13.07.2016
33. Filmfest München 2016

Denn sie wissen zu gut, was sie tun

Alessandro Jodorowskys Poesía sin fin
Alessandro Jodorowskys Poesía sin fin – der einzige Film, der wirkliche Lust am Kino verkörperte
(Foto: Wolf Kino GmbH)

Edelmann und Willman schimpfen auf dem Filmfest München 2016 auf die Jugend von heute

Von Anna Edelmann & Thomas Willmann

Opas Kino ist untot.
Die letzten Filmfest-Jahre hat es einem auf dem Weg ins City-Kino – dem Knoten­punkt des Festivals – aus den Schau­fens­tern des benach­barten Tradi­tions-Sexshops zuge­zwin­kert. Der extra saisonal Film­plakat-Schauen deko­rierte von Alois Brummers ‘70er-Jahre Sex-Klamotten.
Dieses Mal war dieser »Gang der Scham« (wie manche ihn scherz­haft nannten) hinter einem »Bauzaun der Keusch­heit« (wie niemand ihn nannte) verborgen. Doch wenn man im Kino saß, musste man fest­stellen, dass sich die miefige Mischung aus Schein­frei­zü­gig­keit und Spieß­bür­gertum klamm­heim­lich wieder auf deutsche Leinwände zurück­ge­schli­chen hat.

Nun ist Oliver Rihs' Affen­könig bestimmt davon überzeugt, ein voll krasser, total abge­drehter, mega-subver­siver Film zu sein. Leute koksen, es wird gefressen, es wird gesoffen, Männer fahren in Damen-Dessous Radrennen, zwei Frauen küssen sich im Swim­ming­pool, ein Mann kriegt einen Ständer, weil er nackte Titten sieht, eine notgeile Schwan­gere isst eine Gurke, Teenager werden porno­gra­phi­schen Darstel­lungen aus dem 18. Jahr­hun­dert ausge­setzt, eine der zwei(!) Escort-Damen trägt deko­ra­tive(!!) Seil-Bondage, Menschen spielen Ping-Pong (!!!) – und der große Libertin Marquis de Sade wohnte einst nur einen Tages­aus­flug entfernt. Exzess!
Selbst wenn Affen­könig nicht in allen – wirklich: allen – anderen filmi­schen Belangen der hoffent­liche Tiefst­punkt des Filmfests für viele Jahre gewesen wäre: Was ihn nach seinen eigenen, permanent propa­gierten Maßstäben endgültig disqua­li­fi­ziert, ist die entblößende Spießig­keit, die immer uner­träg­li­cher durch sein vorgeb­li­ches Wildsein dröhnt.
Der Film kann sich nur deshalb für so verwegen halten, weil er einen abnormal engen Begriff von »Norma­lität« konstru­iert – und jegliche Abwei­chung davon für so unglaub­lich lustig und gewagt befindet. Es ist die Über­tra­gung des puri­ta­ni­schen US-Prinzips von Hangover und Konsorten auf europäi­sches Kino, das eigent­lich aufge­klärter, freier sein sollte – von Körper­lich­keit als Lächer­lich­keit und Schande, von Lebens­gier und Lust als verach­tens­werte Über­tre­tung.
Das ist letztlich sogar schlimmer als der säftelnde, verklemmte (aber rück­bli­cken doch irgendwie naive) Voyeu­rismus der Schul­mäd­chen Jodeln In Der Juckenden Lederhose Report 15 Filme: Das ist das feige aggres­sive Feixen von Teenagern, die – in der tief­sit­zenden Verun­si­che­rung ihres Selbsts – es für glei­cher­maßen ausgren­zens­wert erachten, Jungfrau zu sein, wie Sex gehabt zu haben.

Diese Rück­ho­lung der Ausschwei­fung ins Bürger­liche, diese letzt­liche Bestra­fung jeglichen Frei­heits­drangs – laut Bericht eines Kollegen z.B. auch in Gleißendes Glück zu beob­achten – scheint aber nicht nur ein Phänomen deutscher Filme­ma­cher zu sein. Stre­cken­weise wähnte man sich weniger auf einem Filmfest, das »Leiden­schaft« zum dies­jäh­rigen Motto ausge­rufen hatte, als auf den Protes­tan­ti­schen Filmtagen München:
Der fran­zö­si­sche Bang Gang (Regie: Eva Husson) entpuppte sich als eine Art mora­lin­saure Version von Kids, deren Orgien zum Schrecken der Eltern darin enden, dass alle Verdacht auf Syphillis haben. Safer sex sells! Ein einziger, Jahr­zehnte zurück­lie­gender Fehltritt zerstört in Simon Stones The Daughter gleich zwei Familien und treibt die unschul­digste Figur zu einem Selbst­mord­ver­such. Und in Into The Forest von Patricia Rozema wird gleich der gesamten Über­fluss­ge­sell­schaft der Strom abgedreht – und ein allein im Wald lebendes Schwes­tern­paar in Abwe­sen­heit ihres super­kom­pe­tenten Papis erst durch eine quälende Kette von Fähr­nissen bis hin zur Verge­wal­ti­gung zur selb­stän­digen Über­le­bens­fähig­keit und der Rolle als neue Ur-Mütter erzogen.

In den meisten dieser Filme büßt eine junge Gene­ra­tion für die Sünden der Eltern. Und das erklärt auch die Wendung ins Konser­va­tive: Wenn Kunst auch immer eine Rebellion gegen ihre Vorgänger ist – wie und wogegen soll die Jugend heute dann aufbe­gehren, wenn die Alten die Rebellen, Hippies, Punks, Anarchos waren? Freilich nimmt ihr Wider­stand dann die Form einer Suche, eines Verlan­gens nach Ordnung, Stabi­lität, Regeln an.

Eine Ausnah­me­erschei­nung war da eine Figur wie der titel­ge­bende Alt-Gangster in dem wohlig stoischen Mr. Six von Hu Guan: Ein Vater, der an einem aus der Zeit gefal­lenen Ehren­kodex festhält und seinem über die Stränge schla­genden Sohnemann aus der Patsche helfen und neurei­chen Jung-Gangs ihre Rüpel­haf­tig­keit austreiben, Respekt beibringen muss.
Und ebenso selten war ein Jung­filmer wie Aron Lehmann, der die lako­ni­sche Radi­ka­lität seines maul­faulen Helden nicht zurück­pfeift: Der ruinierte Landwirt Huber (Golo Euler) packt Die letzte Sau von seinem Hof in den Moped-Beiwagen und zieht hinaus durch deutsche Lande – wobei ihm eine Revo­lu­tion passiert. Was da aus dem nord­schwä­bi­schen Meteo­ri­ten­krater des Nörd­linger Ries' zur Ehren­ret­tung der deutschen Kino­komödie heran­brummt, ist nicht possier­liche Dialekt-Posse, sondern glaubt an die Provinz als Ursprung desta­bi­li­sie­render Kraft. Huber, der eigent­lich nur mit maximaler Sturheit Gerech­tig­keit für sich sucht und dabei en passant die Fackel an die ganze Ordnung legt, ist freilich eine Kohlhaas-Figur. Es ist, als ob der Regisseur Lehmann sich an eine tatsäch­liche Adaption des Kleist-Stoffes anpir­schen würde – schon in seiner char­manten Mocku­men­tary Kohlhaas oder die Verhält­nis­mäßig­keit der Mittel hat er vorge­führt, wie man ihn adäquater verfilmt, indem man daran scheitert. Huber war beim dies­jäh­rigen Filmfest einer der wenigen Rebellen nicht gegen die Zumu­tungen liberaler Eltern, sondern der neoli­be­ralen Gegenwart.

Wohin­gegen selbst ein Film wie Made In France, der die Anschlags­pla­nungen einer isla­mis­ti­schen Terror­zelle auf fran­zö­si­schem Boden vorab­phan­ta­siert hat, uner­wartet großflächig die histo­ri­schen und poli­ti­schen Dimen­sionen wegra­diert und alles auf eine rein persön­liche Ebene reduziert. Bezeich­nen­der­weise wird dabei der west­lichste der Extre­misten getrieben von dem Drang, gegen sein katho­li­sches Eltern­haus aufzu­be­gehren. Und wählt dafür nicht den Weg in eine anar­chi­sche Radi­ka­lität, sondern steigert sich in ein noch rigideres Regel­system. Nicolas Boukhriefs Film scheut aber selbst vor den Extremen, die sein Gegen­stand verlangen würde – er ist ein Film über Terror, der niemandem weh tun möchte; der sich krampf­haft ein Ende herbei­kon­stru­iert, das alles Voran­ge­gan­gene möglichst konse­quenz­frei verpuffen lässt.

Es fehlte nicht nur in diesem Film oft der Glaube an eine Kunst, die einen aus der Bahn werfen soll und kann. Der Wille, sich und das Publikum der Saat einer Idee wirklich auszu­lie­fern, und bedin­gungslos ihrem Gedeihen auch auf unge­si­chertes Terrain zu folgen – statt es nach Schablone zu stutzen.
Mehr noch: Dass eine voran­ge­gan­gene Künst­ler­ge­nera­tion diesen Glauben gelebt hat, gilt einem heutigen Film wie The Family Fang anfangs als eine liebevoll belächelte Kauzig­keit – dann aber zunehmend gar eine Form der Selbst­sucht, die bei deren Kindern bleibende Schäden hinter­lässt. Da steht ausge­rechnet Chris­to­pher Walken, dessen bloße Anwe­sen­heit in jeden daran inter­es­sierten Film mühelos echtes Wagnis und Wahn tragen kann. Und er spielt einen Perfor­mance-Künstler, der in den ‘70er davon überzeugt war, dass er mit seinen Aktionen den kapi­ta­lis­ti­schen US-Alltag stören und bloßlegen kann. Und dann macht The Family Fang diese Figur so enttäu­schend blass, und erklärt ihren Kampf zu einem derart lächer­li­chen Schar­mützel gegen ein eigent­lich gutwil­liges System. Freilich mag man Walken, Nicole Kidman, Jason Bateman (der hier auch Regie geführt hat). Aber wie harmlos amüsant und nett der Film anzusehen ist, ist letztlich das Perfi­deste an ihm: Mit seiner Malen-nach-Zahlen-Ästhetik von subver­siver Kunst zu erzählen, ist die bitterste Abfuhr, die er einem Verspre­chen von Freigeist erteilen kann.

Das ist in Wahrheit ärger­li­cher als Filme, die einem während des Anschauens mehr stören – aber dabei wenigs­tens innere Span­nungen offen­baren, die zeigen, dass für sie die Ideale der ‘68er-Gene­ra­tion kein ganz so abge­hef­tetes Kapitel sind.
Captain Fantastic bekommt seinen Tonfall, seine Haltung gegenüber der Titel­figur nie in den Griff. Mal findet Matt Ross' Film es verschroben possier­lich, mal bewun­derns­wert, dann aber wieder bedroh­lich und grenz­psy­cho­pa­thisch, dass Ben (Viggo Mortensen) seine sechs Kinder im Wald fern der deka­denten US-Zivi­li­sa­tion zu autarken, hoch­ge­bil­deten Menschen und Über­le­bens­künst­lern erziehen will. Gerade aber, als der Film offenbart hat, wie schmerz­haft und zerstö­re­risch Bens Dogma­tismus in Wahrheit ist, reißt er das Ruder herum zu unstim­miger, unver­dienter Versöhn­lich­keit. Die vollends gruslig wird dadurch, dass sie buchs­täb­lich über die Leiche der bipolaren Mutter erlangt wird – einer Figur, welcher Captain Fantastic nie eigene Mensch­lich­keit zugesteht; die er lediglich als Plot­me­chanik-Zahnrad miss­braucht.

Als Abschluss­film war das leider ein steiles Gefälle zu der Höhe, die der Eröff­nungs­film Toni Erdmann vorgelegt hatte. Der hat eine ähnliche Ambi­va­lenz gegenüber einer Eltern­ge­nera­tion, welche die Leis­tungs­ori­en­tiert­heit der Jungen fremd und bemit­lei­dens­wert empfindet. Aber Maren Ades Film nutzt diese Ambi­va­lenz bewusst und kontrol­liert, insze­niert präzise und amüsiert distan­ziert das Verhältnis zwischen Musik­lehrer-Vater und Business Consul­tant-Tochter. Hier ist nicht der Platz und Moment, den zahllosen Stimmen zu diesem Film einen weiteren ausführ­li­chen Lobgesang hinzu­zu­fügen. Doch unser Aha-Erlebnis war, wie der Film sich gegen die geschürten Erwar­tungen behaupten kann – wie er auf subtilere, ruhiger verspon­nene, scho­nungslos zarte Weise groß ist, als es in der Cannes-Euphorie tönte.

Man kann also nicht behaupten, das Filmfest habe gelogen, als es sich »Leiden­schaft« als Motto dieses Jahrgangs auf die Fahnen gestem­pelt hat. Aber wer sich darin das Verspre­chen einer freien Sommer­liebe erträumte, sah sich enttäuscht. Und bekam statt dessen eher respek­ta­blen Aufklärungs­un­ter­richt. Denn Leiden­schaft war präsent nur als Thema, als Gegen­stand – sei es in Spiel­filmen über (nachher bestraften) Exzess, oder in braven Dokus über leiden­schaft­liche Kunst.
Uns ist nur ein Film begegnet, der wirkliche Lust am Kino verkör­perte – der Leiden­schaft nicht abbildete, sondern sich ihr ergab, in sie hinein­stürzte und von ihr mitreißen ließ: Ales­sandro Jodo­row­skys Poesía sin fin – der zweite Teil seiner filmi­schen Auto­bio­gra­phie, der jene Jugend­jahre in Santiago zurück­phan­ta­siert, die ihn zum Poeten machten. Dabei ist er sowohl gegenüber seinem damaligen Selbst als auch in seiner jetzigen Insze­nie­rung gänzlich un-verschämt. Es braucht wohl ausge­rechnet einen Ex-Katho­liken wie Jodo­rowsky für eine solche unver­klemmte Leib­lich­keit. Bei dem dann eben die zwei Sex-Szenen, die auf dem Papier nach gewollter Provo­ka­tion klingen, nach zum Voyeu­rismus nicht einladend sondern geradezu auffor­dernd – die erste Liebes­nacht mit der dich­tenden Muße, die all jene Lebens-Üppigkeit verkör­pert, die dem Kauf­manns­sohn vorher fehlte; und der Betrug an seinem Freund mit dessen klein­wüch­sigen, menstru­ie­renden Partnerin – etwas Warmes, Intimes, Lust­volles, Mensch­li­ches und Gebor­genes haben. Der Film ist wild und bunt und radikal (und darin mitunter durchaus auch gefähr­lich nahe an einer Volks­hoch­schul-Krea­tiv­tanz­truppe) – aber in seiner ausge­stellten Künst­lich­keit nie distan­ziert: Alles ist Ausdruck der Emotionen, die aus dem Strudel der Erin­ne­rung zu den jewei­ligen Ereig­nissen hoch­steigen. Jodo­rowsky scheut dabei weder vor dem jugend­lich naiven Über­borden der Lebens­freude zurück, noch vor den Schmerzen jener Momente, die er bis heute bereut.
Poesía sin fin wird für ihn letztlich zur Möglich­keit, sich dem Diktat des unver­än­derbar Gesche­henen zu stellen – und ihm etwas entge­gen­zu­setzen: Der Film endet mit dem Abschied von seinem Vater. Der in der Realität unver­söhnt blieb. Und dem er nun – mit sich und seinem eigenen Sohn sowie Enkel vor der Kamera – jene Worte, Gesten, Berüh­rungen nach­reicht, für die er damals zu hochmütig war.

Ales­sandro Jodo­rowsky ist mitt­ler­weile 87. Und hat einen der jüngsten Filme des Filmfests 2016 gedreht.
Doch diese Alters­wild­heit – gegenüber dem Konser­va­tismus der sich gerade etablie­renden Filme­ma­cher – ist eben Ausdruck davon, dass er noch immer an der Ausein­an­der­set­zung mit seinem sehr rigiden Vater zu knabbern hat. Seine befrei­ende Rebellion ist genau das, wogegen die jetzige Künst­ler­ge­nera­tion aufbe­gehrt.
Aber da wissen wir, auf welcher Seite wir als Publikum stehen:
Es lebe Opas Kino!