¡Viva Méjico! |
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José Luis Valles Workers |
Von Natascha Gerold
Erst vor Kurzem hat man ihn wieder gehört. El grito – den Ruf, der den Nationalfeiertag Mexikos am 15. September charakterisiert. 1810 ließ ihn der Priester Miguel Hidalgo mit seiner Kirchenglocke ertönten, ihm folgten die Revolutionäre und begehrten gegen die spanische Kolonialmacht auf. Und heute, 204 Jahre später? Da übernimmt ein Präsident ohne Ecken und Kanten aber mit zweifelhafter Vergangenheit am Unabhängigkeitstag das Ritual des »el grito«.
Zum Glück sind da noch andere Rufer. Wie einst Hidalgo appellieren viele mexikanische Filmemacher mit ihren Werken an das Selbstbewusstsein ihrer Landsleute, zeigen Missstände auf, bewegen Menschen und zeitigen mitunter überraschende Veränderungen. Einiges davon kann man bei den Lateinamerikanischen Filmtagen sehen, die heuer Mexiko als Schwerpunktland ausgewählt haben. Ermutigung ist vielleicht nicht das Erste, was einem bei dem Dokumentarfilm Cuates de Australia – Drought (Do., 02. 10. 21 Uhr, VSB Gasteig/Fr., 03. 10. 19 Uhr, VSB Gasteig) von Everardo González einfällt. Mit ergreifenden, mythisch anmutenden Bildern zeigt er den alljährlich wiederkehrenden Überlebenskampf einer kleinen Dorfgemeinschaft während der Dürre im nördlichen Staat Coahuila. Doch eben nicht nur das: Er porträtiert sie als Helden, die beim ersten Regen in ihre Heimat zurückkommen. Gleichwohl kein politischer Film, hat González ein Problembewusstsein geschaffen, das den Bewohnern mittlerweile einen Brunnen und fließend Wasser bescherte – die Suche nach dem „blauen Gold“ hat also vorerst eine Art Happy End. Auch Blanca Aguerre erweist in ihrem sehr persönlichen und humorvollen Dokumentarfilm Lupe el de la vaca (Sa., 27. 09. 18 Uhr, VSB Gasteig/So., 28. 09. 18 Uhr, VSB Gasteig), der die Lateinamerikanischen Filmtage eröffnet, jenen die Ehre, die trotz widrigster Umstände beharrlich und voller Stolz an ihrem landwirtschaftlich geprägten Leben in der Sierra del Tigre festhalten.
Einen mutigen Weckruf stießen vor sieben Jahren Alejandra Sánchez und José Antonio Cordero mit ihrem Dokumentarwerk Bajo Juárez: La ciudad devorando a sus hijas (Mo., 29. 09. 20.30 Uhr, VSB Gasteig/Mi., 01.10. 20.30 Uhr, VSB Gasteig) aus. Eindringlich weisen sie darin auf tausende Ermordete in der Stadt Juárez nahe der US-amerikanischen Grenze hin – überwiegend junge Frauen, die einst zwecks Arbeit in den sogenannten Maquiladoras, den Kleinfirmen, die für die Vereinigten Staaten produzieren, in die Stadt kamen und dort Opfer von brutalsten Gewaltexzessen der örtlichen Drogenkartelle wurden. Behörden und Polizei schauen weg, sabotieren saubere Aufklärungsarbeit. Und wie bei Everardo González zeigte der Ruf Wirkung: Menschen protestierten, der damalige Präsident Fox richtete eine Abteilung für Sonderermittlungen, die allerdings vom Nachfolger Calderón wieder eingestellt wurde. Die pinken Kreuze zum Gedenken an die Opfer stehen jedoch immer noch in Su árez.
Gewöhnliche Menschen, denen extreme, aber durchaus mögliche Dinge widerfahren – sie entspringen der Figurengallerie des einfallsreichen Autorenfilmers José Luis Valle, der mit seiner vielfach ausgezeichneten tiefschwarzen Komödie Workers (Sa., 27. 09. 21.00 Uhr, VSB Gasteig/Di., 30. 09. 20.30 Uhr, VSB Gasteig) und dem minimalistischen, dafür umso effektvolleren Schwarz-Weiß-Drama Las Búsquedas – The Searches (So., 28.09. 20.00 Uhr, VSB Gasteig/Freitag, 03.10. 21 Uhr, VSB Gasteig) zweimal bei diesen Filmtagen vertreten ist. Die Charakterkonstellation in beiden Filmen klingt ähnlich, ist es aber nicht: Während sich bei Workers Held und Heldin auf unterschiedlich Art gegen absurde Unfairness am jeweiligen Arbeitsplatz wehren und sich dabei selbst neu entdecken, versuchen in Las búsquedas Mann und Frau, die der Zufall zueinander gebracht hat, den ihnen zugefügten Schmerz mit Hilfe des jeweils anderen zu lindern – Ausgang ohne Gewähr und in beiden Fällen intelligente, nachdenklich stimmende Fiktion.
Eine Hommage und eine Premiere sind die besonderen Höhepunkte der diesjährigen Lateinamerikanischen Filmtage: dem berühmten mexikanischen Kameramann Gabriel Figueroa ist ein Abend im Instituto Cervantes gewidmet, wo, bei freiem Eintritt, ein Gespräch mit Filmexperte Peter B. Schumann und das filmische Porträt Miradas Múltiples (Mo., 29.09. 19.30 Uhr) von Emilio Maillé einen Überblick über Figueroas eindrucksvolles Schaffen und Wirken geben. Erstmalig in Deutschland wird Post Tenebras Lux (Di., 30. 09. 20.15 Uhr, Werkstattkino/ Mi., 01.10. 20.15 Uhr, ebenda) von Carlos Reygadas zu sehen sein, der ihm in Cannes 2012 den Regiepreis einbrachte. Ein wohlhabendes Paar, das die Stadt satt hat und auf dem Land nach neuen Horizonten sucht, bildet die Rahmenhandlung des zum Teil autobiographisch geprägten Spielfilms. Blockaden westlicher Zivilisation, unmenschliche Brutalität, kindliche Unmittelbarkeit und Zärtlichkeit sind keine Gegensätze, sondern Elemente einer Collage. »Das Gehirn geht immer auf Reise«, sagt Reygadas und folgt somit keinem cineastischen Code, sondern seinem Bewusstseinsstrom, der mehr betrachtet als erzählt. Der »Realismus des neuen Jahrtausends«, den Kritiker Reygadas schon bescheinigten, zeigt sich diesmal magisch-manisch.
Die Lateinamerikanischen Filmtage München von 27. September bis 3. Oktober finden im Gasteig, im Vortragssaal der Stadtbibliothek und im Werkstattkino statt. Letzteres zeigt unter anderem auch das Special BUÑUEL IN MEXIKO (Mo. und Do. jeweils um 20.30 Uhr und Mo. bis Do. um 22.30 Uhr). Weitere Informationen und das Programmheft gibt es unter www.lateinamerikanischefilmtage-muenchen.de