23.09.2020
68. Festival de Cine de San Sebastián 2020

Apoka­lyp­ti­sche Träume

Courtroom 3 H
Hier passiert Unrecht: Antonio Mendez Esparzas Courtroom 3 H
(Foto: Press Service SSIFF 2020)

Die wahren Abenteuer sind im Kopf – Notizen aus San Sebastián, Folge 2

Von Rüdiger Suchsland

»You can’t judge an artist by bourgeois standards.«
Aus: Rifkin’s Festival von Woody Allen

Dies ist ein Film­fes­tival, wie man es sich träumt: Jean-Luc Godard bekommt den »lifetime achie­ve­ment award«. Dazu läuft dann Außer Atem, »À bout de souffle«, und im Publikum sitzen unter anderem der Festival-Direktor und seine Assis­tentin. Die Filme hier heißen »The perfect Mind« oder »Woman dress«, oder »Apoca­lyptic Dreams«. Letzterer stammt von Phillippe, dem fran­zö­si­schen Autoren­filmer, der von Louis Garrel gespielt wird, dessen Vater tatsäch­lich Phillippe mit Vornamen heißt und ein fran­zö­si­scher Autoren­filmer ist.

Das alles ist aber selber nur ein Traum. Geträumt hat ihn Woody Allen, der in seinem Film Rifkin’s Festival das reale Film­fes­tival von San Sebastián mit einem ausge­dachten vermischt. Diese Vermi­schung von Realität und Fiktion, vom Künstler Woody Allen und der Haupt­figur ist das Prinzip von Allens Film.

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Er macht Witze über die Presse, eine Schau­spie­lerin wird gefragt: »Were all of your orgasms special effects?«, Allens Held und Alter Ego kommen­tiert Phil­lippes neueste Pläne: »Einen Film über Frieden in Israel – es ist schön, wenn jemand einen Science-Fiction-Film dreht.« und über Jesus heißt es später: »Jesus ist ein regular guy. Er hätte am Labour Day wieder aufer­stehen sollen.«
Oder über Phillippe: »He just won an award in Cologne, Germany today.« – »Oh nice – wasn’t Eichmann from there?«
Es sind diese nicht schlechten, aber doch etwas abge­stan­denen Witze, die den Film kenn­zeichnen. Erwach­sene Witze, ein leichter durchaus melan­cho­lisch einge­färbter Humor. Teilweise ein Humor für Kenner und Intel­lek­tu­elle, teilweise auch ein Humor, der schon meinen Eltern und ihren Freunden gefallen hätte – und so schlimm ist das auch nicht.
Man kann sagen: Mitunter sind es Alt-Herren-Witze. Aber mit solchen Charak­te­ri­sie­rungen ist nicht viel gewonnen, außer dass sich der, der sie macht, darüber erhebt. Sie sind also am Ende des Tages arrogant und präten­tiös. Dann soll man bitte mal zeigen, wo bessere Witze gemacht werden und welche Komödien im Kino oder überhaupt Filme im Kino denn witziger sind. Wes Anderson lasse ich gern gelten, auch wenn es nicht immer mein Humor ist. Aber ansonsten? Man muss erstmal dahin kommen, wo Allen schon lange ist, und auch ein schwächerer Woody Allen hat immer noch ein paar gute Witze.

Dazu eine bissige Kritik am Mora­lismus der Mitmen­schen: »You can’t nudge an artist by bourgeois standards« hören wir. Aber man muss auch wissen: Wer sagt das hier zu wem?

Der Film konsta­tiert die Verach­tung der Welt für den »cracky little introvert«, die Allen auch selber spürt: »Who wants to know if there is something instead of nothing?«

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Die Entschei­dung, Woody Allen und seinen neuen Film zur Eröffnung des dies­jäh­rigen Film­fes­ti­vals von San Sebastián einzu­laden, konnte man gewagt finden nach der Vorge­schichte der letzten Monate, dem Streit um die Veröf­fent­li­chung seiner Auto­bio­grafie und den wieder aufge­wärmten, aber in ihrer Substanz nach wie vor unbe­legten Miss­brauchs­vor­würfen.
Zugleich ist sie ganz natürlich: Denn am Ende inter­es­sieren sich Festivals nicht für PC-ness und die neuen Moral-Taliban, sondern für Aufmerk­sam­keit und die (Schein-)Skandale, die diese bringen.

Und ein Film, der auf einem Film­fes­tival spielt, und zwar keinem anderen als dem von San Sebastián – das ist natürlich auch Grund genug, diesen Film einzu­laden. Jedes Film­fes­tival der Welt wäre eigent­lich dankbar für die Chance, einen Woody-Allen Film im Programm zu haben, zumal er immerhin für eine Dosis Humor gut ist – eine rare Ware auf den oft von sehr ernsten und tristen Filmen domi­nierten Film­fes­ti­vals.

Ein Festival kann sich nichts Schöneres wünschen, als so einen Film, der einer­seits tatsäch­lich von film­his­to­ri­schen Refe­renzen und kleinen Hommagen an den europäi­schen Autoren­film nur so strotzt, und dann auch noch den noto­ri­schen Betrieb eines Festivals, der sich in mancher Hinsicht auch nur Insidern und Teil­neh­mern wirklich erschließt, ins Zentrum nimmt, und ihn sehr charmant ironi­siert – nicht gehässig, sondern voller Liebe für diesen ganz beson­deren einma­ligen Ort. Allens Film bewegt sich souverän in dieser Welt für sich.

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Im Wett­be­werb läuft unter anderem Courtroom 3 H vom Spanier Antonio Mendez Esparza. Dies ist ein Doku­men­tar­film. Erkennbar von Frederick Wiseman beein­flusst. Das heißt: eine No-Nonsense-Doku­men­ta­tion, also man stellt die Kamera an und tut so, als ob man einfach abfilmt, was passiert. Tatsäch­lich geschieht natürlich etwas ganz anderes: Es wird konse­quent aufge­nommen in Close-ups und Halb­to­talen. Das bedeutet: Nähe, aber kein Überblick; subjek­tive, nie objektive Posi­tionen.
Es wird viel geschnitten und gegen­ge­schnitten, es wird mögli­cher­weise auch sehr tenden­ziös geschnitten – das wissen wir nicht, weil auf der einen Seite alles nüchtern und ohne Kommen­tare daher­kommt, also auch ohne dass wir wissen, was die eigene, mögli­cher­weise sogar propa­gan­dis­ti­sche Intention des Filme­ma­chers war. Gezeigt wird mit einer versteckten Agenda, die wir im besten Fall glauben können, mit der wir besten­falls sympa­thi­sieren können. Viel­leicht aber auch nicht.
Dieser Film zeigt die Praxis an ameri­ka­ni­schen Gerichten, und zwar an Fami­li­en­ge­richten, wo es nicht um Strafe geht, sondern darum, ob Kinder ihren Eltern wegge­nommen werden oder nicht. Das Jugendamt ist invol­viert, Experten, der Richter. Die Anwälte der Eltern, die Anwälte der Kinder. Die Kinder selbst aller­dings bleiben stumm.
Und das ist viel­leicht das Schmerz­haf­teste an dem, was dieser Film zeigt. Ansonsten zeigt er einen Richter, der sympa­thisch ist und bemüht, der eine gute Art hat, mit den Leuten zu reden. Der aber gleich­zeitig viel zu viel redet, auch im Film, und je länger der Film dauert, umso mehr wird auch deutlich, dass er seine Voran­nahmen hat und seine eigene, ihm selber gar nicht bewusste Agenda.
Einge­leitet wird der ganze Film mit einem James-Baldwin-Zitat, aus dem hervor­geht, dass die Gerech­tig­keit »in diesem Land« – gemeint sind die US of America –, dass diese Gerech­tig­keit durch Anhörung und Kommu­ni­ka­tion herge­stellt wird. Das Problem beginnt aber damit, dass die Menschen, von denen hier die Rede ist und die eigent­lich reden sollten, sich gar nicht ausdrü­cken können. Dass sie so illiterat sind, dass sie eigent­lich auch stumm sind. Ein Großvater, ein Schwarzer mit offen­sicht­lich sehr niedrigem Bildungs­ni­veau sagt einen Satz in diesem Film, der mir hängen­ge­blieben ist: »Warum nimmt man die Kinder den Eltern weg?« Er verweist auf die UdSSR, wo es angeblich üblich gewesen sei, und selbst heute nicht mehr üblich sei. Aber in den USA wird etwas gemacht, was selbst in der Sowjet­union nicht gemacht wird. Das scheint weit hergeholt zu sein und die Sowjet­union ist nicht gerade ein Beispiel eines Rechts­staats, in dem irgend­einer von uns leben will. Aber sind die USA so viel besser? Fühlt es sich für Ameri­kaner, die dort leben müssen und die der Justiz dieses Landes ausge­setzt, ja ausge­lie­fert sind, fühlt es sich für die besser an?
Der Richter mit dem skan­di­na­vi­schen Namen argu­men­tiert schlüssig: »Die Kinder können sich nicht selber schützen. Wir müssen es tun.« Das Problem ist, dass dieser Satz, der sowieso ein sehr elas­ti­scher, inter­pre­tier­barer Satz ist, vom Gericht und noch mehr von den ameri­ka­ni­schen Sozi­al­behörden als ein Gummi­pa­ra­graph gehand­habt wird. Das heißt: Sie inter­pre­tieren ihn nach Belieben. Das heißt: Sie nehmen die Kinder in Obhut und sie sagen, was gut ist für die Kinder. Sie sagen, wovor die Kinder beschützt werden müssen. Hierbei passiert Unrecht.

Was dieser Film zeigt: Sie nehmen den Eltern die Kinder weg. Aber sie nehmen auch den Kindern die Eltern weg.

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Woody Allen – das immerhin nimmt für ihn und diesen Licht­blick in einem ermü­denden Spätwerk ein – hat einen Film gemacht, bei dem es um Fantasien geht. Er weiß selbst, dass viele dieser Fantasien über­flüssig sind. Aber wir alle haben solche Fantasien, haben wie die Haupt­figur Rifkin unsere Festi­val­f­lirts. Manchmal mit Filmen, machmal mit Figuren, manchmal mit Menschen. Manchmal ist es weniger, manchmal mehr als das. Manchmal ist es einfach eine nette Mitar­bei­terin an der Karten­aus­gabe, mit der wir uns lieber unter­halten, als mit den anderen, also gehen wir immer zu ihr und freuen uns viel­leicht fünf Minuten vorher schon, dass wir gleich mit ihr reden werden. Und manchmal ist es jemand wie Arantxa, die seit ein paar Jahren hier am Presse-Counter sitzt und die mich genau so kennt, wie ich sie. Man begrüßt sich, man erzählt sich, wie das Jahr war, jetzt erst recht bei Covid, man redet über dies und das, man erzählt sich während des Festivals ein bisschen von den Filmen. Soziales Leben und wahr­schein­lich ist es so, dass wir beide außerhalb des Film­fes­ti­vals nicht mehr über­ein­ander nach­denken. Gut möglich, das Arantxa schon während des Film­fes­ti­vals nicht weiter über mich nachdenkt. Umgekehrt: ich immerhin schreibe ja jetzt etwas über sie.
Allen benennt die Tatsache, dass solche losen banalen Gefühle durchaus intensiv sein können. Dass es bei ihnen noch gar nicht so sehr um die Personen geht, auf die sie sich richten. Auch das werden jetzt manche banal finden. Aber es sind solche Emotionen, die einen durchs Leben tragen und solche Gedanken. Allen hat einen Film darüber gemacht, dass unser ganzes Leben zu einem großen Anteil aus solchen Fantasien besteht und in ihnen statt­findet. Die wahren Abenteuer sind im Kopf. Und wenn sie da nicht sind, dann sind sie nirgendwo.

(to be continued)