10.11.2011

Lieben Sie die Abwechs­lung, Madame Huppert?

I'm Not a F**king Princess
I’m Not a F**king Princess: Die unnahbare Huppert als ehrgeizige Mutter ihrer selbst
(Foto: X Verleih/Warner Bros.)

Ein Gespräch mit Isabelle Huppert über Unschuld und Neugier, über das Filmemachen im Dschungel und ihre Erfahrungen mit Hollywood-Titan Otto Preminger

Die 1953 geborene Isabelle Huppert ist die beste und wich­tigste Schau­spie­lerin ihrer Gene­ra­tion. Bereits mit 18 Jahren drehte sie erste wichtige Filme, unter anderem mit Hollywood-Altmeister Otto Preminger. Ihren Durch­bruch erlebte sie 1977 mit Claude Gorettas Die Spit­zen­klöp­p­lerin. Seitdem hat sie in über 60 Filmen gespielt, meist Haupt­rollen und mit fast allen fran­zö­si­schen Meistern gear­beitet: Godard, Chabrol, Chereau, Claire Denis, François Ozon. Zurzeit ist sie in dem Film I’m Not a F**king Princess von Eva Ionesco zu sehen. Wir trafen Isabelle Huppert im August beim Film­fes­tival von Locarno, wo sie einen Preis für ihr Lebens­werk erhielt, in ihrer Suite im male­ri­schen Hotel Belvedere mit Blick auf den See. Während Filmstars fast immer betont Distanz wahrend, setzt sich Huppert sehr nahe vor den Frage­steller, so nahe, dass man sie riechen kann.

Das Gespräch führte Rüdiger Suchsland.

artechock: Es ist noch gut in Erin­ne­rung, wie Sie vor einigen Jahren beim Europäi­schen Filmpreis eine sehr warm­her­zige, auch witzige Laudatio auf Claude Chabrol gehalten haben. Man hat den Respekt und auch die Liebe gespürt, die Sie für Chabrol empfunden haben. Gibt es noch einen Regisseur, für den Sie gern eine solche Laudatio halten würden?

Isabelle Huppert: Oh ja, es gibt sogar mehrere. Ich würde sofort eine halten für Michael Haneke. Dann auch für den Schweizer Claude Goretta. Für Benoît Jacquot. Für Godard. Und die anderen müssen einfach noch mehr Filme mit mir machen...

artechock: Welches war Ihre wich­tigste Erfahrung als Schau­spie­lerin? Gibt es eine, die Sie heraus­heben möchten?

Huppert: Dann wohl Die Spit­zen­klöp­p­lerin – weil es der erste Film war, wo ich eine echte Haupt­rolle gespielt habe. Ich musste mir alles erst erar­beiten, die Mittel kennen­lernen. Die Begegnung mit der Kamera ist eine sehr spezielle Sache. Man muss lernen, ange­blickt zu werden. Im Kino dreht sich alles um den Blick. Als ich anfing, wusste ich nicht viel, ich war keine große Kino­gän­gerin.

artechock: Einer Ihrer letzten Filme, I’m Not a F**king Princess von Eva Ionesco handelt von einem Kind im Show­ge­schäft...

Huppert: Das war eine sehr spezielle Erfahrung. Ich habe es noch nie erlebt, dass eine Regis­seurin unmit­telbar ihr eigenes Schicksal erzählt hat, wie es hier geschah. Eva Ionesco wurde von ihrer Mutter, einer Foto­grafin, bereits als kaum Zehn­jäh­rige zum Modell gemacht, zunehmend gegen ihren eigenen Willen. Ich habe diese Mutter gespielt, eine starke, herrische, aber auch verwund­bare Frau, war am Set also quasi die Mutter der Regis­seurin – eine merk­wür­dige Erfahrung.

Aber solche immer wieder neuen Dinge machen auch das Leben einer Schau­spie­lerin aus. Ich komme zum Beispiel eben erst aus Korea zurück. Dort habe ich einen Film mit Hong Sang-soo abgedreht. Das war wunderbar, aber auch etwas völlig Neues. Davor habe ich im Januar auf den Phil­ip­pinen gefilmt, mit Brillante Mendoza. Das waren groß­ar­tige, erstaun­liche Erfah­rungen. Mit beiden. Und völlig unter­schied­lich. Sie haben komplett verschie­dene Arbeits­weisen. Brillante Mendoza arbeitet mit einem sehr großen Team. Es ist ein einziges Chaos, und man ist Teil dieses Chaos. Der Film hat das auch verlangt. Denn ich habe ein Entfüh­rungs­opfer gespielt, das von einer Terro­ris­ten­bande durch den Dschungel geschleppt wird. In Korea mit Hong Sang-soo war es das Gegenteil: Eine ganz ganz kleine Crew, nur acht oder neun Leute, es war erstaun­lich.

artechock: Hong Sang-soo gilt ja unter den asia­ti­schen Filme­ma­chern als der fran­zö­sischste...

Huppert: Ja, das ist er auch. Der erste Film, den ich von ihm sah, war Woman Is the Future of Man – das ist ein Film wie von Rohmer. Ich empfand sofort eine tiefe Verbin­dung, der Film kam mir sehr sehr fran­zö­sisch vor. Und das gilt, glaube ich, für alle seine Filme.

artechock: Und wie kam es zum Dreh mit Mendoza? Haben Sie den entdeckt, als Sie 2009 Jury­prä­si­dentin von Cannes waren, und seinem Film Kinatay den Regie­preis gaben – übrigens eine ganz hervor­ra­gende Entschei­dung?

Huppert: Herz­li­chen Dank – ja das waren harte Debatten. Aber ich glaube, wir haben die richtige Wahl getroffen. Tatsäch­lich habe ich Mendoza da entdeckt. Und dann haben wir uns bei einem Film­fes­tival in Sao Paolo wieder­ge­troffen. Wir haben uns bei einem Kaffee unter­halten, und er fragte mich: »Möchtest Du in meinem nächsten Film mitspielen?«

Es waren zwei groß­ar­tige Erfah­rungen. Ich bin gespannt, wie die Leute darauf reagieren. Und die Dreh­ar­beiten waren über­schaubar. Mit Brillante waren es gerade vier Wochen, mit Hong Sang-soo sogar nur zwei. Es war eine so origi­nelle Arbeit. Und ich mochte seine Einfälle: Hong Sang-soo habe ich zuerst in Paris kennen­ge­lernt. Bei ihm habe ich drei verschie­dene Figuren gespielt. Die Dreh­ar­beiten waren unglaub­lich. Er schrieb das Drehbuch während wir gedreht haben, immer über Nacht. Also gab es täglich am Morgen den Moment, an dem sich alle versam­melten und auf das Script warteten wie auf die himm­li­sche Offen­ba­rung, wie Moses am Berg auf die Geset­zes­ta­feln. Und tatsäch­lich war dann alles sehr elabo­riert, sehr genau ausge­ar­beitet, jeder Dialog fest­ge­legt. Brillante dagegen hatte immerhin ein Drehbuch, auch wenn er das, was drin steht, nicht streng verfolgt. Es ist eher eine Basis. Von dieser Heran­ge­hens­weise könnten wir in Europa eine Menge lernen.

artechock: Sie haben mit einem Film von Otto Preminger begonnen, einem der letzten Titanen des klas­si­schen Hollywood, und jetzt drehen Sie mit einem phil­ip­pi­ni­schen Autoren­filmer – wie suchen Sie sich eigent­lich die Regis­seure aus, mit denen Sie arbeiten? Worum geht es dabei? Um Abwechs­lung?

Huppert: Um Neugier. Ich inter­es­siere mich mehr für den Regisseur, als für die Story eines Films, oder eine bestimmte Figur. Das treibt mich an. Aber manchmal werden die Figuren selbst mehr und mehr dominant. Zum Beispiel in Michael Hanekes Die Klavier­spie­lerin. Da kam die Figur mit ihrem Macht­streben der Autorität des Regis­seurs in den Weg.

Jeder Film hat einzig­ar­tige Momente. Ich erinnere mich noch gut an 1980, da hatte ich ein außer­ge­wöhn­li­ches Jahr: Nach­ein­ander habe ich Maurice Pialats Loulou, Rette sich, wer kann (Das Leben) von Godard und in den USA Michael Ciminos Heaven’s Gate gedreht – man kann sich keine gegen­sätz­li­cheren Errfah­rungen vorstellen.

artechock: Ist Unschuld wichtig, um eine gute Schau­spie­lerin zu sein? Braucht man einen Moment voll­kom­mener Unvor­ein­ge­nom­men­heit?

Huppert: Ja schon, denn viele Figuren, die ich gespielt habe, – wie eben die Klavier­spie­lerin – sind auf gewisse Weise harsch. Sie können zunächst einmal unsym­pa­thisch wirken, auch auf mich selbst. Und da muss ich suchen, Freiräume finden, und tatsäch­lich so etwas wie Unschuld im Umgang mit ihnen – um ihr Benehmen akzep­tabel zu machen. Für den Zuschauer, aber zunächst einmal für mich selber.

artechock: Sie selbst haben ja auch das Image einer Schwie­rigen. Auf viele Menschen, die Sie nur von der Leinwand her kennen, wirken Sie kühl und distan­ziert – ich finde zwar, dass es schon in manchen Rollen ganz anders ist, erst recht, wenn Sie jetzt hier vor einem sitzen, aber das Klischee über Sie scheint kaum verän­derbar.

Huppert: Ja, aber da kann man nichts machen. Die Leute setzen einen Schau­spieler notwendig mit seinen Rollen gleich. Obwohl ich ja auch anderes gespielt habe, sind glaube ich die Rollen, mit denen ich bekann­testen geworden bin – Die Klavier­spie­lerin, Eine Frau­en­sache, andere Chabrol-Filme –, jene, in denen ich solche kühlen, unnah­baren, manchmal unsym­pa­thi­schen Frauen spiele. Hätte ich eine ähnlich enge Beziehung zum Publikum über andere Charak­tere, die freund­li­cher, netter und wärmer sind, dann wäre viel­leicht das Verhältnis auch wärmer. Aber ich habe so eine Rolle nie gefunden.

artechock: In ihren Rollen scheinen Sie sich oft stärker preis­zu­geben, als andere Kolle­ginnen. Sie machen sich sicht­barer. Und besonders sichtbar zu sein, bedeutet distan­ziert zu sein.

Huppert: Ich weiß es nicht. Aber es spielt natürlich auch eine Rolle, dass die Geschichten meiner Filme sich oft um sehr starke Themen und harte Fragen drehen. Es gab mal eine Zeit, aber das war vor meiner Zeit, da erzählten auch künst­le­risch große Filme von posi­ti­veren Dingen, predigten positive Werte. Es war die Ära des klas­si­schen Hollywood, ein Goldenes Zeitalter. Heute ist das Kino weniger dazu da, nette Sachen über nette Leute zu erzählen – das tun nur noch schlechte Filme, und darin sind die Leute dann am Ende auch nicht so nett. Ich bin eine Schau­spie­lerin meiner Epoche. Heute werden keine Komödien à la Lubitsch oder Wilder gemacht, der Humor dessen, was produ­ziert wird, weil es angeblich die Masse will, ist ziemlich primitiv. Und kluge Regis­seure machen lieber andere Filme.

Heute machen Künstler Filme aus anderen Gründen. Die Menschen haben inzwi­schen verstanden, dass Film ein gutes Medium ist, um die Welt so zu zeigen, wie sie ist, nicht wie wir sie uns erträumen. Das Kino ist nicht länger die Traum­fa­brik, die es mal war. Es kann das immer noch sein, aber das sind Ausnahmen. Das Kino ist heute das Medium, das uns dazu bringt, über die Dummheit der Welt nach­zu­denken – und das ist genauso aufregend.

artechock: Was erinnern Sie noch von Ihrer Erfahrung mit Otto Preminger – es war beim Dreh für Operation: Rosebud. Der war ja einer der letzten Über­le­benden jenes Goldenen Zeital­ters, von dem Sie sprechen...

Huppert: Preminger war ein Denkmal. Er war... Er hat immer alle ange­schrien. Jeden Tag.

artechock: Er war also genau so, wie das Klischee, das über ihn existiert?

Huppert: Ja, er war so. Ganz genau. Sein Lieb­lings­satz war: »If you are not happy, you go back to Paris.« Er sagte das in seinem starken öster­rei­chi­schen Akzent – er hat das »R« immer noch sehr gerollt. Und tatsäch­lich sind eine Menge Leute während des Drehs zurück nach Paris geschickt worden. Er hat sie alle gefeuert. Ich mochte ihn, er war auf seine Art ok. Ein seltsamer Mann. Er war sehr schlau und hatte einen großen Sinn für Humor.

Der Film Operation: Rosebud ist nicht wirklich über­zeu­gend, der gehört mehr in eine Kurio­si­tä­ten­samm­lung. Inter­es­sant, weil er von Otto Preminger war, und einer meiner aller­ersten Filme, aber eben auch traurig: Ursprüng­lich sollte Robert Mitchum die Haupt­rolle spielen. Er war schon da, und war wunder­voll, aber dann gab es einen großen Krach. Mitchum hatte ein bisschen zu viel getrunken und eins gab das andere. Preminger feuerte ihn. Es war das Ende ihrer Freund­schaft. Er wurde durch Peter O’Toole ersetzt.
Für mich war es mehr, als nur ein Dreh. Die Dreh­ar­beiten waren selbst wie ein Film, einfach dabei zu sein, und alles zu beob­achten, was da los war.

artechock: Es gibt ja mehrere Filme, die tatsäch­lich von Film­dreh­ar­beiten handeln. Welcher dieser Film kommt Ihren eigenen Erfah­rungen am nächsten?

Huppert: Truffauts Die ameri­ka­ni­sche Nacht gelingt das schon in gewisser Weise. Darum ist er bis heute so bekannt. Truffaut konnte auch gar nicht lügen. Ein komplett wahrer Film.

artechock: Und auch ein sehr warmer Film...

Huppert: In meinem Fall trifft diese Sicht­weise zu. Selbst wenn die Handlung eines Films hart ist. Es muss nicht immer wie bei Preminger sein.

artechock: Wann sind Sie in Ihrer Arbeit richtig glücklich?

Huppert: Wenn ich auf einem Filmset bin und alles glatt läuft. Und manchmal, wenn ich mich körper­lich anstrengen muss. Filme zu drehen ist prin­zi­piell eine sehr körper­liche Erfahrung. Dabei ist zugleich alles wie eine Miniatur. Merk­würdig reduziert. Man steigt zwar auf einen Berg, aber nicht richtig. Man reitet, aber nur ein bisschen. Alles ist reduziert.

Es gibt natürlich Fälle, in denen kommt das Erlebnis der Realität sehr nahe – etwa im Fall von Brillante Mendozas neuem Film. Wir liefen stun­den­lang im Dschungel herum. Moskitos haben uns gestochen, überall waren Ameisen und große Spinnen. Manche Filme führen einen in eine neue Realität, die dann in sich ganz real ist.

artechock: Gilt das auch für Claire Denis' White Material? Da spielen Sie eine weiße Plan­ta­gen­be­sit­zerin in Afrika, deren Farm von Kinder­sol­daten und Rebellen drang­sa­liert wird. Der Dreh war in Kamerun...

Huppert: Ja, das war absolut auch so eine extreme, heraus­for­dernde und berei­chernde Erfahrung. Auch durch die Zusam­men­ar­beit mit Claire Denis. Sie eine ganz große Regis­seurin.

artechock: Außer mit Claire Denis haben Sie noch mit vielen anderen Regis­seu­rinnen gear­beitet. Macht es einen großen Unter­schied für Sie, mit einer Frau zu arbeiten?

Huppert: Das kann ich nicht gut beant­worten, denn ich weiß immer noch nicht genau, wie ich es erklären soll. Es ist völlig verschieden und dabei doch dasselbe. Man kann Intimität besser mitein­ander teilen. Aber das gilt nicht für alle Regis­seu­rinnen. Es ist sehr schwer zu gene­ra­li­sieren.

artechock: Sind Sie eigent­lich manchmal enttäuscht, wenn Sie einen fertigen Film sehen, an dem Sie gear­beitet haben?

Huppert: Enttäu­schung kann man das nicht nennen. Ich bin mir sehr bewusst, dass das Ergebnis sich von meinen Erwar­tungen sehr unter­scheidet. Der Film gehört am Ende nicht mir, sondern dem Regisseur. Es fließen wahn­sinnig viele Aspekte in einen Film hinein, und für einen Schau­spieler ist das immer ein bisschen frus­trie­rend: Die Kame­rafüh­rung, der Schnitt – man wünscht sich immer, die Nahauf­nahme wäre größer...

artechock: Wirklich? Sie auch?

Huppert: Oh ja, ich bin da wie alle anderen.

artechock: Könnten Sie sich noch gut in Charak­tere zurück­ver­setzen, die Sie vor vielen Jahren gespielt haben?

Huppert: Ja, das geht. Vor ein paar Jahren habe ich mit einer ameri­ka­ni­schen Foto­grafin eine sehr inter­es­sante Arbeit gemacht: Jeweils ein paar Stunden am Tag bat sie mich, die Gefühle eines bestimmten Films nochmal zu durch­leben, mich in sie hinein­zu­leben. Für zwei Stunden war ich wieder Madame Bovary. Das war sehr konzep­tio­nell und sehr inter­es­sant. In der Theorie hätte ich diese Idee als ziemlich an den Haaren herbei­ge­zogen empfunden. Aber in der Praxis hat es viel Sinn gemacht. Es war offen­kundig. Es ging sehr sehr schnell, da hatte ich wieder das innere Gefühl, aber eben auch das Aussehen, das die Rolle geprägt hat. Eine sehr inter­es­sante Erfahrung. Man spielt keine Persön­lich­keiten, man spielt einen Menschen, eine Abfolge von Gefühls- und Bewusst­seins­zu­ständen und man ist ständig mit sich selbst konfron­tiert. Das Kino ist wie eine imaginäre Auto­bro­gra­phie. Dieser Weg ist nicht immer bewusst. Ande­rer­seits sind meine Filme viel­leicht persön­li­cher, als die von anderen, weil ich mir die Rollen aussuchen kann.

artechock: Wo liegen diese Rollen? Im Verstand, im Herzen, im Körper?

Huppert: Nein, nein, schon im Verstand. Im Gehirn. Man muss sich konzen­trieren, erinnern und in das hinein­ver­setzen, was man damals empfunden hat. Man ist „im Charakter“. Es ist natürlich ein Ausdruck, nicht Millionen Ausdrücke. Sehr präzis. Wie die Essenz. Ich habe alle diese Rollen noch in mir, nichts ging verloren.