnitten schrieb Florian Boser, der für mich der Geist des Kinos war, der sämtliche Filmzitate kannte und auch die
Zitate der Zitate, der immer durch mehrere Metaebenen schlüpfte und auch noch Musik und Kunst miteinbezog. Er hätte eigentlich ein eigenes Kino gründen sollen, in dem er ab und an mit Assayas, Jarmusch, Seidl und ähnlichen Typen herumgehangen wäre und sich die Nacht um die Ohren geschlagen hätte. Einer der im Kino zu Hause gewesen ist und es auch noch viel viel länger hätte sein sollen.
The Owls Have Grown As Big As The Half Moon, von Maya Connors versucht sich
an den eigenen frühkindlichen Erinnerungen – etwas wie Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«. Man bewegt sich mit ihr in einem Rauschen, aus dem ganz allmählich Geräusche, Stimmen, Farben und Bilder entstehen. Die Künstlerin Adrianna Liedtke putzt, während sie ihr Höschen auszieht, die Pistole sauber. Sie hat den Text dazu geschrieben. In ihm hinterfragt sie das Wesen der Erinnerungen. Wer ist der Garant für die Richtigkeit von Erinnerungen, wer gleicht sie mit
uns ab? Besteht Erinnerung nicht viel mehr aus einer Reihe von Erinnerungsakten, die alleine für sich, eingeschlossen in einem Subjekt, eher Fiktion sind und erst im gegenseitigen sich bestätigen, z.B.: innerhalb einer Familie, zu einer Art Realität werden können?
Es geht dem Projektionsraum natürlich um nichts weniger als um die Infiltration des Publikums, denn nach dem Film des Filmemachers und dem Text des Schreibenden, ist das der nächste Schritt. Auch hier kann wieder Neues passieren. Der Projektionsraum ist also, um den Anfang des Textes zu zitieren, – hoffentlich und im besten Fall – Impuls und Motivation für jeden einzelnen, sich selber damit zu beschäftigen.
Die Autorin ist Mitorganisatorin von LOTTE.
LOTTE – Lesung und Filmvorführung, 12.04.2015, 18:00 und 20:00 Uhr, Werkstattkino München, Fraunhoferstr. 9