Cinematic Journeys |
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Jugend & Verzweiflung: Better Things von Duane Hopkins |
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(Foto: IFF Rotterdam | Duane Hopkins) |
Von Dunja Bialas
Was sind Besuche von Festivals anderes als echte Kinoreisen? Die Stadt, in der das jeweilige Festival stattfindet, wird bei wiederholtem Besuch vertrauter, spielt mehr die stumme Rolle eines unsichtbar bleibenden Protagonisten. Sie verleiht dem Eintauchen in den Kinosaal ein gewisses Lokalkolorit, breitet sich als innere Landkarte aus, als Muster erinnerter Wege und bekannter Orte, an die man sich am Ende eines Festivaltages begibt, um die gesehenen Filme im Moment der redseligen Betrachtungen festzuhalten, einzuordnen, Revue passieren zu lassen. In einer plüschigen Hotelbar trifft sich dann des Nachts die auf Festivalgröße zusammengeschrumpfte Welt der internationalen Afficionados, kreist in ihren Geprächen um das Zentrum der Stadtreise, die Filme. Und die Stadt, in der sich diese Familientreffen abspielen, reduziert sich zu einer Kulisse, die wie aufgestellt scheint für das ritualhafte Zusammenkommen der Kinoreisenden.
Beunruhigend in dieser Vertrautheit des Ortes war dieses Jahr (wie auch schon letztes, da aber weniger bedrohlich-konkret) das kurisierende Gerücht um den Abriss des großen Pathé-Kinopalastes. Es gäbe keine Möglichkeit, ihn in der festivalfreien Zeit des Jahres sinnvoll zu bespielen, so hieß es, was einen Quasi-Leerstand bedeutete und dies in Bestlage der Stadt. Rotterdam hat nur wenige Kinos aufzuweisen, ein paar mischen mit bei der Festivalbespielung, aber keines kann die Besuchermassen annähernd fassen, wie es der Pathé-Palast vermag. Beunruhigung tut sich auf, wenn da über die mangelnde Alternativen an Spielstätten nachgedacht wird, Beunruhigung wie in dem Gespräch mit Jean-Pierre Rehm, Leiter des FID Marseille, dem dieses Jahr alle Kinos wegzubrechen drohen und der nur noch an ein improvisiertes Festival denken kann.
Das IFF Rotterdam ist anders als das zweite Filmfestival der Niederlande, das auf den Dokumentarfilm spezialisierte Amsterdamer Festival IDFA, ein Festival, das auf alle Sparten und Genres setzt und gerade den innovativen, formerneuernden Film jenseits der Kategorien hochhält. Dass es damit ein riesiges Publikum anzieht, erscheint aus der fernsehproduktionsmüden Perspektive der hiesigen Filmlandschaft mehr als erstaunlich. Ernstaunlich ist auch, dass sich ein so machtvolles Festival immer noch Orte erhält, die Festivals derselben Größenordnung längst aussortiert haben: Mit dem Lantaren/Venster, einem Off-Theater ähnlichem Abspielort mit mehreren kleinen Sälen und dem winzigen Zaal de Unie, der renoviert wurde und als Kino nun ganz akzeptabel ist, hat Rotterdam kleine, sympathische, fast schon familiäre Spielorte. Sie können nicht die großen Massen fassen, sind aber perfekt für das vielseitige Programm von über 200 langen und kurzen Filmen, die, wenn nicht das Kino, dann doch dessen Sprache neu erfinden wollen und den Zuschauer auf eine Reise schicken, die in die Unwegsamkeit unbekannter Terrains führt.
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»Cinematic Journeys«, so hieß der treffende Titel, der der Retrospektive des Schweizer Dokumentarfilmers Peter Liechti gegeben wurde. In der vollständigen Werkschau konnte man seine frühen Kurzfilme aus den 1980er Jahre neu entdecken und mit Namibia Crossings, Hans im Glück – Drei Versuche, das Rauchen Loszuwerden und Hardcore Chambermusic seine stärksten Arbeiten der vergangen Jahre wiedersehen. Liechtis Filme sind Reisen, die seinen Figuren bei den unterschiedlichsten Erfahrungen folgen. Sei es im Selbstversuch, durch die Schweiz wandernd das Rauchen aufzugeben, sei es die Erfahrung eines »Musikmarathons«, in dem das Schweizer Musiker-Ensemble Koch-Schütze-Studer dreißig Tage lang dasselbe Set spielte und es täglich neu erfand.
Unter dem Aspekt der »Kinoreise« schließt sich dann auch The Sound of Insects: Record of a Mummy, der neueste Film Liechtis, an sein bisheriges Werk an. Sound of Insects ist die Reise eines Lebensmüden in den Tod hinein, und zwar durch die denkbar grausamste Art: durch das selbst herbeigeführte Verhungern. Der Film basiert auf dem authentischen Protokoll eines ungefähr vierzigjährigen Japaners, der sich in den Wald zurückzog und sich dort – ausgestattet mit einem Kofferradio, wenig Essbarem, ein wenig Wasser und einer Plastikplane gegen die Witterung – langsam und qualvoll zu Tode hungerte. Er führte Tagebuch über seinen Hungertod; und als man eines Tages seine Leiche in dem versteckten Winkel des Waldes fand – ein Bild übrigens, mit dem der Film noch ganz reportagehaft beginnt – hielt man das genaue Protokoll seiner Reise in den Tod in den Händen. Der japanische Schriftsteller Shimada Mashiko hat die Aufzeichnungen literarisch bearbeitet, ihnen in der Novelle »Miira ni narumade« eine kraftvolle, mitreißende Sprache gegeben. Liechti setzt in seinem Film ganz auf diese suggestive Kraft des gesprochenen Wortes. Er lässt die Sätze von der durchdringenden Stimme des Avantgarde-Filmers Peter Mettler aus dem Off sprechen. Dazu sind vage, durch extreme Close-Ups eng perspektivierte Naturimpressionen aus einem Wald zu sehen, die sich an den subjektiven Blick des Sterbenden herantasten und von seiner zunehmenden Orientierungslosigkeit zeugen. Regentropfen auf der Plastikplane, ein Spinnennetz, einmal auch – da sind wir schon fast am Ende des Films und dem Tod ganz nah – eine Halluzination: ein Pferd, wie aus einem Stummfilm kommend, das in einer Waldlichtung steht. Die Bilder, die Liechti dem Text assoziiert, illustrieren niemals. Sie machen vielmehr das Sterben des Mannes im Wald unter dem verlöschenden Bewusstsein und dem langsam versiegendem Stream of Consciousness »lebendig« und erlebbar. Sound of Insects ist nicht weniger als die Erfahrung des Sterbens und eine Reise an den Bereich der Wirklichkeit, an dem diese sich aufzulösen beginnt.
Etwas erfahrbar machen, was ein eigentlich nicht erlebbarer Bestandteil menschlicher Existenz ist: Liechtis Film ist eine Gratwanderung am Rande des Möglichen, und die volle Größe erhält der Film durch sein Verlassen der Wirklichkeit, nicht nur thematisch, sondern durch ein geschicktes Ausbalancieren der dokumentarischen Realität und ihrer lyrisch-literarischen Bearbeitung.
Diese Gratwanderungen zwischen dem Authentischen und dem Gestalteten zog sich durch viele der beim IFFR programmierten Filme. Xiao Li zi, deutsch Survival Song, ein auf den ersten Blick fast schon konventionell beobachtender chinesischer Dokumentarfilm von Yu Guangyi, entfaltete mit seiner
Geschichte über den arbeitslosen Waldarbeiter Hen und dem leicht verrückten, aber faszinierenden Hilfsarbeiter Xiao Li eine narrative Kraft, die das Dokumentarische gegenüber der Geschichte, die da erzählt wurde, zum Verblassen brachte. Aus den dokumentierten Personen wurden echte Protagonisten, Charaktere einer Erzählung über das Vertreiben einer armen Familie aus dem nordchinesischen Hinterland, so skandalös wie unglaublich.
Ähnlich stark wirkten die
Protagonisten aus L’apprenti (The Apprentice) des Franzosen Samuel Collardey. Zugleich an 17 ans von Didier Nion und Entre les murs von Laurent Cantet (dem letztjährigen Cannes-Gewinner)
erinnernd, findet Collardey in seinem Dokumentarfilm über den 15-jährigen Matthieu, Landwirtschaftslehrling auf dem Bauernhof von Paul, zu einer starken filmischen Sprache, die das authentische Leben von Matthieu und Paul mit der narrativen Kraft eines Spielfilms ausstattet. Ein Glücksfall für das Kino und ein Verwirrspiel mit der Rezeption: Wie konstituiert sich Wirklichkeit? Ab wann beginnt der Grund des Authentischen zu wanken, macht sich der Verdacht von Inszenierung
breit? Und: Ist dieser Verdacht überhaupt etwas, was das Unterfangen eines Dokumentarfilms an den Rand des »Illegalen« bringt und wo sich der Pakt mit der Wirklichkeit aufzulösen beginnt? Oder wirken diese leisen Formen der Inszenierung nicht eher wie ein Vergrößerungsglas auf die Wirklichkeit, ein Fokussieren auf Aspekte des Realen, die nur in der Gestaltung so deutlich hervortreten können? Immerhin, die Anordnung des Dokumentarischen gibt L’apprenti nicht preis: Matthieu wird »gespielt« von Matthieu Bulle, Bauer Paul vom Bauer Paul Barbier. Der Film wurde im Département Doubs gedreht, aus dem auch Regisseur Collardey selbst stammt, und als Bauerssohn schließlich auch weiß, welchem Universum er sich zugewendet hat. L’apprenti ist ein
Beispiel für ein Filmhybrid zwischen Dokumentation und Fiktion, das allmählich dem konventionellen Spielfilm den Rang abzulaufen beginnt. Denn nichts ist so spannend wie die Geschichten, die das Leben selbst zu erzählen weiß.
Ein Gegenstück zu L’apprenti war die Filmfiktion Better Things des britischen Portrait-Fotografen Duane Hopkins. Er entwirft drei Paare auf dem englischen Land, mit ihrer Verzweiflung, Langeweile und Sprachlosigkeit. Sie geben sich dem Konsum harter Drogen hin (immer wieder zelebriert die Kamera das Einstechen der Heroinspritze in die Haut und die niedersinkenden Augenlider der zugedröhnten Twens im extremen Close-Up), versuchen sich in Liebesbeziehungen, aber am Ende steht nur die verwunderte Frage im Raum: »Why did she think falling in love would make it any easier?« Und übrig bleibt, nach dem Tod des einen Protagonisten nur: das Nichts.
Duane Hopkins gehört mit Andrea Arnold (Red Road) und der Künstlerin Tracey Emin zu einer neuen Richtung des britischen Realismus, die mit den kitschigen Lehrstücken der Sozialrealisten-Altmeister Ken Loach und Stephen Frears nichts zu tun hat. Das neue Brit-Kino zeigt eine unbehauene, rohe Wirklichkeit, die ohne Anklage an die Gesellschaft auskommt. Die Bilder injizieren dem Zuschauer den gezeigten Realismus direkt unter die Haut, und er wirkt dort schonungslos und unverbraucht.
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Ausweglosigkeit, Todessehnsucht, Grenzerfahrungen und –übertretungen schimmerten als thematische Hauptschlagader des diesjährigen Festivals durch das Programm. Und in der letzten Nacht von Rotterdam gab es in jener plüschigen Hotelbar noch eine Begegnung, die sich unfreiwillig in die unterschwellige Thematik des Festivals einreihte und ein ähnliches faszinierendes Unbehagen hervorrief wie das Sterben des Menschen im Wald von Sound of Insects. Ein Begegnung mit jemandem, dessen Fehler es war, wie er mir mitteilte, geboren worden zu sein. Und der jetzt versucht, diesen Irrtum der Natur, anders als der Mann im Wald, nicht durch Freitod zu korrigieren, sondern indem er keine Spuren hinterlässt. Rotterdam war eine Kinoreise in die Abgründe der menschlichen Seele, faszinierend in all ihrer Verzweiflung. Und war die Reise des Kinos,
aufbrechend zu einem neuen, unbekannten Horizont.
Dunja Bialas