07.07.2016
33. Filmfest München 2016

»Der Tod ist das einzige Sujet, das mich inter­es­siert«

Cristi Puiu
Cristi Puiu beeindruckt mit stechendem Blick. Er kann aber auch lachen…
(Foto: Dunja Bialas)

Cristi Puiu, der große Erneuerer des rumänischen Kinos, über seinen neuen Film Sieranevada, den Tod und den Widder, der in ihm steckt

Das Gespräch führte Dunja Bialas

Bevor ich Cristi Puiu zum Interview treffe, hole ich Erkun­di­gungen ein. Wird sein neuer Film Sier­an­evada einen Verleih bekommen, bei den Rumä­ni­schen Filmtagen in München gezeigt werden? (Nein, wird es nicht, der Welt­ver­trieb sperrt sich genauso dagegen, wie er dagegen war, wie ich später von Puiu erfahre, dass dieser in Cannes seine eigenen Plakate aufhängt.) Ich frage meine befreun­deten Affi­ci­o­nados des rumä­ni­schen Kinos, was ich in ihrem Auftrag Cristi Puiu fragen soll, das Gespräch verläuft dann aber erwar­tungs­gemäß anders, lässt sich von der Stimmung tragen, an diesem Samstag Morgen. Das Gespräch beginnt spät, Cristi Puiu war länger beim Frühs­tü­cken. Am Montag danach noch wirkt die Begegnung mit Puiu nach. Ich sitze auf meinem Cine­ma­scope-Balkon und ärgere mich darüber, dass ich ihn nicht gefragt habe, ob er mit den Szenen, die sich im Auto abspielen, das Kino von Abbas Kiaros­tami vor Augen hatte. Das Gespräch verlegt sich auf die Filme von Kiaros­tami, wir rufen uns sein Kino in Erin­ne­rung. Und dann verglüht in Zeit­lu­pen­tempo eine riesige Stern­schnuppe mit beein­dru­ckendem Schweif am Himmel.

Am nächsten Tag erfahre ich vom Tod Kiaros­t­amis.

artechock: Das rumä­ni­sche Kino ist seit über zehn Jahren eines der span­nendsten Kine­ma­to­gra­phien Europas, Ihr Film Der Tod des Herrn Lazarescu (2005) war der Initi­al­mo­ment für diese Entwick­lung. Sie erzählen in Ihren Filmen viel über Rumänien und die Menschen, die in dem Land leben, auf sehr beiläu­fige Weise. Wie haben Sie Ihren Stil gefunden, der prägend für eine ganze Gene­ra­tion wurde?

Cristi Puiu: Ich habe nicht in Rumänien studiert, sondern in Genf, in der Schweiz. Daher konnte ich eine gewisse Distanz zu meinem Land gewinnen. Als ich wieder nach Rumänien zurückkam, hatte ich nicht vor, Filme über mein Land zu machen, ich wollte Geschichten erzählen, die mir wichtig sind, die ich im Herzen trage. Ich habe 2001 mit Marfa si banii (Koks und Kohle) begonnen, der auf der „Quinzaine des Réali­sa­teurs“ gezeigt wurde, ein Film über den Kompro­miss. Die Figuren hatten zu tun mit Leuten, denen ich in meinem Leben begegnet war, auch mit Teilen von mir selbst. Das kann man nicht vermeiden, man legt immer ein wenig von sich selbst in die Figuren, die man erfindet. Die Figuren gehören der gleichen Welt an wie ich selbst, dem Rumänien von heute. Ich hatte zwar nicht das Ziel, Filme über Rumänien zu machen, aber es drängte sich fast auf, ich konnte es gar nicht vermeiden. Alle Details, die mit der Lebens­weise zu tun haben, den Verhält­nissen und den Zwängen, denen jeder unter­worfen ist, alles das kommt aus dem Rumänien, wie es heute ist. Mit allen Über­bleib­seln der kommu­nis­ti­schen Zeit und den Frus­tra­tionen der entspre­chenden Zirkeln, mit all den Komplexen eines kleines Landes, mit seiner unbe­deu­tenden Kultur. Das ist ein kastrie­render Rahmen! Das hat eine Reaktion provo­ziert. Einer Welt, die zu Mittel­mäßig­keit nahezu verdammt ist: der muss man sich wider­setzen. Nein: Es ist nicht mittel­mäßig, es ist kommt nur aus dieser kastrie­renden Umgebung, die Rumänien ist, die blockiert, verhin­dert und jede Geste aushöhlt, die einen hoch­ziehen könnte. Ich glaube, dass die Rumänen die Begegnung mit ihrer Geschichte verfehlt haben, sie haben ihren Mut verloren zu sagen: Ich sehe die Dinge so, von meinem Fenster aus sehe ich das. In allen kleinen Kulturen gibt es das Bestreben, den anderen zu gefallen. In Rumänien wird man dich immer verbes­sern, wenn du einen Fehler gemacht hast: Das sagt man so nicht! Wenn du Ba-u-de-la-ire sagst, wird dich jeder für einen Idioten halten, wenn die Franzosen »Brancusi« fran­zö­sisch ausspre­chen, bist du selbst der Idiot, weil du den rumä­ni­schen Bildhauer Brâncuși nicht erkannt hast. Den Franzosen ist das egal, die sprechen so aus, wie es ihre Sprache hergibt. In Rumänien ist die Korrekt­heit sehr wichtig, alle bemühen sich, keine Fehler zu machen. Das kommt aus einer Angst heraus, nicht akzep­tiert zu werden. Die rumä­ni­sche Kultur ist voller Minder­wer­tig­keits­kom­plexe, denen permanent Ausdruck verliehen wird. Das alles ist der Hinter­grund für meine Filme.

artechock: In ihnen erfährt man zugleich ein huma­nis­ti­sches Kino, das seine Figuren liebt, und ein Kino der großen Exaktheit. In Sier­an­evada ist die Handlung und die Bewegung der Figuren auf engstem Raum durch­cho­reo­gra­phiert. Auf der anderen Seite spürt man auch eine große Freiheit der Insze­nie­rung. Wie arbeiten Sie, geben Sie Raum für Impro­vi­sa­tion?

Puiu: Nein, es wird nicht impro­vi­siert. Aber ich schreibe die Dialoge oft erst am Tag, an dem die jeweilige Szene gedreht wird und dann proben wir mit den Dialogen und verändern sie. Wir machen Proben, aber keine Impro­vi­sa­tionen. Die Schau­spieler haben aber einen Spielraum, Freiräume, etwas hinzu­zu­fügen oder auch nicht, Wörter, die sie gerne sagen. Das sind kleine Akzente, die sie setzen können. Die Suche nach der Rich­tig­keit der Insze­nie­rung führt über viele Proben, Figu­ren­um­stel­lungen, die Kamera wird woanders posi­tio­niert, die Bewe­gungen anders geführt. Während der Dreh­ar­beiten war es außerdem sehr schwierig, den Ton aufzu­nehmen. Wir mussten einen Kame­ra­winkel finden, der zuließ, den Ton zu angeln, ohne dass die Mikro­phone zu sehen waren, wir drehten mit Direktton, es wurde nichts nach­syn­chro­ni­siert. Daraus entstanden viele Zwänge, unter denen man arbeiten, die man akzep­tieren musste.

artechock: Wie lassen sie das Gefühl der Situa­tionen entstehen? Alles wirkt sehr echt, sehr lebensnah.

Puiu: Man darf nicht so tun „als ob“. Man muss die Schau­spieler die Dinge wirklich tun lassen. Wenn eine Figur tele­fo­niert, muss sie wirklich tele­fo­nieren: am anderen Ende der Leitung muss jemand sein. Es gibt eine ganze Reihe von Hand­lungen, bei denen es wichtig war, dass es genau diese Hand­lungen waren, nicht als Mimesis, nicht nach­ge­ahmt, nicht „als ob“, nicht „paraitre“, sondern „être“ [nicht Schein, sondern Sein]. Ich habe den Ruf, sehr exakt zu arbeiten, die Leute haben Angst vor mir, ich soll streng und uner­bitt­lich sein. Alles soll genau sein. Das stimmt nicht ganz. Die Exaktheit ist nur eine Exaktheit im Geiste, und die Präzision hat zu tun mit meiner persön­li­chen Obsession. Das kommt aus der Tatsache heraus, dass ich wie viele andere das Bedürfnis nach dem Soliden habe. Um sagen zu können: Das ist das. Das ist ein Päckchen Ziga­retten. Das ist diese und jene Sequenz. Wenn ich mich etwas nur annähere, fühle ich mich nicht wohl. Das soll aber nicht heißen, dass Sier­an­evada aber nicht dennoch ein Film über die Annähe­rung ist! Überall ist dort Annähe­rung. An 9/11. An die Fami­li­en­ge­schichte. An den Anzug, der nicht passt, der zu groß ist. An den Zustand der Kroatin: Hat sie Drogen genommen? Ist sie betrunken? Was ist sie? Man bringt Hypo­thesen auf, man hat Meinungen, man macht Annähe­rungen, die Welt betref­fend. Das ist eine Konstante unseres Lebens, nicht nur in Rumänien, überall. Man hat nicht alle Teile dieses unend­li­chen Puzzles in der Hand, das Puzzle unserer Geschichte, unserer persön­li­chen Geschichte, der Welt­ge­schichte. Man fügt Teile hinzu, man erfindet welche, um das Puzzle zu vervolls­tän­digen. Nehmen wir an, man hat drei Puzzle­teile, man versteht die Bedeutung dieser Teile nicht sehr gut. Man versteht die Farben, man sieht die Linien, aber man versteht nicht die Figu­ra­tion. Aber von ihnen ausgehend, kann man sich in eine Richtung bewegen: Ich konstru­iere eine Geschichte, Sie konstru­ieren eine Geschichte, die Geschichten sind nicht deckungs­gleich. Am Anfang aber halten wir alle dieselben Puzzle­teile in der Hand. Genau so ist es in unserem Leben. Wir wissen wenig über unsere Eltern, nicht alles, und ich bin mir auch nicht sicher, dass wir gerne mehr über sie wüssten. All diese Geschichten von Verrat! Familien sind geprägt von Verrat und gegen­sei­tigem sich Betrügen.

artechock: Die Tatsache, dass man nicht alles weiß, nicht wissen kann und viel­leicht auch nicht will, bringt mich zum Blick­winkel, aus dem heraus Sier­an­evada erzählt. Während des Films habe ich mich gefragt: Wer sieht? Man hat sehr subjek­tive Kame­ra­winkel, oft ist die Sicht verstellt, der Blick der Kamera dringt oft nicht in die Zimmer hinein, die Kamera folgt den Figuren dann nicht, bleibt außerhalb der sich abspie­lenden Szenen. Es ist eine Kamera, die selten alles sieht von einer Szene. Wer sieht?

Puiu: In der Geschichte des Kinos wird die Position der Kamera oft vergli­chen mit der Position eines Toten, des unsicht­baren Mannes. Die Schau­spieler sollen in die Richtung Kamera blicken, aber nicht in die Kamera. Die Figuren haben nicht das Recht, die Präsenz eines Beob­ach­tenden preis­zu­geben, der die Geschichte aufzeichnet. Die Kamera ist zwar da, aber man tut so, als würde man ihre Anwe­sen­heit nicht bemerken. Wer ist die Kamera? Das ist der Tote oder der unsicht­bare Mann. In Sier­an­evada, der eine Gedenk­feier erzählt, gibt es einen Toten. Also habe ich mir gesagt: Es gibt die ideale Position der Kamera, die Geschichte wird vom Toten erzählt. Es ist der Blick des Verstor­benen. Ich sagte zu meinem Kame­ra­mann Barbu Balasoiu: Filme so, als würdest du Leute betrachten, die du zurück­ge­lassen hast. Deine Familie. Die Kamera nicht zu verrücken und den Figuren nicht in die Zimmer zu folgen, ist dann auf mich zurück­zu­führen. Der Blick ist mein Blick. Das ist der Blick des Autors und der Blick des Toten. In diesem Fall ist der Autor der Tote, zumindest, was den Film betrifft. Wenn ich, der Autor, der Tote bin, dann muss der Blick verschämt sein, zurück­hal­tend, ein Blick, der nicht eindringt, der sich abseits hält. Umso mehr, als er sich mitten in seiner Familie wieder­findet. Es gibt keinen Grund, neugierig zu sein, er kennt das, hat das schon gesehen. Außerdem ist durch seinen Tod eine Distanz entstanden. Selbst wenn die Kamera näher kommt, gibt es immer eine Distanz, eine endgül­tige Distanz, die der Tod gesetzt hat.

artechock: Sind deshalb Ihre Filme um den Tod zentriert?

Puiu: Ich habe ein Problem damit, mit dem Tod. Vor einigen Jahren bin ich auf einen Tierkreis gestoßen, es war ein Tierkreis der Fehler und Schwächen. Ich bin Widder, und es hieß: Die Widder haben Angst vor dem Tod. Wenn Sie einen Widder rennen sehen, können Sie sicher sein, dass er gerade vor dem Tod davon­läuft. Ich finde das sehr lustig. Aber ja, das kann ich sagen: Der Tod ist das einzige Sujet, das mich inter­es­siert. Nicht die Hand­lungen des Menschen inter­es­sieren mich, der Tod ist der Filter, den ich benutze, um den Wert von etwas zu bemessen. Wenn ich diese Ziga­retten hier nehme, und den Filter des Todes darü­ber­lege, verschwinden die Ziga­retten, denn sie haben keinen Wert. Nur wenige Dinge bleiben übrig. Was bleibt, wenn ich den Filter des Todes darü­ber­lege, ist die Liebe. Es gibt nur dieses Binom: die Liebe, den Tod. Und dann kann ich viel­leicht noch anderes finden.

artechock: Der Tod tritt sehr nahe an die Figuren heran, er kommt in den Schoß der Familie. So wie die Priester einen Haus­be­such machen.

Puiu: Ja, aber der Priester ist nicht der Tod. Der Priester ist so etwas wie ein Botschafter, der Reprä­sen­tant, aber des Lebenden. In der ortho­doxen Tradition muss man den Tisch mit dem Essen weihen lassen, deshalb kommt der Priester ins Haus. Man kann aber auch das Essen zur Kirche oder auf den Friedhof bringen und dort weihen lassen. Als mein Vater 2007 gestorben ist, haben wir die Gedenk­feier zu Hause gemacht. Der Priester ist Reprä­sen­tant der Parochie, er kommt zu den Leuten, weiht das Essen. Manchmal bleibt er zum Essen, oft macht er aber die Runde und geht zu vielen Familien, zu einer Taufe, einer Hochzeit, einer Gedenk­feier und weiht das Essen.

artechock: Der Titel „Sier­an­evada“ hat auf den ersten Blick nichts mit dem Film zu tun. Welche Einla­dungen zur Inter­pre­ta­tion sprechen Sie mit ihm aus?

Puiu: Der Titel beinhaltet selbst eine Annähe­rung. Allein schon der Name bezeichnet zwei Regionen: Es gibt eine Sierra Nevada in Spanien und eine in den USA. Beide aber schreiben sich anders als mein Titel. Mein Titel ist typisch rumänisch: im Rumä­ni­schen schreibt man, was man hört. Man hört kein Doppel-R, man hört keinen Binde­strich, man hört ein Wort: »Sier­an­evada«. Dies, um zu sagen, dass wir von unserer Sprache kondi­tio­niert werden, von unserer Kultur, unserer Indi­vi­dua­lität. Wir sind kondi­tio­niert, die Welt zu lesen, zu deko­dieren, zu verstehen. Es gibt eine Verschie­bung zwischen dem, was man versteht und dem Objekt, das unserem Verstehen unter­worfen ist. Die Geschichten, die wir über uns und unsere Familien erzählen, sind Geschichten, die sich annähern, erfundene Geschichten, Fiktionen. Das gilt auch für die histo­ri­schen Geschichten, über Napoleon, über die Pyramiden, Hitler, Stalin, Mussolini, Obama, Putin. Tutti quanti! Es sind erfundene Geschichten, wir können nicht anders! Wir können dem nicht entkommen.
Puiu nimmt meinen Notiz­zettel und schreibt zwei Namen auf: Alfred Korzybski und Heinz von Förster und notiert dazu: »Youtube, 3 min.«, »Youtube, 4 min.«. Die Recher­chen ergeben: der eine ist allge­meiner Seman­tiker, der anderer radikaler Konstruk­ti­vist, die Youtube-Videos geben Ausdruck eines philo­so­phi­schen Hinter­grunds, den Puiu mit sich trägt.

artechock: Es gibt einen bemer­kens­werten Humor in ihren Filmen…

Puiu: Ja, das finde ich auch!

artechock: Darin vermi­schen Sie die poli­ti­schen Geschichten, die Fami­li­en­ge­schichten, der Akzent liegt auf den Niede­rungen. Da ist auch die Figur von Toni, den man sehr mag.

Puiu: Er ist tot. Er ist im Dezember gestorben. Die Dreh­ar­beiten waren im März vorbei, neun Monate später ist er gestorben. Ja, es stimmt, er [Sorin Medeleni] ist gut. Man kann seiner Figur nicht böse sein. Er erzeugt Mitleid. Aber alle tun einem irgend­wann leid. Du hast das gemacht, du hast dies gemacht… Aber stimmt das denn? Ja, teilweise ist das wohl wahr, aber nicht alles. Der Vater schlief mit vielen Frauen, und die Mutter versteckte das. Sie deckte ihn. Sie ist also auch nicht sehr unschuldig. Das sind die Dinge, die man im Film erfährt. Aber was man alles nicht erfährt, weil sie es nicht sagen, in der Erwartung, dass sie alles sagen, was es zu sagen gibt! Es ist nur die Spitze des Eisbergs. Was ist darunter? Wir wollen es nicht wissen. Und so ist es in allen Familien, dem kann man nicht entkommen. Es gibt aber immer Momente von Frieden und Liebe. Man kann in einem Leben leben, das ist eines der wich­tigsten Dinge. Der Rest ist ein unend­li­ches Labyrinth aus Geheim­nissen und Lügen. Von Zeit zu Zeit begegnen wir dem anderen, und Dinge passieren, in einem kurzen Augen­blick. Der nicht anhält, der flüchtig ist. [klatscht in die Hände und lässt einen imaginären Augen­blick davon­fliegen] Nicht wahr?