78. Filmfestspiele Cannes 2025
Das Existenzielle und das Sozialpädagogische |
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Dominik Molls Dossier 137: Eine Gefahr, keine Chance fürs Kino. | ||
(Foto: Filmfestival Cannes / Fanny de Gouville) |
»Principles are like AIDS.«
– aus: Eagles of the Republic von Tarik Saleh
In diesem Jahr herrscht Logoflation in Cannes. Man hat den Eindruck, vor jedem Film erscheinen noch mehr Logos, als vor dem letzten. 7,8 sind das mindeste, 10,12 kommen gar nicht so selten vor, und vor einem Film habe ich ungelogen 15 Logos gezählt. Gern sind sie vom Applaus der jeweiligen Teams begleitet.
Ein gutes Zeichen ist das aber nicht unbedingt, sondern die auffällige Zunahme der Logos scheint mir eher ein Beleg für wachsende finanzielle Engpässe. Genauso wenig wie viele Filmförderbeteiligungen zeigen, dass ein Film besonders viel Geld hatte. Im Gegenteil ist dies manchmal nur ein Zeichen dafür, dass niemand dem Film so ganz vertraut hat, und dass die Produzenten überall noch ein bisschen Geld zusammenkratzen mussten. Außerdem gilt im Kino erst recht, dass viele Köche den Brei verderben.
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Schon vergangene Woche lief im Wettbewerb der französische Film Dossier 137 von dem in Deutschland geborenen Dominik Moll.
Ein Fall fürs Themensyndikat und das dokufiktionale Kino, das in den letzten Jahren die Überhand über poetische, experimentelle, aber auch sinnenreizende und unterhaltsame Formate gewonnen hat. Dieser Film weiß genau, wo er steht und was richtig oder falsch ist. Fragen hat er wenige, ein paar überlässt er immerhin seinen Figuren. Die Botschaft bestimmt von vornherein die Form.
Zu den Credits laufen dokumentarische Bilder der »Gelbwesten«-Demonstrationen und der auf sie folgenden Pariser Straßenkämpfe des Jahres 2018. Dies ist eine ziemlich harte visuelle Textur gleich zum Einstieg, Bilder, die man nicht gerne sieht, die gleichzeitig Eindruck machen, weil sie »echt« sind. Auch hier wieder das Thema: Der Sieg der Wirklichkeit über die Fiktion. Eine Gefahr, keine Chance fürs Kino.
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Stéphanie, eine interne Ermittlerin der Polizei, gespielt von Léa Drucker, verhört einen Polizisten, der der Übergriffe verdächtigt wird. Sie ist streng, aber verständnisvoll. Zunächst überwiegt der grundsätzliche Tenor: Polizisten haben es auch nicht leicht.
Sehr schnell wird auch klar, wie die Polizeiführung mit ihren eigenen Leuten umgeht: Sie dürfen alles machen, sich aber nicht erwischen lassen. Es geht vor allem um öffentliches Image, es geht darum, wie die Polizei in
der politischen Debatte dasteht und es werden Einzelne, zu deren Verteidigung man gute Argumente aufbringen könnte, geopfert wenn dies dem Gesamtimage der Polizei gerade dient.
Dann ein neuer Fall: Ein netter Jugendlicher wurde durch einen Gummigeschoss-Treffer am Kopf schwer verletzt und erlitt dauerhafte Schäden. Die Polizeiführung mauert zunächst, verschleiert, dann als das beteiligte Team ermittelt wurde, erklärt man Stéphanie, die Gewaltanwendung habe in einer Extremsituation zur Verteidigung stattgefunden. Die Beamten lügen und beschuldigen lediglich die jungen Demonstranten bis zum Beweis des Gegenteils. Der wird durch ein Videodokument erbracht.
Die Mutter des geschädigten Opfers sagt: »keiner kümmert sich um uns.« Das ist natürlich irgendwie richtig, immer richtig, und irgendwie gleichzeitig auch das leicht weinerliche Ressentiment der sogenannten kleinen Leute, des einfachen Volkes gegen die Behörden. So einen Satz könnte auch jeder Provinz Politiker der AfD formulieren. Oder: »Ein Schwarzer hat doch eh keine Chance.«, »Die da oben machen doch eh, was sie wollen.«.
Das ist exemplarisch. Nicht nur weil am Ende von Dossier 137 ein identitätspolitischer Diskurs ganz explizit geführt wird. Am Ende fragt die Chefin sie, ob sie nicht voreingenommen war, weil sie aus dem gleichen Ort stammt, wie das Opfer. Sie erwidert, sie könnte auch voreingenommen sein, weil sie Polizistin ist, weil ihr Ex-Mann Polizist ist, weil ihre Freunde Polizisten sind.
Hier geht es um sozialpädagogische und sozialrealistische Ziele. Dieser Film entfaltet die Überforderung aller Seiten, den Stress, die Verzweiflung, alles das, was die Handlung hemmt und die Souveränität des Einzelnen hemmt, alles, was den Einzelnen erstarren und passiv werden lässt, ihn nicht mehr daran glauben lässt, dass er irgendetwas tun und verändern könnte. Insofern ist dies ein passivistischer und entmutigender Film. Er zeigt Überforderung, er zeigt Hilflosigkeit. Er ist insofern zwar scheinbar engagiert, aber de facto auch wieder Engagement-hemmend und -lähmend.
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Der französische Begriff der Garde à vue, des Gewahrsams, einer Art Untersuchungshaft fällt hier mehrfach. In den Nachrichten sieht Stephanie, dass 120 Gelbwesten im Garde a vue seien. Das ist natürlich ziemlich gezielt gesetzt, weil es eine Stunde später in dem Film wichtig wird, wenn es in hohem Maße schwierig ist, auch nur zwei Polizisten ebenfalls in Gewahrsam zu halten.
Auch aber kommt bei diesem Begriff der Vergleich mit dem gleichnamigen Film von 1981 von Claude Miller auf, der auf Deutsch Das Verhör heißt. Lino Ventura spielt einen Ermittler, Michel Serrault den Verdächtigen, Romy Schneider dessen Ehefrau. Vergleicht man beide Filme, dann glaubt man, dass seitdem Hunderte von Jahren vergangen sein müssen, dass diese Welt von damals – sowohl die Welt der Polizei und die Gesellschaft der Franzosen als auch das Kino – nichts, aber auch gar nichts mit der heutigen zu tun hat, und dass das nicht nur eine gute Nachricht ist.
Dossier 137 ist ein sozialpädagogischer Film. Ihm geht es darum, Partei zu ergreifen, anzuklagen, zu kritisieren, etwas zu verändern und in einem ganz konkreten Sinn engagiert zu sein.
Einen Film wie dem von Claude Miller ging es um etwas anderes: Um Existenzielles. Um die Frage nach dem Sinn des Lebens und um eine Untersuchung der Menschen und ihrer Lebenslügen. Damit ging es auch um die Gemeinsamkeit zwischen Polizei und Schuldigen oder Verdächtigen; und um die Erkenntnis, dass jeder ein Sünder ist. Wenn man so will eine naive Ansicht – oder auch eine katholische. Was ja nicht unbedingt dasselbe sein muss.
Aber in jedem Fall ist dies ein Film, der im
Gegensatz zu dem neuen von Dominik Moll keinen Gegensatz aufbaut oder Gegensätze zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen Institutionen und Menschen vertiefen würde. Ein Film, der einen universalistischen Begriff von der Welt hatte und diese Welt nicht in Identitäten zerteilte.
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Allmählich beginnt man hier erste Bilanzen zu ziehen. Noch knapp drei Tage liegen vor uns, inklusive der »reprise«, der Wiederholungen aller Wettbewerbsbeiträge am kommenden Samstag. Da kann ich dann ein paar Filme nachholen, oder nochmal sehen. Denn die Kollegin Dunja Bialas hat ganz recht: Es gibt Filme, bei denen freut man sich darauf, sie nochmal zu sehen, mehr in ihnen zu entdecken, und noch weiter, tiefer über sie nachzudenken. Mascha Schilinskis deutscher Wettbewerbsbeitrag In die Sonne schauen ist so ein Film. Für seine Wiederholung habe ich schon eine Karte.
Zum ersten Mal zeigt das Festival hier auch nach der Abschlussgala am Samstag den Gewinner der Goldenen Palme. So kann es nicht mehr passieren, was allen schon mal passiert ist: dass man einen Abschlussbericht schreibt und sich darüber hinwegmogeln muss, dass man ausgerechnet den Gewinner verpasst hat.
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Die Franzosen reagieren eher reserviert auf »In die Sonne schauen«. Man konnte das schon bei der Premiere am Mittwoch vor einer Woche im »Grande Theatre Lumiere« merken – da hatten manche mit Standing Ovations gerechnet, tatsächlich gab es aber nur einen Anerkennungs-Applaus von ein, zwei Minuten. Ganz offensichtlich hatten die Franzosen etwas völlig anderes, eher so etwas wie ein zweites Toni Erdmann erwartet, aber Mascha Schilinskis Film ist das Gegenteil davon.
Die Wertungen im französischen Kino- und Branchenmagazin »Le Film Francais« fallen deswegen bestenfalls lauwarm aus, dreimal gibt es sogar die allerschlechteste Wertung, die beste gibt es nur einmal, ansonsten viele 1er und 2er Sterne, also eher schwacher Durchschnitt.
Wie es anders geht, zeigt die Reaktion auf den französisch-spanischen Film Sirat von Olivier Noxe. Hier gibt es viermal eine Goldene Palme und dreimal die schlechteste Wertung, und kaum
die mittlere dazwischen. Wer den Film gesehen hat, weiß warum: Diese Entweder/Oder-Reaktion, ganz schwarz oder ganz weiß ist die einzig mögliche auf diesen Film. Er lässt nichts Lauwarmes zu.
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The Plague von Charlie Polinger ist ein Wasserball-Summercamps-Internatsmovie. Sehr enttäuschend, weil er trotz aller Brutalität und dem Bullying unter den Jugendlichen das am Ende teilweise massiv wird, doch kaum einen Hauch von »Herr der Fliegen« entfaltet. Auch das Wasserball-Thema und das Verhältnis des Lehrers (Joel Edgerton) zu seinen Schülern, vor allem zur Hauptfigur, werden viel zu wenig entfaltet.
Der Film will gleichzeitig zu viel, und traut sich dann doch manches nicht richtig. Die Mädchen, die regelmäßig in der Schwimmhalle trainieren, sind in ihrer Herkunft vollkommen ungeklärt. Andere Beschäftigungen scheinen die Kinder eigentlich gar nicht zu haben. Wir verstehen auch nicht wirklich, warum der Lehrer einerseits als sensibel dargestellt wird, andererseits dann auch vieles überhaupt nicht mitbekommt und begreift. Warum die Kinder über weite Strecken in diesem Film
sich selbst überlassen bleiben. Ebenso bleiben viele Fragen der sozialen Interaktion zwischen den Jungen unklar.
Das eigentliche Wasserballthema, also eine extrem brutale harte Sportart, wird eigentlich nur am Rande behandelt und nur, um bestimmte schöne Unterwasseraufnahmen aus dem Pool zu produzieren, und um die Mädchen leicht bekleidet beim Wasserballett zu zeigen. Einmal ist eine kurze Spielszene in den Film montiert, in dem unsere Hauptfigur von den Kameraden isoliert
wird und bewusst nicht angespielt. Ansonsten ist nur der letzte totale Clash zwischen den beiden Hauptfiguren während des Sports, während eines Spiels. Wie das passiert, ist in einer anderen Szene einmal vorbereitet worden. Mehr nicht.
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Filmakademien müssen auch einfach Geld verdienen. Wenn sie viel Geld verdienen müssen, dann merkt man das am Aufnahmeverfahren. Ein Produzent berichtet mir, das Aufnahmeverfahren bei der Europäischen Filmakademie sei inzwischen ziemlich »wahllos« geworden, man nehme alle möglichen Leute auf, die überhaupt keine Filme gemacht haben oder bestenfalls Hochschulabschlussfilme.
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L’Inconnu du Grand Arche von Stephane Demoustier, ebenfalls in »Un Certain Regard«, ist ein Spielfilm, aber auch eine Hommage an einen Künstler, einen Architekten, bei der man notwendig sofort an The Brutalist denkt. Und an diesem Meisterwerk gemessen, fällt der Franzose ganz schön ab. Es ist ordentlich gemacht, sogar mit einem gewissen nostalgischen Flair
für die 80er Jahre und doch kommt einem alles vor wie Klischees der Architektur und des leidenschaftlichen Künstlers; man muss auch an diesen auch eher schwachen Film Agonie and Ecstasy denken und man hätte eigentlich lieber als von dem irgendwie fanatischen irgendwie auch allzu bescheidenen unbekannten dänischen Architekten und seiner uninteressanten Ehegeschichte, mehr von dem schillernden Präsidenten Francois Mitterand gesehen, dem
»Mazariner«.
Interessant war nur, den Hauptdarsteller von The Square nun nach der Hauptrolle eines zynischen wenn auch in seinem Selbstverständnis idealistischen Kurators, nun in der eines idealistischen Künstlers zu sehen.
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Es gibt eine Gasse, da kann man sie dann alle treffen: Alle Produzenten, alle Rechtehändler, alle Einkäufer sitzen da eng auf eng in ungefähr 30 Restaurants, Restaurant auf Restaurant, alle überteuert, keines ganz schlecht, die oft Fisch und gerne auch italienisch anmutende Nudel- und Muschelgerichte servieren. Denn Cannes ist ja auch eine Mischung aus italienischer und französischer Küche. Hier gehen sie alle hin, und verbringen den Abend, denn es gibt einen bestimmten Typus, und es ist gar nicht der unsympathischste der Cannes-Besucher, die keine Filme sehen, sondern die Geschäfte machen, sich erholen.