24.11.2016

Das Sonnen­ge­flecht Europas

Ik ben Alice
Einer der rasantesten Filme des Jahres: 11 Minutes des polnischen Regiemeisters Jerzy Skolimowski

Das 1. Mittel Punkt Europa Festival zeigt aktuelle Filme aus den Visegrad-Ländern

Von Dunja Bialas

Die Mitte: Das ist ein wunder­barer Film des Polen Stanislaw Mucha, der sich 2004 mit seinem Team auf die Suche nach der geogra­phi­schen Mitte Europas macht. Ein Dutzend Orte im Umkreis von 2000 Kilo­me­tern, zwischen Teuto­burger Wald und der Ukraine, erheben den Anspruch, eine heitere Bestands­auf­nahme eines Phänomens voller Wider­sprüche.

Die Mitte Europas in den Blick nimmt auch das neue Münchner Festival »Mittel Punkt Europa«, die weg wollen von der im allge­meinen auf West­eu­ropa gerich­teten Zentral­per­spek­tive und all die Länder in den Fokus rücken, die Europas Sonnen­ge­flecht bilden: Polen, Tsche­chien, Ungarn und die Slowakei. Ein gren­züber­schrei­tendes und das Blickfeld erwei­terndes Unter­fangen, das das seit ein paar Jahren in München exis­tie­rende polnische Film­fes­tival Cinepol ergänzt.

Dabei geht es stets auch um den Dialog, um das Über- oder Trans­na­tio­nale, was sehr wohltuend anmutet, ange­sichts des beun­ru­hi­genden Rechts­rucks, der in Ländern wie Polen und Ungarn passiert. Die ausge­wählten Filme geben Auskunft über Menta­litäten, nehmen die eigene Natio­na­li­den­tität aufs Korn oder zeigen schwie­rige Wege bei der Iden­ti­täts­fin­dung, was in den nur partiell offenen Gesell­schaften der Länder auch proble­ma­tisch werden kann. Eine Diskus­sion über die Sicht­bar­keit osteu­ropäi­scher Filme in den deutschen Kinos greift ein drin­gendes Thema auf, das weit­rei­chender ist als bloße Cine­philie. Denn wenn wir von den Kulturen im Osten nur noch die Nach­richten mitbe­kommen, vergessen wir die Menschen mit ihren Problemen, ihrem Humor, ihrem Charisma. Abseits vom Festival Cottbus, dem Neiße-Festival im Dreilän­dereck Tsche­chien-Polen-Deutsch­land und dem vom Deutschen Film­in­stitut etablierten goEast-Festival im west­li­chen Wiesbaden gibt es in Deutsch­land kaum Gele­gen­heit einen umfas­senden Einblick in das osteu­ropäi­sche Film­schaffen zu erhalten. Warum das so ist, darüber machen sich am Sonntag die unga­ri­sche Regis­seurin Krisztina Goda, der tsche­chi­sche Film­kritker Radovan Holub und Volker Petzold vom Cott­busser Film­fes­tival Gedanken (27.11., 16:30 Uhr).

Tipps der artechock-Redaktion:

The Snake Brothers (25.11., 19:00 Uhr). Der Publi­kums­lieb­ling und zum Besten Film des Jahres 2015 gekürte Beitrag des Tschechen Jan Prusi­novksy erzählt heiter-lakonisch von dem Bruder­paar Viper und Cobra. Der eine ist sozial benach­tei­ligt (ohne Job und Freundin), der andere ein Junkie, der sein Leben nicht in den Griff bekommt. Zu sehen ist die Gene­ra­tion der upcoming Stars, die mit viel Wucht und ohne Depres­sion die gran­diosen trouble maker abgeben.

All These Sleepless Nights (25.11., 21:00 Uhr). Insze­nierter Doku­men­tar­film über zwei Kunst­stu­denten, die nachts um die Häuser Warschaus ziehen. Eine Ode an die Stadt an der Weichsel und an das Leben der Schlaf­losen. Der Film des jungen Michel Marczak gewann den Preis für die Beste Doku­men­ta­tion in Sundance und war Publi­kums­lieb­ling in Breslau.

Home Guards (26.11., 21:00 Uhr, die Regis­seurin ist zu Gast). Zwei Brüder, diesmal in Ungarn, die wie im tsche­chi­schen Zwil­lings­film The Snake Brothers ohne Perspek­tive sind. Sie schließen sich einer para­mi­litä­ri­schen Orga­ni­sa­tion an, die erschre­ckend deutlich macht, wie Mani­pu­la­tion funk­tio­niert. Ein hoch­ak­tuell und brisanter Thriller von Krisztina Goda.

11 Minutes (27.11., 19:00 Uhr). Der atem­be­rau­bendste und aufre­gendste Film des Jahres über die schick­sal­haf­testen elf Minuten aller Zeiten. Der polnische Regie­meister Jerzy Skoli­mowski erzählt aus verschie­denen Perspek­tiven, wie es zu einem fatalen Ereignis kommen konnte – das sich innerhalb von elf Minuten entwi­ckelt, tragisch und unaus­weich­lich wie dieser Film. Jerzy Skoli­mowski erhielt dieses Jahr bei den Film­fest­spielen von Venedig den Goldenen Löwen für sein Lebens­werk. Wir hoffen auf eine baldige Retro­spek­tive im Münchner Film­mu­seum.

It’s Not the Time of My Life (29.11. 19:00 Uhr). Beim Festival Karlovy Vary werden jedes Jahr die Kandi­daten für den europäi­schen LUX verkündet, und es ist unbe­streitbar eines der wich­tigsten, weil weichen­stel­lenden Film­fes­ti­vals Europas. Der Film des Ungarn Szabolcs Hajdu war 2016 der Sieger­film und stellt die aktuelle Frage, wie es weiter­gehen kann, wenn es mit der Auswan­de­rung nicht geklappt hat. Ein Kammer­spiel, in dem sich eine Familie verbal zerfleischt. Eindring­lich und mit großer Kunst gedreht.

Mittel Punkt Europa Filmfest – aktuelle Filme aus den Visegrad-Ländern Polen, Tesche­chien, Ungarn, Slowakei. 23.-29.11.2016, Monopol Kino München. Mehr Infor­ma­tionen unter www.mittel­punk­t­eu­ropa.eu
Eine Veran­stal­tung von Ahoj Nachbarn, der Münchener Volks­hoch­schule und dem Tsche­chi­schen Zentrum. Gefördert von Visegrad Fund un dem Kultur­re­ferat der LH München.