23.09.2009

Die Linie am Horizont

Claire Denis
Claire Denis

Claire Denis' Debütfilm Chocolat

Von Stefanie Schulte-Krude

Kerz­en­grade sitzt die acht­jähige France (Cecile Ducasse) an einem gedeckten Tisch. Sie trägt dem Bediens­teten Protée (Issach Bankolé) auf, ihr noch etwas von der Suppe aufzu­geben. Zuerst nimmt sie einen Löffel, den nächsten hält sie Protée hin. Er beugt sich zu ihr hinunter, lehnt dabei seine Arme auf dem Tisch auf. Gewis­sen­haft verkös­tigt France ihn. Jedesmal hält sie die Hand unter den Löffel, um die herab­fal­lenden Tropfen aufzu­fangen. Als der Teller leer ist, streckt sie Protée ihre kleine Hand hin. Er leckt sie ab. France muss lachen. Protée blickt sie ernst an, forschend schaut sie in sein Gesicht.

Es sind alltäg­liche Dinge, von denen Regis­seurin Claire Denis in Chocolat (1988) erzählt. Von der uner­träg­li­chen Hitze im Fran­zö­sisch-West­afrika, vom Warten auf den Vater und von Protées Fürsorge in dessen Abwe­sen­heit. Doch in diesen Szenen geht es um weit mehr; darum, dass Kulturen unüber­setzbar und die Grenzen zwischen Schwarz und Weiß unüber­brückbar sind. Diese Erfahrung macht die acht­jäh­rige France, Tochter eines Kolo­ni­al­be­amten. Wirklich begreifen tut sie das alles nicht, aber sie ist neugierig und ernsthaft gewillt das Geheimnis, das Protée und die anderen schwarzen Boys umweht, zu ergründen. So betrachtet sie stumm die offene Hals­schlag­ader eines Pferdes, lässt sich von Protée Blut auf ihre Pulsader schmieren. Oder sie liegt mit ihm vor der sengenden Sonne schutz­schu­chend unterm Auto, schneidet Ameisen mit einem Holzstab den Weg ab. Manches Mal drückt sie aber auch auf der Veranda die Schulbank und starrt ange­strengt zu einem gewal­tigen, kargen Hügel rüber; oder aber sie zieht mit ihrem Esel durch die Gegend. Das Glänzen schwarzer Haut, der wohl geformte Ober­körper von Protée und sein geschmei­diger Gang bleiben ihren Blicken nicht verborgen. Im Haus schlägt sich ihre Mutter (Giulia Boschi) unter­dessen mit anderen Problemen herum, wie unan­ge­mel­deten, unlieb­samen Besuch oder ihre aufkei­menden Gefühle für Protée. Als der Vater (Francois Cluzet) von seiner Reise zurück­kehrt, erklärt er France, seiner »kleinen Ameise«, liebevoll, was ein Horizont ist. Eine Linie, die, egal wie man sich ihr zu nähern versucht, sich stets entfernt.

Zwanzig Jahre später kehrt France (Mireille Perrier) an den Ort ihrer Kindheit zurück. Sie erinnert sich an diese und andere Bege­ben­heiten, an ihre Faszi­na­tion für Afrika. Aber auch daran, wie Protée ihr sagte: »Meins ist meins, deins ist deins.« Trotzdem bleibt France dieses Land fremd, auch als erwach­sene Frau. Für diese Fremdheit findet Claire Denis Bilder voller Ernst­haf­tig­keit und/ oder irri­tie­render Körper­lich­keit; in manchen Momenten blitzt gar Humor auf. Allesamt geheim­nis­volle Bilder, die der Wirk­lich­keit abge­schaut sind und der Fantasie entsprungen.

In einer Szene etwa besucht die kleine France Protée in der Garage. Er repariert gerade den Generator. Sie fragt, ob das Rohr da heiß sei. Statt zu antworten, umfasst Protée es mit der Hand. Als France es ihm gleichtut, zieht sie ihre Hand mit einem Aufschrei weg. Langsam nimmt Protée seine brennende Hand weg. Das Gesicht verzieht sich, Tränen rinnen über die Wangen. Dann geht er davon. »Ich glaube, es gibt kein Leben ohne inneren Schmerz«, sagt Claire Denis in einem Interview. Gemeint ist damit wohl, dass Menschen verschie­dene Sehn­süchte umtreiben. Diese versucht Denis in ihren Filmen über Blicke und Geste einzu­fangen – und damit zeigt sie auch das Scheitern dieser Sehn­süchte. Sein Geheimnis, wie es ist, ein Schwarzer zu sein, gibt Protée dem weißen Mädchen letztlich nicht preis, wohl aber seinen Schmerz.

Claire Denis, 1948 als Tochter eines Offiziers in Paris geboren, verbringt ihre Kindheit in den frazö­si­schen Kolonin in Afrika: Kamerun, Burkina Faso und Djibuti. Als sie 14 Jahre alt ist, kehrt ihre Familie nach Paris zurück. Oft kreisen ihre Filme um Identität, Entfrem­dung und Migration. Das Münchner Film­mu­seum widmet der enga­gierten, fran­zö­si­schen Auto­ren­fil­merin jetzt eine Retro­spek­tive, in der ihr Spiel­film­debüt Chocolat (Freitag, 25. September 2009, 21 Uhr) zu sehen ist.