21.04.2011

Anleitung zum Exzen­trisch­sein

Tage im Dämmer, Nächte im Rausch:
Werner Schroeter

Von Rüdiger Suchsland

Elan Vital & Cham­pa­gner: Die Auto­bio­gra­phie von Werner Schroeter

Viel geschlafen hat Werner Schroeter, schon bevor er schwer krank wurde, nie. Näch­te­lang konnte er erzählen, etwa im Diener, jener Berliner Uralt-Kneipe, die auch zu Fass­bin­ders Stamm­lo­kalen gehört hatte, ganz in der Nähe der ersten Wohnung, die Schroeter Ende der sechziger Jahre gemeinsam mit seinem damaligen Freund Rosa von Praunheim bezog. Von seiner Freundin, der Schau­spie­lerin Marianne Hoppe zum Beispiel, die er mit nur zwölf Jahren nach einer Thea­ter­pre­miere aufsuchte, um ein Autogramm zu ergattern – »ich glaube sogar, ich kniff sie in den Arm, um zu sehen, ob sie echt ist« –, und die sich noch in hohem Alter von ihm durchs Berliner Nacht­leben führen ließ, Augen- und Ohren­zeugin einer Epoche, die er selbst nicht mehr erlebt, einer Welt, die er kaum gekannt hatte. Oder von Rainer Werner Fass­binder, den er verehrte, und Alexander Kluge, der ihn – »ich weiß eigent­lich auch nicht, warum« – nicht um einen Beitrag zu seinem Kompi­la­ti­ons­film Deutsch­land im Herbst gebeten hatte.

Er war ein faszi­nie­render Gesprächs­partner, liebens­würdig, narziss­tisch, witzig, offen bis zur Selbst­ent­blößung, dabei erfüllt von Noblesse, voller Anekdoten. Ob sie immer ganz gestimmt haben, ist eine andere Frage, aber was macht das schon? Jeder ist schließ­lich Schöpfer seiner Biogra­phie. »Si non è vero, è ben trovato« – das galt für den Poeten, Melo­dra­ma­tiker und thea­tra­li­schen Italien-Liebhaber Werner Schroeter allemal. Und weil nichts über die unmit­tel­bare Wirkung der Person Schro­eters hinaus­ging, weil diese trotz allem noch sein Schaffen in den Schatten stellte und weil Schroeter nur dann zur Hochform auflief, wenn er ein Gegenüber als Kontra­punkt, Inspi­ra­ti­ons­quelle oder wenigs­tens Stich­wort­geber hatte, ist die Entste­hungs­form dieses Buches ein wahrer Glücks­fall. Allein hätte er das alles wohl kaum aufge­schrieben, und wenn, dann bestimmt nicht so.

»Man müsste mir mal vier Wochen zuhören, dann könne man sofort ein Buch daraus machen, ich hab alles präsent« – so ging es los. In einem sehr inten­siven Sommer und Herbst 2009 – zwischen der Premiere seines letzten Films, der Juan-Carlos-Onetti-Verfil­mung Diese Nacht, und dem Ehren­preis bei den Film­fest­spielen von Venedig und vor seiner letzten Thea­ter­pre­miere, »Quai West« an der Berliner Volks­bühne, kaum einen Monat vor seinem fünf­und­sech­zigsten Geburtstag am 7. April 2010 und seinem Tod nach langer Krebs­er­kran­kung wenige Tage danach – öffnete Schroeter die Schleusen seines »elephan­tösen Gedächt­nisses« und gab der Autorin und Film­his­to­ri­kerin Claudia Lenssen in viel­stün­digen Gesprächen in Berliner Cafés bereit­willig Auskunft.

»Alles entstand spontan auf Handy­zuruf, immer zwischen­durch«, berich­tete Lenssen kürzlich bei der Buch­vor­stel­lung – und zeigte sich noch einmal erstaunt, wie präzise Schroeter Inhalt und Kapi­tel­ab­folge, ja deren Titel und Haupt­ge­danken im Kopf hatte, wie er intuitiv Pointen einbaute und flüssig erzählte. Lenssen wurde bei dieser Arbeit zum Medium des großen Schau­spiel­re­gis­seurs und Menschen­fän­gers Schroeter. »Seine Erin­ne­rungen, seine Erfah­rungen, seine Emotionen sind auch durch meinen Kopf und meine Hände gegangen.« Das Ziel einer Auto­bio­gra­phie stand klar vor Augen, aber vermut­lich ahnte Schroeter schon, dass er sie selbst nicht mehr zu Ende führen würde.

Doch wenn man jetzt in diesem Buch liest, dauert es nur Sekunden, bis Gestalt und Stimme des Regis­seurs wieder präsent sind und man ihn selbst lebendig vor sich sieht. Alle treten sie da auf, die Göttinnen und Halb­götter seines privaten Kosmos: Christine Kaufmann, Isabelle Huppert, Michel Foucault, Magdalena Montezuma, Ingrid Caven – und vor allem Maria Callas. »Sie thronte auf zahllosen Balen­ciaga-Kissen«, schildert er die erste Begegnung mit ihr: »Sie sah so schön aus – da dachte ich mir: Ich setze alles auf eine Karte, ich benehme mich so, wie ich bin.«

So geht es auf fast vier­hun­dert Seiten – eine extrem kurz­wei­lige, immer geist­reiche Lektüre, bei der einem immer wieder über­ra­schende Einsichten und Beob­ach­tungen begegnen. Denn Schroeter, der als Regisseur ein Meister darin war, Geschichten konse­quent poetisch und jenseits üblicher Narration zu gestalten, ist ein sehr guter Erzähler, immer eitel genug, um den Helden des Buches ins Zentrum zu stellen, aber nie so eitel, um durch Nabel­schau zu lang­weilen.

Die Callas und Schro­eters Mutter stehen am Anfang. Dann geht es im Ganzen chro­no­lo­gisch weiter: Über die Kindheit des 1945 in Thüringen Geborenen im Nach­kriegs­deutsch­land, die liberalen Eltern, die der DDR schnell in den Westen entkamen, die Jugend in Bielefeld und Heidel­berg, wo die Brüder Schroeter »ziemlich frei, um nicht zu sagen verwil­dert« aufwuchsen, über ersten Sex und frühe Kunst­er­leb­nisse bis zum Aufbruch nach Italien, wo er »die Liebe lernen und dann sterben« wollte, aber mit Pier Paolo Pasolini noch einiges mehr kennen­lernte. Den Hauptteil bildet die künst­le­ri­sche Vita, die Schroeter durch die ganze Welt führte: In den Verei­nigten Staaten, in Argen­ti­nien, Mexiko und auf den Phil­ip­pinen drehte der Kosmo­polit Filme, in Frank­reich, Portugal und Italien sowieso.

Schroeter war nie bereit, jene Verän­de­rungen zu akzep­tieren, die mit der Kommer­zia­li­sie­rung des Fern­se­hens einher­gingen, das seine Filme zunächst finan­zierte, mit jener Quoten-Bruta­lität, die heute selbst soge­nannte Kultur­sender wie arte beherrscht. Er verwei­gerte sich der Tech­no­kratie und Forma­tie­rung, beschrieb immer wieder verächt­lich die »Büro­kra­ti­sie­rung der Film­pro­duk­tion« und fand Wege, um irgendwie auf seine Weise weiter­zu­ar­beiten – wenn auch zunehmend auf den finan­ziell besser ausge­stat­teten öffent­li­chen Bühnen.

Es sind vor allem Rand­be­mer­kungen, in denen der Regisseur auch prin­zi­pi­elle Fragen der Kultur­po­litik und der Stellung der Kunst im öffent­li­chen Raum als ein Geben und Nehmen berührt. Er, der natürlich auch die eigene Genia­lität kulti­vierte, glaubte ein Anrecht darauf zu haben, von der Gesell­schaft oder deren Insti­tu­tionen finan­ziert zu werden. Künstler seien als Expe­ri­men­ta­toren, Heraus­for­derer und Scho­ckierer für die Bewusst­seins­er­wei­te­rung der Mensch­heit zuständig – und gäben ihr in ihren Werken etwas zurück, was sie nirgendwo sonst erhalten könne. Gerade diese Vorstel­lung von einer wider­s­tän­digen Kunst sucht die heutige Film­för­de­rung zunehmend zu vergessen.

Jenseits solcher Gedanken, jenseits aller kleinen und großen Geschichten und der aufschluss­rei­chen Einblicke in die Schro­eter­sche Werkstatt gibt es vor allem zwei durch­gän­gige Motive in diesem Buch. Das eine ist die großzügige Liebe zum Leben, der »elan vital« (Bergson), den der äußerst lebens­be­ja­hende Schroeter, der auch innerlich ständig unterwegs war, immer aufs Neue beschwor. Er war ein Hedonist, und das vom neidi­schen Rosa von Praunheim als Belei­di­gung gemeinte Bonmot vom »Cham­pa­gner-Schroeter« dürfte er als Kompli­ment empfunden haben – was denn sonst, wenn nicht Cham­pa­gner? Das andere ist der gelassene Dienst am Schönen an sich, als einer Türpforte zum »Aufent­halt im Uner­hörten«, wie es Schro­eters zweiter Lieb­lings­phi­lo­soph, Ernst Bloch, einmal beschrieben hat. Auch solche über­ir­di­schen Momente finden sich in dieser wunder­baren Auto­bio­gra­phie, die auch eine Anleitung zum Exzen­trisch­sein ist und sich liest, als ob man einen letzten langen Abend mit Werner Schroeter verbringen würde.

Werner Schroeter: »Tage im Dämmer, Nächte im Rausch«. Auto­bio­gra­phie. Aufbau Verlag, Berlin 2011. 408 Seiten, 22,95 Euro