05.08.2021
Cinema Moralia – Folge 252

Das Muster der Tapete überwäl­tigt die Gefühle

Fortsetzung
Gehört, gelesen, zitiert: im »Filmdienst« ein Gespräch zu Kinobauten
(Foto: © Beat Presser / Filmdienst)

Komplexe Vorgänge und skandalöse Kulturbegriffe – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 252. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Merken Sie sich folgendes: Meldungen, deren Unwahr­heit nicht oder erst nach Wochen fest­ge­stellt werden kann, sind wahr.«
Erich Kästner, »Fabian«

»Es beginnt sich womöglich auch in Deutsch-Fern­seh­land die Erkenntnis durch­zu­setzen, dass die epische (und auch komplexe) Erzähl­weise, die die Produk­tionen des Seri­en­wun­ders sich heraus­nehmen, die womöglich einzige Abwehr­chance gegen das Abwandern eines großen Publi­kums­teils zu Spezi­al­an­bie­tern darstellt. Und Potential dafür hat lager­feu­er­bil­dend zu sein.
Dass sie nebenbei auch Medi­en­kom­pe­tenz bzw. poli­ti­sche Bildung vermit­teln können und somit einen zutiefst öffent­lich-recht­li­chen Auftrag erfüllen, kommt als icing on the cake dazu.«
Martin Blumenau

Ich hätte ihn gern gekannt. Viel­leicht hätten wir uns blöd gefunden. Aber es wäre den Versuch wert gewesen. Und selbst wenn, wäre es eine gegen­sei­tige Berei­che­rung gewesen.

Der öster­rei­chi­sche Jour­na­list und Hörfunk­mo­de­rator Martin Blumenau ist gestorben. Eher durch Zufall lese ich einen Nachruf, dann noch einen, dann Wikipedia, dann seine Texte und so schält sich allmäh­lich das Bild eines Menschen und Autors aus alldem hervor: »Und man gab ihm doch recht. Leiden­schaft regiert, okay. Und wenn er Unsinn sagte, etwa dass Bob Dylans Feuer längst erloschen sei, verzieh man ihm, weil er es so feurig sagte. Oder weil er so frech grinste dabei.« Der Mann schrieb ausge­zeichnet, über Fußball, über Bücher, Musik und Filme, und vor allem über Medien. Also über seines­glei­chen, den Wandel des Jour­na­lismus, der auch ihm wie ein Verfall vorkam. Blumenau stritt sich, kriti­sierte Kollegen, kannte weder Angst noch Empfind­lich­keiten. Davon könnten viele deutsche Kollegen lernen.

In einem Blog­bei­trag, der »Das Ende des Sport­jour­na­lismus. Das Ende des Jour­na­lismus?« betitelt ist, macht er 2011 zum Beispiel klar, dass die Abschaf­fung der Sport­re­dak­tion in der »Presse« nur ein Vorbote eines allge­meinen Outsour­cing, Copy-Paste-Berichten und sonstigem Post-Jour­na­lismus unter »Produkt­un­ter­s­tüt­zungs-« und PR-Kuratel darstellt.

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An der Berliner »Akademie der Künste« führte ich am Dienstag ein öffent­li­ches Gespräch mit Bettina Böhler und Edgar Reitz über »Film als Erin­ne­rungs­ar­beit«; also über Erin­ne­rung als philo­so­phi­schen Begriff verstanden – und deren Facetten nicht zuletzt im Film.
Ein über­ra­schend anre­gender Abend.
Wie wird der Begriff der Erin­ne­rungs­ar­beit definiert? Edgar Reitz erklärte in der Ausstel­lung »Wenn wir Film montieren, leisten wir Erin­ne­rungs­ar­beit« und schlug damit implizit die Brücke zu seiner Gesprächs­part­nerin.

Erin­ne­rung im Film ist ein komplexer Vorgang. Denn jeder Film existiert nur in der Gegenwart. Wir sehen niemals ein zweites Mal den gleichen Film.
Zudem führt die Objek­ti­vität des Kame­ra­ob­jek­tivs dazu, eine Art gestei­gerte, objek­ti­vierte Erin­ne­rung zu erzeugen. Wenn wir uns an einem Raum aus unserer Kindheit erinnern, dann sehen wir kaum Details, aber wir fühlen die Atmo­sphäre und unsere seiner­zei­tige Stimmung. Wenn dieser Raum aber auf einem Film fest­ge­halten ist, dann erkennen wir vieles, was wir längst vergessen haben. Das Muster der Tapete über­wäl­tigt das Muster der Emotionen, die Dinge regieren über die Gefühle.

Welches Gedächtnis meinen wir überhaupt, wenn wir von Erin­ne­rung sprechen? Meinen wir das kollek­tive Gedächtnis oder das indi­vi­du­elle? Oder wie verschränken die beiden sich mitein­ander?

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Im Film­dienst führte Lars Henrik Gass mit dem FAZ-Kritiker und Roman-Autor Niklas Maak ein überaus lesens­wertes Gespräch über die Zukunft von Kultur­bauten und des Kinos.
»Natürlich gibt es eine kritische Geschichte des Theaters und des Museums«, erklärt Maak dort, »aber letzten Endes wurde die Form des Kultur­tem­pels immer wieder aus dem Tempel heraus in Frage gestellt, durch neue Formen von Kunst, etwa jener Art, die als Land Art tatsäch­lich das ganze Land mitein­be­griff – oder als Perfor­mance Art extrem auch den städ­ti­schen Raum. Aber der Ort, an dem das verhan­delt wird, ist immer das Museum geblieben. (...) Auch dadurch, dass nur bestimmte Leute Kuratoren werden, dass nur bestimmte Leute die Defi­ni­tion, was Kultur ist, in der Hand haben, bleiben wir – bei allem kriti­schen Anspruch – immer noch im White Cube stecken. Und der White Cube ist ja auch ein sozioö­ko­no­mi­scher ›White‹ Cube. Wenn wir schauen, aus welchen sozialen Milieus eigent­lich Kura­to­rinnen und Kuratoren stammen – wer kann es sich überhaupt leisten, Kurator zu werden? – dann erkennt man, dass große Bevöl­ke­rungs­schichten gar nicht in der Lage sind, diese kultu­relle Sphäre zu betreten, weil es ökono­misch unmöglich ist. ... Deswegen haben wir heute bei allen Kriti­k­ali­täts­gir­landen, die der Kultur­be­trieb rituell aufhängt, letzten Endes trotz aller Ausnahmen insgesamt ein sehr homogenes, immer noch sehr weißes, immer noch einer bestimmten oberen Mittel­klasse entstam­mendes Milieu, aus dem sich die Entscheider rekru­tieren.«

Diese Über­le­gungen münden in eine Vertei­di­gung analoger Orte: »Ich glaube, dass die Behaup­tung, dass wir Kultur bald nur noch über digitale Endgeräte wahr­nehmen, von Inter­es­sen­gruppen in die Welt gesetzt wurde. Wenn ich einen Digi­tal­kon­zern leite oder ein Start-Up für eine Theater-App, dann würde ich auch behaupten, dass keiner mehr ins Theater geht. Auch während der Corona-Zeit hat sich ja ein enormes Bedürfnis gezeigt, ins Museum oder ins Theater zu gehen und damit in einen physi­schen Erfah­rungs­raum einzu­treten. Ich glaube, dass es dumm ist, das Digitale und die physische Erfahrung gegen­ein­ander auszu­spielen. Es wird bestimmt kultu­relle Angebote geben, die sich dezentral verteilen. Es wird Möglich­keiten geben, morgens um elf ein Thea­ter­s­tück zu sehen. Man muss das nicht gegen den physi­schen Erfah­rungs­raum der Kultur in der Stadt ausspielen...«

Ande­rer­seits sehe man »gerade in Berlin, wo das gesamte Geld wie mit einem Staub­sauger auf die Muse­ums­insel und ans Kultur­forum abgezogen wird; man baut dort im Prinzip Cluster, die eigent­lich an ein feudales Konzept erinnern. Man will einen Louvre haben, einen Bilbao-Effekt, man schmeißt alles an einen Ort und blutet dafür – in Berlin ist das deutlich zu sehen – alle dezen­tralen Orte aus. Ich finde, das ist ein skan­dalöser Kultur­be­griff, weil er eigent­lich davon ausgeht, dass Kultur ein Renom­mieren an einem zentralen Ort bedeutet, während das Durch­dringen des Alltags mit Werken der Kultur gar nicht mehr möglich ist, da man ja alles auf eine Stelle konzen­triert.«

Und weiter: »Eine Stadt­ge­sell­schaft war immer ein Raum, der Freiheit, Selbst­ver­ant­wor­tung, Abenteuer und Expe­ri­mente ermög­lichte; die Voraus­set­zung dafür ist infor­ma­tio­nelle Selbst­be­stim­mung. Das ist auch eine Basis für elemen­tare Kultur­pro­duk­tion. Man bräuchte, wenn man über Kultur­bauten nachdenkt, also nicht nur Theater, Museen oder Kinos, sondern auch ein Centre Pompidou für das digitale Zeitalter.
Das sind enorme Werte, die wir mit diesen Daten als Gesell­schaft gene­rieren, wenn wir sie nicht frei­willig weggeben; mit denen könnten wir kultu­relle Expe­ri­mente finan­zieren und uns eine gerech­tere Bildungs­ver­tei­lung leisten.«

Dann reden beide auch konkret über das Kino. Aber das sollte man hier nachlesen.

(to be continued)