05.02.2009

Cinematic Journeys

Better Things von Duane Hopkins
Jugend & Verzweiflung:
Better Things von Duane Hopkins
(Foto: IFF Rotterdam | Duane Hopkins)

Filme im Aufbruch: Das 38. Internationale Filmfestival Rotterdam begibt sich traumwandlerisch an die Grenzen der Wirklichkeit

Von Dunja Bialas

Was sind Besuche von Festivals anderes als echte Kino­reisen? Die Stadt, in der das jeweilige Festival statt­findet, wird bei wieder­holtem Besuch vertrauter, spielt mehr die stumme Rolle eines unsichtbar blei­benden Prot­ago­nisten. Sie verleiht dem Eintau­chen in den Kinosaal ein gewisses Lokal­ko­lorit, breitet sich als innere Landkarte aus, als Muster erin­nerter Wege und bekannter Orte, an die man sich am Ende eines Festi­val­tages begibt, um die gesehenen Filme im Moment der redse­ligen Betrach­tungen fest­zu­halten, einzu­ordnen, Revue passieren zu lassen. In einer plüschigen Hotelbar trifft sich dann des Nachts die auf Festi­val­größe zusam­men­ge­schrumpfte Welt der inter­na­tio­nalen Affi­ci­o­nados, kreist in ihren Geprächen um das Zentrum der Stadt­reise, die Filme. Und die Stadt, in der sich diese Fami­li­en­treffen abspielen, reduziert sich zu einer Kulisse, die wie aufge­stellt scheint für das ritu­al­hafte Zusam­men­kommen der Kino­rei­senden.

Beun­ru­hi­gend in dieser Vertraut­heit des Ortes war dieses Jahr (wie auch schon letztes, da aber weniger bedroh­lich-konkret) das kuri­sie­rende Gerücht um den Abriss des großen Pathé-Kino­pa­lastes. Es gäbe keine Möglich­keit, ihn in der festi­val­freien Zeit des Jahres sinnvoll zu bespielen, so hieß es, was einen Quasi-Leerstand bedeutete und dies in Bestlage der Stadt. Rotterdam hat nur wenige Kinos aufzu­weisen, ein paar mischen mit bei der Festi­val­be­spie­lung, aber keines kann die Besu­cher­massen annähernd fassen, wie es der Pathé-Palast vermag. Beun­ru­hi­gung tut sich auf, wenn da über die mangelnde Alter­na­tiven an Spielstätten nach­ge­dacht wird, Beun­ru­hi­gung wie in dem Gespräch mit Jean-Pierre Rehm, Leiter des FID Marseille, dem dieses Jahr alle Kinos wegzu­bre­chen drohen und der nur noch an ein impro­vi­siertes Festival denken kann.

Das IFF Rotterdam ist anders als das zweite Film­fes­tival der Nieder­lande, das auf den Doku­men­tar­film spezia­li­sierte Amster­damer Festival IDFA, ein Festival, das auf alle Sparten und Genres setzt und gerade den inno­va­tiven, formerneu­ernden Film jenseits der Kate­go­rien hochhält. Dass es damit ein riesiges Publikum anzieht, erscheint aus der fern­seh­pro­duk­ti­ons­müden Perspek­tive der hiesigen Film­land­schaft mehr als erstaun­lich. Ernstaun­lich ist auch, dass sich ein so macht­volles Festival immer noch Orte erhält, die Festivals derselben Größen­ord­nung längst aussor­tiert haben: Mit dem Lantaren/Venster, einem Off-Theater ähnlichem Abspielort mit mehreren kleinen Sälen und dem winzigen Zaal de Unie, der renoviert wurde und als Kino nun ganz akzep­tabel ist, hat Rotterdam kleine, sympa­thi­sche, fast schon familiäre Spielorte. Sie können nicht die großen Massen fassen, sind aber perfekt für das viel­sei­tige Programm von über 200 langen und kurzen Filmen, die, wenn nicht das Kino, dann doch dessen Sprache neu erfinden wollen und den Zuschauer auf eine Reise schicken, die in die Unweg­sam­keit unbe­kannter Terrains führt.

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»Cinematic Journeys«, so hieß der treffende Titel, der der Retro­spek­tive des Schweizer Doku­men­tar­fil­mers Peter Liechti gegeben wurde. In der volls­tän­digen Werkschau konnte man seine frühen Kurzfilme aus den 1980er Jahre neu entdecken und mit Namibia Crossings, Hans im Glück – Drei Versuche, das Rauchen Loszu­werden und Hardcore Cham­ber­music seine stärksten Arbeiten der vergangen Jahre wieder­sehen. Liechtis Filme sind Reisen, die seinen Figuren bei den unter­schied­lichsten Erfah­rungen folgen. Sei es im Selbst­ver­such, durch die Schweiz wandernd das Rauchen aufzu­geben, sei es die Erfahrung eines »Musik­ma­ra­thons«, in dem das Schweizer Musiker-Ensemble Koch-Schütze-Studer dreißig Tage lang dasselbe Set spielte und es täglich neu erfand.

Unter dem Aspekt der »Kinoreise« schließt sich dann auch The Sound of Insects: Record of a Mummy, der neueste Film Liechtis, an sein bishe­riges Werk an. Sound of Insects ist die Reise eines Lebens­müden in den Tod hinein, und zwar durch die denkbar grau­samste Art: durch das selbst herbei­ge­führte Verhun­gern. Der Film basiert auf dem authen­ti­schen Protokoll eines ungefähr vier­zig­jäh­rigen Japaners, der sich in den Wald zurückzog und sich dort – ausge­stattet mit einem Koffer­radio, wenig Essbarem, ein wenig Wasser und einer Plas­tik­plane gegen die Witterung – langsam und qualvoll zu Tode hungerte. Er führte Tagebuch über seinen Hungertod; und als man eines Tages seine Leiche in dem versteckten Winkel des Waldes fand – ein Bild übrigens, mit dem der Film noch ganz repor­ta­ge­haft beginnt – hielt man das genaue Protokoll seiner Reise in den Tod in den Händen. Der japa­ni­sche Schrift­steller Shimada Mashiko hat die Aufzeich­nungen lite­ra­risch bear­beitet, ihnen in der Novelle »Miira ni narumade« eine kraft­volle, mitreißende Sprache gegeben. Liechti setzt in seinem Film ganz auf diese sugges­tive Kraft des gespro­chenen Wortes. Er lässt die Sätze von der durch­drin­genden Stimme des Avant­garde-Filmers Peter Mettler aus dem Off sprechen. Dazu sind vage, durch extreme Close-Ups eng perspek­ti­vierte Natur­im­pres­sionen aus einem Wald zu sehen, die sich an den subjek­tiven Blick des Ster­benden heran­tasten und von seiner zuneh­menden Orien­tie­rungs­lo­sig­keit zeugen. Regen­tropfen auf der Plas­tik­plane, ein Spin­nen­netz, einmal auch – da sind wir schon fast am Ende des Films und dem Tod ganz nah – eine Hallu­zi­na­tion: ein Pferd, wie aus einem Stummfilm kommend, das in einer Wald­lich­tung steht. Die Bilder, die Liechti dem Text asso­zi­iert, illus­trieren niemals. Sie machen vielmehr das Sterben des Mannes im Wald unter dem verlö­schenden Bewusst­sein und dem langsam versie­gendem Stream of Conscious­ness »lebendig« und erlebbar. Sound of Insects ist nicht weniger als die Erfahrung des Sterbens und eine Reise an den Bereich der Wirk­lich­keit, an dem diese sich aufzu­lösen beginnt.

Etwas erfahrbar machen, was ein eigent­lich nicht erleb­barer Bestand­teil mensch­li­cher Existenz ist: Liechtis Film ist eine Grat­wan­de­rung am Rande des Möglichen, und die volle Größe erhält der Film durch sein Verlassen der Wirk­lich­keit, nicht nur thema­tisch, sondern durch ein geschicktes Ausba­lan­cieren der doku­men­ta­ri­schen Realität und ihrer lyrisch-lite­ra­ri­schen Bear­bei­tung.

Diese Grat­wan­de­rungen zwischen dem Authen­ti­schen und dem Gestal­teten zog sich durch viele der beim IFFR program­mierten Filme. Xiao Li zi, deutsch Survival Song, ein auf den ersten Blick fast schon konven­tio­nell beob­ach­tender chine­si­scher Doku­men­tar­film von Yu Guangyi, entfal­tete mit seiner Geschichte über den arbeits­losen Wald­ar­beiter Hen und dem leicht verrückten, aber faszi­nie­renden Hilfs­ar­beiter Xiao Li eine narrative Kraft, die das Doku­men­ta­ri­sche gegenüber der Geschichte, die da erzählt wurde, zum Verblassen brachte. Aus den doku­men­tierten Personen wurden echte Prot­ago­nisten, Charak­tere einer Erzählung über das Vertreiben einer armen Familie aus dem nord­chi­ne­si­schen Hinter­land, so skandalös wie unglaub­lich.

Ähnlich stark wirkten die Prot­ago­nisten aus L’apprenti (The Appren­tice) des Franzosen Samuel Collardey. Zugleich an 17 ans von Didier Nion und Entre les murs von Laurent Cantet (dem letzt­jäh­rigen Cannes-Gewinner) erinnernd, findet Collardey in seinem Doku­men­tar­film über den 15-jährigen Matthieu, Land­wirt­schafts­lehr­ling auf dem Bauernhof von Paul, zu einer starken filmi­schen Sprache, die das authen­ti­sche Leben von Matthieu und Paul mit der narra­tiven Kraft eines Spiel­films ausstattet. Ein Glücks­fall für das Kino und ein Verwirr­spiel mit der Rezeption: Wie konsti­tu­iert sich Wirk­lich­keit? Ab wann beginnt der Grund des Authen­ti­schen zu wanken, macht sich der Verdacht von Insze­nie­rung breit? Und: Ist dieser Verdacht überhaupt etwas, was das Unter­fangen eines Doku­men­tar­films an den Rand des »Illegalen« bringt und wo sich der Pakt mit der Wirk­lich­keit aufzu­lösen beginnt? Oder wirken diese leisen Formen der Insze­nie­rung nicht eher wie ein Vergröße­rungs­glas auf die Wirk­lich­keit, ein Fokus­sieren auf Aspekte des Realen, die nur in der Gestal­tung so deutlich hervor­treten können? Immerhin, die Anordnung des Doku­men­ta­ri­schen gibt L’apprenti nicht preis: Matthieu wird »gespielt« von Matthieu Bulle, Bauer Paul vom Bauer Paul Barbier. Der Film wurde im Dépar­te­ment Doubs gedreht, aus dem auch Regisseur Collardey selbst stammt, und als Bauers­sohn schließ­lich auch weiß, welchem Universum er sich zuge­wendet hat. L’apprenti ist ein Beispiel für ein Film­hy­brid zwischen Doku­men­ta­tion und Fiktion, das allmäh­lich dem konven­tio­nellen Spielfilm den Rang abzu­laufen beginnt. Denn nichts ist so spannend wie die Geschichten, die das Leben selbst zu erzählen weiß.

Ein Gegen­s­tück zu L’apprenti war die Film­fik­tion Better Things des briti­schen Portrait-Foto­grafen Duane Hopkins. Er entwirft drei Paare auf dem engli­schen Land, mit ihrer Verzweif­lung, Lange­weile und Sprach­lo­sig­keit. Sie geben sich dem Konsum harter Drogen hin (immer wieder zele­briert die Kamera das Einste­chen der Hero­in­spritze in die Haut und die nieder­sin­kenden Augen­lider der zuge­dröhnten Twens im extremen Close-Up), versuchen sich in Liebes­be­zie­hungen, aber am Ende steht nur die verwun­derte Frage im Raum: »Why did she think falling in love would make it any easier?« Und übrig bleibt, nach dem Tod des einen Prot­ago­nisten nur: das Nichts.

Duane Hopkins gehört mit Andrea Arnold (Red Road) und der Künst­lerin Tracey Emin zu einer neuen Richtung des briti­schen Realismus, die mit den kitschigen Lehr­s­tü­cken der Sozi­al­rea­listen-Altmeister Ken Loach und Stephen Frears nichts zu tun hat. Das neue Brit-Kino zeigt eine unbe­hauene, rohe Wirk­lich­keit, die ohne Anklage an die Gesell­schaft auskommt. Die Bilder inji­zieren dem Zuschauer den gezeigten Realismus direkt unter die Haut, und er wirkt dort scho­nungslos und unver­braucht.

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Ausweg­lo­sig­keit, Todes­sehn­sucht, Gren­z­er­fah­rungen und –über­tre­tungen schim­merten als thema­ti­sche Haupt­schlag­ader des dies­jäh­rigen Festivals durch das Programm. Und in der letzten Nacht von Rotterdam gab es in jener plüschigen Hotelbar noch eine Begegnung, die sich unfrei­willig in die unter­schwel­lige Thematik des Festivals einreihte und ein ähnliches faszi­nie­rendes Unbehagen hervor­rief wie das Sterben des Menschen im Wald von Sound of Insects. Ein Begegnung mit jemandem, dessen Fehler es war, wie er mir mitteilte, geboren worden zu sein. Und der jetzt versucht, diesen Irrtum der Natur, anders als der Mann im Wald, nicht durch Freitod zu korri­gieren, sondern indem er keine Spuren hinter­lässt. Rotterdam war eine Kinoreise in die Abgründe der mensch­li­chen Seele, faszi­nie­rend in all ihrer Verzweif­lung. Und war die Reise des Kinos, aufbre­chend zu einem neuen, unbe­kannten Horizont.

Dunja Bialas