Anleitung zum Exzentrischsein |
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Tage im Dämmer, Nächte im Rausch: Werner Schroeter |
Viel geschlafen hat Werner Schroeter, schon bevor er schwer krank wurde, nie. Nächtelang konnte er erzählen, etwa im Diener, jener Berliner Uralt-Kneipe, die auch zu Fassbinders Stammlokalen gehört hatte, ganz in der Nähe der ersten Wohnung, die Schroeter Ende der sechziger Jahre gemeinsam mit seinem damaligen Freund Rosa von Praunheim bezog. Von seiner Freundin, der Schauspielerin Marianne Hoppe zum Beispiel, die er mit nur zwölf Jahren nach einer Theaterpremiere aufsuchte, um ein Autogramm zu ergattern – »ich glaube sogar, ich kniff sie in den Arm, um zu sehen, ob sie echt ist« –, und die sich noch in hohem Alter von ihm durchs Berliner Nachtleben führen ließ, Augen- und Ohrenzeugin einer Epoche, die er selbst nicht mehr erlebt, einer Welt, die er kaum gekannt hatte. Oder von Rainer Werner Fassbinder, den er verehrte, und Alexander Kluge, der ihn – »ich weiß eigentlich auch nicht, warum« – nicht um einen Beitrag zu seinem Kompilationsfilm Deutschland im Herbst gebeten hatte.
Er war ein faszinierender Gesprächspartner, liebenswürdig, narzisstisch, witzig, offen bis zur Selbstentblößung, dabei erfüllt von Noblesse, voller Anekdoten. Ob sie immer ganz gestimmt haben, ist eine andere Frage, aber was macht das schon? Jeder ist schließlich Schöpfer seiner Biographie. »Si non è vero, è ben trovato« – das galt für den Poeten, Melodramatiker und theatralischen Italien-Liebhaber Werner Schroeter allemal. Und weil nichts über die unmittelbare Wirkung der Person Schroeters hinausging, weil diese trotz allem noch sein Schaffen in den Schatten stellte und weil Schroeter nur dann zur Hochform auflief, wenn er ein Gegenüber als Kontrapunkt, Inspirationsquelle oder wenigstens Stichwortgeber hatte, ist die Entstehungsform dieses Buches ein wahrer Glücksfall. Allein hätte er das alles wohl kaum aufgeschrieben, und wenn, dann bestimmt nicht so.
»Man müsste mir mal vier Wochen zuhören, dann könne man sofort ein Buch daraus machen, ich hab alles präsent« – so ging es los. In einem sehr intensiven Sommer und Herbst 2009 – zwischen der Premiere seines letzten Films, der Juan-Carlos-Onetti-Verfilmung Diese Nacht, und dem Ehrenpreis bei den Filmfestspielen von Venedig und vor seiner letzten Theaterpremiere, »Quai West« an der Berliner Volksbühne, kaum einen Monat vor seinem fünfundsechzigsten Geburtstag am 7. April 2010 und seinem Tod nach langer Krebserkrankung wenige Tage danach – öffnete Schroeter die Schleusen seines »elephantösen Gedächtnisses« und gab der Autorin und Filmhistorikerin Claudia Lenssen in vielstündigen Gesprächen in Berliner Cafés bereitwillig Auskunft.
»Alles entstand spontan auf Handyzuruf, immer zwischendurch«, berichtete Lenssen kürzlich bei der Buchvorstellung – und zeigte sich noch einmal erstaunt, wie präzise Schroeter Inhalt und Kapitelabfolge, ja deren Titel und Hauptgedanken im Kopf hatte, wie er intuitiv Pointen einbaute und flüssig erzählte. Lenssen wurde bei dieser Arbeit zum Medium des großen Schauspielregisseurs und Menschenfängers Schroeter. »Seine Erinnerungen, seine Erfahrungen, seine Emotionen sind auch durch meinen Kopf und meine Hände gegangen.« Das Ziel einer Autobiographie stand klar vor Augen, aber vermutlich ahnte Schroeter schon, dass er sie selbst nicht mehr zu Ende führen würde.
Doch wenn man jetzt in diesem Buch liest, dauert es nur Sekunden, bis Gestalt und Stimme des Regisseurs wieder präsent sind und man ihn selbst lebendig vor sich sieht. Alle treten sie da auf, die Göttinnen und Halbgötter seines privaten Kosmos: Christine Kaufmann, Isabelle Huppert, Michel Foucault, Magdalena Montezuma, Ingrid Caven – und vor allem Maria Callas. »Sie thronte auf zahllosen Balenciaga-Kissen«, schildert er die erste Begegnung mit ihr: »Sie sah so schön aus – da dachte ich mir: Ich setze alles auf eine Karte, ich benehme mich so, wie ich bin.«
So geht es auf fast vierhundert Seiten – eine extrem kurzweilige, immer geistreiche Lektüre, bei der einem immer wieder überraschende Einsichten und Beobachtungen begegnen. Denn Schroeter, der als Regisseur ein Meister darin war, Geschichten konsequent poetisch und jenseits üblicher Narration zu gestalten, ist ein sehr guter Erzähler, immer eitel genug, um den Helden des Buches ins Zentrum zu stellen, aber nie so eitel, um durch Nabelschau zu langweilen.
Die Callas und Schroeters Mutter stehen am Anfang. Dann geht es im Ganzen chronologisch weiter: Über die Kindheit des 1945 in Thüringen Geborenen im Nachkriegsdeutschland, die liberalen Eltern, die der DDR schnell in den Westen entkamen, die Jugend in Bielefeld und Heidelberg, wo die Brüder Schroeter »ziemlich frei, um nicht zu sagen verwildert« aufwuchsen, über ersten Sex und frühe Kunsterlebnisse bis zum Aufbruch nach Italien, wo er »die Liebe lernen und dann sterben« wollte, aber mit Pier Paolo Pasolini noch einiges mehr kennenlernte. Den Hauptteil bildet die künstlerische Vita, die Schroeter durch die ganze Welt führte: In den Vereinigten Staaten, in Argentinien, Mexiko und auf den Philippinen drehte der Kosmopolit Filme, in Frankreich, Portugal und Italien sowieso.
Schroeter war nie bereit, jene Veränderungen zu akzeptieren, die mit der Kommerzialisierung des Fernsehens einhergingen, das seine Filme zunächst finanzierte, mit jener Quoten-Brutalität, die heute selbst sogenannte Kultursender wie arte beherrscht. Er verweigerte sich der Technokratie und Formatierung, beschrieb immer wieder verächtlich die »Bürokratisierung der Filmproduktion« und fand Wege, um irgendwie auf seine Weise weiterzuarbeiten – wenn auch zunehmend auf den finanziell besser ausgestatteten öffentlichen Bühnen.
Es sind vor allem Randbemerkungen, in denen der Regisseur auch prinzipielle Fragen der Kulturpolitik und der Stellung der Kunst im öffentlichen Raum als ein Geben und Nehmen berührt. Er, der natürlich auch die eigene Genialität kultivierte, glaubte ein Anrecht darauf zu haben, von der Gesellschaft oder deren Institutionen finanziert zu werden. Künstler seien als Experimentatoren, Herausforderer und Schockierer für die Bewusstseinserweiterung der Menschheit zuständig – und gäben ihr in ihren Werken etwas zurück, was sie nirgendwo sonst erhalten könne. Gerade diese Vorstellung von einer widerständigen Kunst sucht die heutige Filmförderung zunehmend zu vergessen.
Jenseits solcher Gedanken, jenseits aller kleinen und großen Geschichten und der aufschlussreichen Einblicke in die Schroetersche Werkstatt gibt es vor allem zwei durchgängige Motive in diesem Buch. Das eine ist die großzügige Liebe zum Leben, der »elan vital« (Bergson), den der äußerst lebensbejahende Schroeter, der auch innerlich ständig unterwegs war, immer aufs Neue beschwor. Er war ein Hedonist, und das vom neidischen Rosa von Praunheim als Beleidigung gemeinte Bonmot vom »Champagner-Schroeter« dürfte er als Kompliment empfunden haben – was denn sonst, wenn nicht Champagner? Das andere ist der gelassene Dienst am Schönen an sich, als einer Türpforte zum »Aufenthalt im Unerhörten«, wie es Schroeters zweiter Lieblingsphilosoph, Ernst Bloch, einmal beschrieben hat. Auch solche überirdischen Momente finden sich in dieser wunderbaren Autobiographie, die auch eine Anleitung zum Exzentrischsein ist und sich liest, als ob man einen letzten langen Abend mit Werner Schroeter verbringen würde.
Werner Schroeter: »Tage im Dämmer, Nächte im Rausch«. Autobiographie. Aufbau Verlag, Berlin 2011. 408 Seiten, 22,95 Euro