04.02.2010

Was man früher einmal Seele nannte…

Schwerkraft
Schummel nicht: Fabian Hinrichs & Nora von Waldstätten in Schwerkraft

Ganz ohne Softskills geht nicht: Abgründe eines Kreditberaters, und neue Sehnsucht nach dem Osten – das junge deutsche Kino beim Festival Max-Ophüls-Preis

Von Rüdiger Suchsland

Die wunder­bare Nora von Wald­stätten, keine Entde­ckung mehr, aber doch immer noch ein neues Gesicht auf deutschen Lein­wänden und ganz im Zentrum des dies­jäh­rigen Film­fes­tival Max Ophüls Preis in Saar­brü­cken, ist glück­li­cher­weise mit Sinn für Ironie gesegnet. Manche Schau­spie­le­rinnen hätten Depres­sionen bekommen, nach dem, was ihr passiert ist. Denn beide Saar­brü­cken-Berichte der beiden wich­tigsten deutschen Tages­zei­tungen aus Frankfurt und München waren mit einem Foto illus­triert, dass die Trägerin des dies­jäh­rigen Schau­spie­le­rin­nen­preise, eben besagte Nora von Wald­stätten (s.u.) laut jewei­liger Bild­un­ter­schrift hätte zeigen sollen. Tat es aber nicht. Statt­dessen druckte man dasselbe Bild von Jule Böwe, was auch für Böwe nicht wirklich ein Kompli­ment ist. Davon abgesehen hat Fräulein von Wald­stetten schwarze Haare, nicht blonde, und ist auch sonst von Jule Böwe durchaus zu unter­scheiden. Insofern müsste man schon an ein Komplott glauben, oder an die Vorliebe von Bild­re­dak­teuren für blonde Frauen, oder doch einen Zusam­men­hang damit vermuten, dass die zustän­dige PR-Agentur bis vor wenigen Wochen noch Blond PR geheißen hatte.

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»Blau ist eine ganz kalte Farbe« insis­tiert der Architekt, und hätten sie das früher gewusst in Hoffen­heim, hätten sie sich viel­leicht auch das mit den Club­farben noch einmal überlegt. So wie alles andere. Um noch besser »die Herzen zu akqui­rieren«, um noch perfekter »an der Iden­ti­fi­ka­tion zu arbeiten.« Nein, Jochen A. Rotthaus, von dem diese Formu­lie­rungen stammen, ist kein unsym­pa­thi­scher Mann. Er ist ein Wahn­sin­niger, produktiv besessen, so wie man das sein muss, wenn man Erfolg haben will im Fußball­ge­schäft. Rotthaus, Geschäfts­führer des Provinz­clubs TSG Hoffen­heim, der seit 2008 als neurei­cher Empor­kömm­ling in der Fußball­bun­des­liga für Furore und eben­so­viel Stirn­run­zeln sorgt, ist der heimliche Haupt­dar­steller von Hoffen­heim – Das Leben ist kein Heimspiel, der jetzt auf dem Film­fes­tival Max Ophüls Preis in Saar­brü­cken Premiere hatte. Über vier Jahre haben Frank Marten Pfeiffer und Rouven Rech den Verein in ihrem Doku­men­tar­film begleitet, und wenn man Rotthaus und der TSG eines hoch anrechnen muss, dann, dass sie diesen Film überhaupt zuge­lassen und später auch keine klein­li­chen Kürzungen erzwungen haben. Denn nicht immer kommen sie hier gut weg. Rech und Pfeiffer zeigen, wie aus einem verschla­fenen Provinz­club ein Fußball­kon­zern gebastelt wird, wie PR-Denken und Werber­sprache den Fußball kapern und Tradi­ti­ons­ver­eine durch Retor­ten­clubs ersetzt werden. Denn das ist, dies belegt der Film eindrucks­voll, die TSG Hoffen­heim im Kern, seit sie der Milli­ardär Dietmar Hopp über­nommen und großzügig ausge­stattet hat. Im Zentrum des Films steht einer­seits die Saison 2007/2008, als der Aufsteiger aus der Regio­nal­liga sich mit einem Etat, der höher lag, als der aller anderen Zweit­li­gisten zusammen, den Bundes­li­ga­auf­stieg de facto gekauft hat, als parallel dazu ein inter­na­tio­nalen Standards genü­gendes Stadion aus dem Kraich­gauer Acker gestampft wurde und Rotthaus den Club per umfas­sender Image­kam­pagne neu erfand: Es geht nur noch um den »Marken­auf­tritt«, darum, rebel­lie­rende Altfans ruhig­zu­stellen, und das Stadion voll zu bekommen. »Früher waren es Fans und Spiele, heute sind es Kunden und Produkte.« resümiert ein lang­jäh­riger Fan, und es wird klar, dass die Geschichte von Hoffen­heim – Das Leben ist kein Heimspiel vor allem ein großar­tiges Lehrstück des Neoli­be­ra­lismus ist, eine hoch­po­li­ti­sche Parabel über die New Economy und die Verluste, die mit ihr einher­gehen und ein Fall­bei­spiel darüber, wie Marketing und Effi­zi­enz­denken alle anderen Lebens­be­reiche über­nehmen. Bleibt noch die Frage, ob ein solches Modell nicht auch in der Politik funk­tio­nieren könnte und was das dann wohl erst für Folgen hat?

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Die Folgen des Ökono­mismus für jene »Softs­kills«, die man früher einmal Seele nannte, sind ein zentrales Motiv auch von Schwer­kraft vom Berliner dffb-Absolvent Maxi­mi­lian Erlenwein, der völlig verdient den Max-Ophüls-Preis 2010 bekam und mit drei weiteren Preisen, darunter der ebenfalls hoch dotierten Auszeich­nung fürs beste Drehbuch, zum über­ra­genden Sieger wurde: ein beklem­mend inten­siver Fabian Hinrichs spielt Frederick, einen Bank­an­ge­stellten mit dunklen Seiten: Er lebt das graue Leben eines Anzug­s­trä­gers, der als Kredit­be­rater an anonymen Schreib­ti­schen faule Kredite verkauft, und abends in der leeren Wohnung zunehmend an sich verzwei­felt, und sich nach dem Ausbruch aus seinem tristen Alltag sehnt. »Normal sein, das ist für Arschlöcher.« sagt er irgend­wann. Als sich auch noch ein bank­rotter Kunde vor seinen Augen tötet, wahrt Frederick die Form, kündigt aber innerlich, und beginnt, gemeinsam mit einem Bekannten von früher – Jürgen Vogel als Ex-Knacki, der gern Spießer wäre – nachts die Nobel-Villen seiner reichen Kunden auszu­rauben. Hinrichs Auftritt als Border­line-Person ist großartig, und der Schau­spiel­preis die über­fäl­lige Aner­ken­nung für einen der inten­sivsten Darsteller seiner Gene­ra­tion; die fabel­hafte Nora von Wald­stätten (Beste Nach­wuchs­dar­stel­lerin) ist als Frede­ricks Exfreundin, nach der er sich weiterhin verzehrt, kaum weniger bezwin­gend. Die größte Entde­ckung aber ist der Regisseur selbst: Freude am Krimi-Genre und Motive des Auto­ren­films mischt er einfalls­reich und stil­si­cher mit lakonisch-absurdem Humor der an Tarantino erinnert, zu einer anar­chisch-subver­siven Komödie, die die Zuschauer die Sehnsucht nach dem inten­siven Leben jederzeit ernst nehmen und nach­emp­finden lässt. Lange nicht ist man einer Figur bereit­wil­liger auf die schiefe Bahn gefolgt.
Erlen­weins in Leipzig und Halle gedrehter Film, den die Jury mit den Coen-Brüdern verglich, besticht mit vielen atmo­s­phä­risch stimmigen Bildern, und bis in kleine Rollen tolle Neben­dar­steller: Jule Böwe, Thorsten Merten. Immer wieder wird der Zuschauer über­rascht – SCHWERKRAFT beweist, dass Anspruch und Spaß kein Wider­spruch sind, sondern Hand in Hand gehen. Und spätes­tens, wenn man im Schluss­bild ins Gesicht von Nora von Wald­stätten sieht, weiß man in diesem wohltuend amora­li­schen Film, dass sich Verbre­chen unter Umständen doch auszahlen.

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Schwer­kraft verband die beiden Tendenzen, die sich in Saar­brü­cken beob­achten ließen: Die Rückkehr des Genre­films ins Auto­ren­kino, und eine neue Neugier auf den Osten. Zum einen auf den Deutsch­lands, wie etwa in zwei hoch­in­ter­es­santen Kurz­filmen der Bauhaus-Univer­sität in Weimar: Im Herbst kein Lied von Karsten Prühl knüpft nahtlos an das Portrait jener auto­ritären, latent faschis­ti­schen Dorf­ge­mein­schaft an, die Michael Hanekes Das weiße Band ins Auge fasst: Im Deutsch­land des Jahres 1944 begegnet man einer Familie, in der der Vater ein hartes Regiment führt. Eines Tages beob­achten seine beiden Söhne heimlich, wie er im Wald einen notge­lan­deten US-Piloten erschießt. Diese Tat, wird zum Schlüs­sel­er­lebnis dafür dass die Söhne ihre Achtung vor dem Vater verlieren – ein bitterer Abschied von den Eltern. Auch Die Unbe­dingten von Andreas Jaschke ist ein histo­ri­scher Film: Die Rekon­struk­tion der Geschichte der beiden Philo­so­phie­stu­denten, die sich 1819 einem Geheim­bund anschlossen und zum Mörder des Dichters von Kotzebue wurden: Deutsche Gesin­nungs­helden und Terro­risten avant la lettre – ein span­nender, schwie­riger Stoff, den Jaschke intel­li­gent umsetzte.

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Ganz rau sehen die Straßen am Prenz­lauer Berg aus, rund um Wasser­turm und Koll­witz­platz. Es gibt keine Münchner Sonnen­bril­len­träger, keine Kinder­wägen und keine Bionade. Die Leute trinken Wodka und Bier, im Park sitzen alte Männer mit langen Bärten und die bunten Werbe­banner mit den Wessi-Labels wirken auf den Haus­fas­saden, die man erst in zehn Jahren verputzen wird, noch wie Fremd­körper: Berlin, im Jahr III nach der Wende – eine verlorene Zeit, an die die Erin­ne­rung zu verblassen beginnt. Wer Abschied von Agnes sah, der seiner­zeit auf der Berlinale lief, dem wurde sie wieder ganz präsent, und mit ihm der Verlust jener Momente, in denen Berlin noch die Chiffre war für eine herrliche Utopie. Der Film lief in der Retro­spek­tive für Michael Gwisdek. Gwisdek spielt die Haupt­rolle, führte aber auch Regie in diesem span­nenden Stasi-Traum­spiel, das ungemein viel erzählt über jene Zeit und ihre Paranoia, die im Film durch Radio­nach­richten immer am Rande präsent ist. Im Publi­kums­ge­spräch plauderte Gwisdek dann über seine Erfah­rungen mit der Stasi, erzählte von einem erpres­se­ri­schen Anwer­be­ver­such des BND – »Die hatten doch auch ihre Leute. Man müsste mal die BND-Akten öffnen.« – und nutzte die Gele­gen­heit, dem Saar­brü­cker Publikum noch einmal zu erklären, dass »der Film Das Leben der Anderen nicht das Geringste mit der DDR zu tun hat. Wenn Angela Merkel, die es besser wissen müsste, dann behauptet: Die DDR war so, dann ist das kriminell.«

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Den Doku­men­tar­film-Preis gewann aber Silvana Santa­ma­rias offen­kun­diger enga­gierter Nirgendwo. Kosovo, der eine Roma-Familie portrai­tiert, die zwischen Abschie­bung in Deutsch­land und Verfol­gung in ihrer Kosovo-alba­ni­schen Herkunft ihr Leben fristet. Vater Haki lebt quasi auf einer Müll­de­ponie. In Heimat auf Zeit portrai­tiert Peter Benedix den Kampf der Bewohner dreier Dörfer in der Lausitz gegen die Vertrei­bung durch den Braun­koh­le­ta­ge­abbau – ein Kampf von Bürger-Davids gegen einen Groß­kon­zern-Goliath mit voraus­seh­barem Ergebnis. Und ein verquerer, moderner Heimast­film, der immer wieder eine seltsame Poesie entfaltet. Auch in anderen Filmen des Doku­men­tar­film-Wett­be­werbs fand man unge­wöhn­liche Themen und Zugänge, ein Mut zum Radikalen und Sperrigen, der auch der Spiel­film­kon­kur­renz gut tun würde. Denn Festivals sind dafür da, zu irri­tieren, Diskus­si­ons­stoff zu liefern – erst recht wo es um Nachwuchs geht, von dem man die letzte Perfek­tion sowieso nicht verlangen wird.

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Der übrige Wett­be­werb war diesmal solide und ohne große Schwach­punkte, es fehlten aber die wirklich radikalen und kontro­versen Stoffe, wie man sie zumindest von der Mischung aus Hochschul-Nachwuchs, Debü­tanten und jungen Filme­ma­chern erwarten muss, wie sie sich in Saar­brü­cken alljähr­lich zum Auftakt des Film­jahres versam­melt. Gemeinsam mit den Hofer Filmtagen im Herbst ist Saar­brü­cken das wich­tigste Festival für Newcomer und etablierten Nachwuchs, für junges Inde­pen­dent­kino deutscher Sprache – wobei auch das unab­hän­gigste Kino bei uns nicht ohne Fern­seh­gelder gemacht werden kann. Im Gegensatz zur Berlinale gehen hier die Filme­ma­cher und ihre Werke keines­falls unter – das Publikum in den gut besuchten Festi­val­kinos ist zahlreich und applaus­feudig.

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Nur ein Werk stand dem entgegen: Philip Kochs Picco (Regie­preis), ein scho­ckie­rendes, so knall­hartes wie erschüt­terndes Knast­drama. Koch rekon­stru­ierte jenen Folter­mord, der sich 2006 in einer Gefäng­nis­zelle in Siegburg ereignete, in Spielfilm-Form. Die drama­tur­gi­sche Über­höhung funk­tio­nierte nur zum Teil, zumal die Dialoge sehr »geschrieben« klangen, vor allem aber, weil deutsche Schau­spieler, wenn sie in fein säuber­lich verschmutzten Räumen kaputte Proleten spielen, am Ende eben doch immer vor allem deutsche Schau­spieler bleiben – mögen sie wie in diesem Fall auch noch so begabt sein. Zumal man immer den Verdacht hat, würden die tatsäch­li­chen Akteure dieser »wahren Geschichte« im Raum stehen, wären sie noch um einiges uner­träg­li­cher. Doch Picco war ein inten­sives, produktiv unan­ge­nehmes Kammer­spiel, das einen auch nach Tagen nicht losließ – und dies nicht allein aus sozi­al­päd­ago­gi­scher Beun­ru­hi­gung.

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Auch Andreas Arnstedts Tragi­komödie Die Entbehr­li­chen – Verleih­för­der­preis –, ließe sich unter »Sozi­al­drama« subsum­mieren, hätte der Regisseur seinen Film nicht geschickt ins Traum­hafte überhöht. Auch gelingt es Arnstedt, in seinem depri­mie­renden Plot – ein Zwölf­jäh­riger lebt tagelang mit dem toten Vater allein in der Wohnung und erinnert sich an sein Leben als Alko­ho­li­ker­kind – komische Seiten zu finden. Mit André Hennecke hat der Film zudem einen Haupt­dar­steller, dem man stun­den­lang zusehen mag – selbst da, wo er mal chargiert. Am Rande des Festivals erklärte Hennecke seinen Austritt aus der Deutschen Film­aka­demie, weil der Low-Budget-Film im Voraus­wahl­ver­fahren für den Deutschen Filmpreis verfah­rens­widrig benach­tei­ligt worden war. Wie der Regisseur am Rande des Festivals erzählte, war der Film der Voraus­wahl­jury gegen den Willen einiger Mitglieder nur 20 Minuten lang gezeigt worden – auf internen Protest wurde nicht reagiert.

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Gleich­falls mit verhält­nis­mäßig wenig Geld, aber ungleich aufwen­diger insze­niert wurde Waffen­still­stand von Lancelot von Naso, der vor allem inter­es­sant ist, weil er etwas versucht, was man im deutschen Kino sonst kaum sieht: Ein Genres­tück aus einem aktuellen Kriegs­schau­platz. Wie in Fords Western Stage­coach setzt der Film ein paar ungleiche Typen – ein deutsches Kame­ra­team und zwei Ärzte plus Fahrer – in einen Jeep, und lässt sie durch die Linien des Irak­kriegs nach Fallud­scha fahren. Während die Dialoge zu geschwätzig sind, zu oft an ein TV-Drama erinnern, und man auf die eine oder andere Wendung gern verzichtet hätte, besticht der gut erzählte Waffen­still­stand mit eindring­li­chen Bildern, die auf die große Leinwand gehören, und immer wieder irri­tie­renden Momenten. Ein span­nender Einblick in moderne Kriege, fast ohne Betrof­fen­heits­kitsch.
Wie bei Naso konnte man in vielen Saar­brü­cker Filmen eine neue Lust am Genre, am Spiel mit Formeln und Motiven entwi­ckeln. Blau mag eine kalte Farbe sein. Aber sie ist auch die Farbe der Sehnsucht nach einem anderen Kino, wie sie in vielen Filmen zum Ausdruck kommt.