23.05.2025
78. Filmfestspiele Cannes 2025

Das Existenzielle und das Sozialpädagogische

Dossier 137
Dominik Molls Dossier 137: Eine Gefahr, keine Chance fürs Kino.
(Foto: Filmfestival Cannes / Fanny de Gouville)

Gemeinsamkeiten und Spaltungen: »Dossier 137«, »L’Inconnu du Grand Arche« und »The plague« in Cannes – Cannes-Tagebuch, 6. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Prin­ci­ples are like AIDS.«
– aus: Eagles of the Republic von Tarik Saleh

In diesem Jahr herrscht Logo­fla­tion in Cannes. Man hat den Eindruck, vor jedem Film erscheinen noch mehr Logos, als vor dem letzten. 7,8 sind das mindeste, 10,12 kommen gar nicht so selten vor, und vor einem Film habe ich ungelogen 15 Logos gezählt. Gern sind sie vom Applaus der jewei­ligen Teams begleitet.

Ein gutes Zeichen ist das aber nicht unbedingt, sondern die auffäl­lige Zunahme der Logos scheint mir eher ein Beleg für wachsende finan­zi­elle Engpässe. Genauso wenig wie viele Film­för­der­be­tei­li­gungen zeigen, dass ein Film besonders viel Geld hatte. Im Gegenteil ist dies manchmal nur ein Zeichen dafür, dass niemand dem Film so ganz vertraut hat, und dass die Produ­zenten überall noch ein bisschen Geld zusam­men­kratzen mussten. Außerdem gilt im Kino erst recht, dass viele Köche den Brei verderben.

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Schon vergan­gene Woche lief im Wett­be­werb der fran­zö­si­sche Film Dossier 137 von dem in Deutsch­land geborenen Dominik Moll.

Ein Fall fürs Themen­syn­dikat und das doku­fik­tio­nale Kino, das in den letzten Jahren die Überhand über poetische, expe­ri­men­telle, aber auch sinnen­rei­zende und unter­halt­same Formate gewonnen hat. Dieser Film weiß genau, wo er steht und was richtig oder falsch ist. Fragen hat er wenige, ein paar überlässt er immerhin seinen Figuren. Die Botschaft bestimmt von vorn­herein die Form.

Zu den Credits laufen doku­men­ta­ri­sche Bilder der »Gelb­westen«-Demons­tra­tionen und der auf sie folgenden Pariser Straßen­kämpfe des Jahres 2018. Dies ist eine ziemlich harte visuelle Textur gleich zum Einstieg, Bilder, die man nicht gerne sieht, die gleich­zeitig Eindruck machen, weil sie »echt« sind. Auch hier wieder das Thema: Der Sieg der Wirk­lich­keit über die Fiktion. Eine Gefahr, keine Chance fürs Kino.

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Stéphanie, eine interne Ermitt­lerin der Polizei, gespielt von Léa Drucker, verhört einen Poli­zisten, der der Über­griffe verdäch­tigt wird. Sie ist streng, aber vers­tänd­nis­voll. Zunächst überwiegt der grund­sätz­liche Tenor: Poli­zisten haben es auch nicht leicht.
Sehr schnell wird auch klar, wie die Poli­zei­füh­rung mit ihren eigenen Leuten umgeht: Sie dürfen alles machen, sich aber nicht erwischen lassen. Es geht vor allem um öffent­li­ches Image, es geht darum, wie die Polizei in der poli­ti­schen Debatte dasteht und es werden Einzelne, zu deren Vertei­di­gung man gute Argumente aufbringen könnte, geopfert wenn dies dem Gesamt­i­mage der Polizei gerade dient.

Dann ein neuer Fall: Ein netter Jugend­li­cher wurde durch einen Gummi­ge­schoss-Treffer am Kopf schwer verletzt und erlitt dauer­hafte Schäden. Die Poli­zei­füh­rung mauert zunächst, verschleiert, dann als das betei­ligte Team ermittelt wurde, erklärt man Stéphanie, die Gewalt­an­wen­dung habe in einer Extrem­si­tua­tion zur Vertei­di­gung statt­ge­funden. Die Beamten lügen und beschul­digen lediglich die jungen Demons­tranten bis zum Beweis des Gegen­teils. Der wird durch ein Video­do­ku­ment erbracht.

Die Mutter des geschä­digten Opfers sagt: »keiner kümmert sich um uns.« Das ist natürlich irgendwie richtig, immer richtig, und irgendwie gleich­zeitig auch das leicht weiner­liche Ressen­ti­ment der soge­nannten kleinen Leute, des einfachen Volkes gegen die Behörden. So einen Satz könnte auch jeder Provinz Politiker der AfD formu­lieren. Oder: »Ein Schwarzer hat doch eh keine Chance.«, »Die da oben machen doch eh, was sie wollen.«.

Das ist exem­pla­risch. Nicht nur weil am Ende von Dossier 137 ein iden­ti­täts­po­li­ti­scher Diskurs ganz explizit geführt wird. Am Ende fragt die Chefin sie, ob sie nicht vorein­ge­nommen war, weil sie aus dem gleichen Ort stammt, wie das Opfer. Sie erwidert, sie könnte auch vorein­ge­nommen sein, weil sie Poli­zistin ist, weil ihr Ex-Mann Polizist ist, weil ihre Freunde Poli­zisten sind.

Hier geht es um sozi­al­pä­d­ago­gi­sche und sozi­al­rea­lis­ti­sche Ziele. Dieser Film entfaltet die Über­for­de­rung aller Seiten, den Stress, die Verzweif­lung, alles das, was die Handlung hemmt und die Souver­ä­nität des Einzelnen hemmt, alles, was den Einzelnen erstarren und passiv werden lässt, ihn nicht mehr daran glauben lässt, dass er irgend­etwas tun und verändern könnte. Insofern ist dies ein passi­vis­ti­scher und entmu­ti­gender Film. Er zeigt Über­for­de­rung, er zeigt Hilf­lo­sig­keit. Er ist insofern zwar scheinbar engagiert, aber de facto auch wieder Enga­ge­ment-hemmend und -lähmend.

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Der fran­zö­si­sche Begriff der Garde à vue, des Gewahr­sams, einer Art Unter­su­chungs­haft fällt hier mehrfach. In den Nach­richten sieht Stephanie, dass 120 Gelb­westen im Garde a vue seien. Das ist natürlich ziemlich gezielt gesetzt, weil es eine Stunde später in dem Film wichtig wird, wenn es in hohem Maße schwierig ist, auch nur zwei Poli­zisten ebenfalls in Gewahrsam zu halten.

Auch aber kommt bei diesem Begriff der Vergleich mit dem gleich­na­migen Film von 1981 von Claude Miller auf, der auf Deutsch Das Verhör heißt. Lino Ventura spielt einen Ermittler, Michel Serrault den Verdäch­tigen, Romy Schneider dessen Ehefrau. Vergleicht man beide Filme, dann glaubt man, dass seitdem Hunderte von Jahren vergangen sein müssen, dass diese Welt von damals – sowohl die Welt der Polizei und die Gesell­schaft der Franzosen als auch das Kino – nichts, aber auch gar nichts mit der heutigen zu tun hat, und dass das nicht nur eine gute Nachricht ist.

Dossier 137 ist ein sozi­al­pä­d­ago­gi­scher Film. Ihm geht es darum, Partei zu ergreifen, anzu­klagen, zu kriti­sieren, etwas zu verändern und in einem ganz konkreten Sinn engagiert zu sein.

Einen Film wie dem von Claude Miller ging es um etwas anderes: Um Exis­ten­zi­elles. Um die Frage nach dem Sinn des Lebens und um eine Unter­su­chung der Menschen und ihrer Lebens­lügen. Damit ging es auch um die Gemein­sam­keit zwischen Polizei und Schul­digen oder Verdäch­tigen; und um die Erkenntnis, dass jeder ein Sünder ist. Wenn man so will eine naive Ansicht – oder auch eine katho­li­sche. Was ja nicht unbedingt dasselbe sein muss.
Aber in jedem Fall ist dies ein Film, der im Gegensatz zu dem neuen von Dominik Moll keinen Gegensatz aufbaut oder Gegen­sätze zwischen Staat und Gesell­schaft, zwischen Insti­tu­tionen und Menschen vertiefen würde. Ein Film, der einen univer­sa­lis­ti­schen Begriff von der Welt hatte und diese Welt nicht in Iden­ti­täten zerteilte.

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Allmäh­lich beginnt man hier erste Bilanzen zu ziehen. Noch knapp drei Tage liegen vor uns, inklusive der »reprise«, der Wieder­ho­lungen aller Wett­be­werbs­bei­träge am kommenden Samstag. Da kann ich dann ein paar Filme nachholen, oder nochmal sehen. Denn die Kollegin Dunja Bialas hat ganz recht: Es gibt Filme, bei denen freut man sich darauf, sie nochmal zu sehen, mehr in ihnen zu entdecken, und noch weiter, tiefer über sie nach­zu­denken. Mascha Schi­lin­skis deutscher Wett­be­werbs­bei­trag In die Sonne schauen ist so ein Film. Für seine Wieder­ho­lung habe ich schon eine Karte.

Zum ersten Mal zeigt das Festival hier auch nach der Abschluss­gala am Samstag den Gewinner der Goldenen Palme. So kann es nicht mehr passieren, was allen schon mal passiert ist: dass man einen Abschluss­be­richt schreibt und sich darüber hinweg­mo­geln muss, dass man ausge­rechnet den Gewinner verpasst hat.

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Die Franzosen reagieren eher reser­viert auf »In die Sonne schauen«. Man konnte das schon bei der Premiere am Mittwoch vor einer Woche im »Grande Theatre Lumiere« merken – da hatten manche mit Standing Ovations gerechnet, tatsäch­lich gab es aber nur einen Aner­ken­nungs-Applaus von ein, zwei Minuten. Ganz offen­sicht­lich hatten die Franzosen etwas völlig anderes, eher so etwas wie ein zweites Toni Erdmann erwartet, aber Mascha Schi­lin­skis Film ist das Gegenteil davon.

Die Wertungen im fran­zö­si­schen Kino- und Bran­chen­ma­gazin »Le Film Francais« fallen deswegen besten­falls lauwarm aus, dreimal gibt es sogar die aller­schlech­teste Wertung, die beste gibt es nur einmal, ansonsten viele 1er und 2er Sterne, also eher schwacher Durch­schnitt.
Wie es anders geht, zeigt die Reaktion auf den fran­zö­sisch-spani­schen Film Sirat von Olivier Noxe. Hier gibt es viermal eine Goldene Palme und dreimal die schlech­teste Wertung, und kaum die mittlere dazwi­schen. Wer den Film gesehen hat, weiß warum: Diese Entweder/Oder-Reaktion, ganz schwarz oder ganz weiß ist die einzig mögliche auf diesen Film. Er lässt nichts Lauwarmes zu.

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The Plague von Charlie Polinger ist ein Wasser­ball-Summer­camps-Inter­nats­movie. Sehr enttäu­schend, weil er trotz aller Bruta­lität und dem Bullying unter den Jugend­li­chen das am Ende teilweise massiv wird, doch kaum einen Hauch von »Herr der Fliegen« entfaltet. Auch das Wasser­ball-Thema und das Verhältnis des Lehrers (Joel Edgerton) zu seinen Schülern, vor allem zur Haupt­figur, werden viel zu wenig entfaltet.

Der Film will gleich­zeitig zu viel, und traut sich dann doch manches nicht richtig. Die Mädchen, die regel­mäßig in der Schwimm­halle trai­nieren, sind in ihrer Herkunft voll­kommen ungeklärt. Andere Beschäf­ti­gungen scheinen die Kinder eigent­lich gar nicht zu haben. Wir verstehen auch nicht wirklich, warum der Lehrer einer­seits als sensibel darge­stellt wird, ande­rer­seits dann auch vieles überhaupt nicht mitbe­kommt und begreift. Warum die Kinder über weite Strecken in diesem Film sich selbst über­lassen bleiben. Ebenso bleiben viele Fragen der sozialen Inter­ak­tion zwischen den Jungen unklar.
Das eigent­liche Wasser­ball­thema, also eine extrem brutale harte Sportart, wird eigent­lich nur am Rande behandelt und nur, um bestimmte schöne Unter­was­ser­auf­nahmen aus dem Pool zu produ­zieren, und um die Mädchen leicht bekleidet beim Wasser­bal­lett zu zeigen. Einmal ist eine kurze Spiel­szene in den Film montiert, in dem unsere Haupt­figur von den Kameraden isoliert wird und bewusst nicht ange­spielt. Ansonsten ist nur der letzte totale Clash zwischen den beiden Haupt­fi­guren während des Sports, während eines Spiels. Wie das passiert, ist in einer anderen Szene einmal vorbe­reitet worden. Mehr nicht.

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Film­aka­de­mien müssen auch einfach Geld verdienen. Wenn sie viel Geld verdienen müssen, dann merkt man das am Aufnah­me­ver­fahren. Ein Produzent berichtet mir, das Aufnah­me­ver­fahren bei der Europäi­schen Film­aka­demie sei inzwi­schen ziemlich »wahllos« geworden, man nehme alle möglichen Leute auf, die überhaupt keine Filme gemacht haben oder besten­falls Hoch­schul­ab­schluss­filme.

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L’Inconnu du Grand Arche von Stephane Demoustier, ebenfalls in »Un Certain Regard«, ist ein Spielfilm, aber auch eine Hommage an einen Künstler, einen Archi­tekten, bei der man notwendig sofort an The Brutalist denkt. Und an diesem Meis­ter­werk gemessen, fällt der Franzose ganz schön ab. Es ist ordent­lich gemacht, sogar mit einem gewissen nost­al­gi­schen Flair für die 80er Jahre und doch kommt einem alles vor wie Klischees der Archi­tektur und des leiden­schaft­li­chen Künstlers; man muss auch an diesen auch eher schwachen Film Agonie and Ecstasy denken und man hätte eigent­lich lieber als von dem irgendwie fana­ti­schen irgendwie auch allzu beschei­denen unbe­kannten dänischen Archi­tekten und seiner unin­ter­es­santen Ehege­schichte, mehr von dem schil­lernden Präsi­denten Francois Mitterand gesehen, dem »Mazariner«.
Inter­es­sant war nur, den Haupt­dar­steller von The Square nun nach der Haupt­rolle eines zynischen wenn auch in seinem Selbst­ver­s­tändnis idea­lis­ti­schen Kurators, nun in der eines idea­lis­ti­schen Künstlers zu sehen.

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Es gibt eine Gasse, da kann man sie dann alle treffen: Alle Produ­zenten, alle Rechtehändler, alle Einkäufer sitzen da eng auf eng in ungefähr 30 Restau­rants, Restau­rant auf Restau­rant, alle über­teuert, keines ganz schlecht, die oft Fisch und gerne auch italie­nisch anmutende Nudel- und Muschel­ge­richte servieren. Denn Cannes ist ja auch eine Mischung aus italie­ni­scher und fran­zö­si­scher Küche. Hier gehen sie alle hin, und verbringen den Abend, denn es gibt einen bestimmten Typus, und es ist gar nicht der unsym­pa­thischste der Cannes-Besucher, die keine Filme sehen, sondern die Geschäfte machen, sich erholen.