09.01.2020
21 films

Lieb­lings­filme, nun ja...

Benicio del toro in 21 Grams
Benicio Del Toro in 21 Grams
(Foto: Focus Features)

Was reinkommt, ist drin: Zu unserer Miniserie »21 films« – eine überaus subjektive, vielstimmige Bilanz des Kinos der Zehnerjahre

Von Rüdiger Suchsland

Viel­leicht eine Schnaps­idee, sogar im Wortsinn. Irgend­wann eines Abends im November fiel mir auf, dass nun ja bald das Jahrzehnt zu Ende geht. Auch das des Kinos. Man denkt dann so vor sich hin – ich neige sowieso zum Bilan­zieren, Struk­tu­rieren, versuche, Dinge auf ihren Begriff zu bringen –, trinkt noch ein Bier und überlegt, was es gebracht hat, und was man darüber schreiben möchte. Klare Frage ist dann auch schnell: Welche Filme bleiben? Auf den ersten Blick ist mir nicht so viel einge­fallen. Und auch jetzt glaube ich, und dazu bald mehr, dass die Zehner­jahre eher (und manchem Offen­sicht­li­chen zum Trotz) ein Jahrzehnt des Kinostill­stands waren. Aber, aber… Und dann entstand die Idee mit den Listen.

Ich liebe Listen. Ich lese sie gern, nicht nur an Jahres­enden, schreibe sie gern, manchmal nur für mich, manchmal stelle ich auf Bitten für andere irgend­welche Listen nach irgend­wel­chen Wünschen und absurden Kriterien auf. Sie bringen Ordnung, wenn auch nur will­kür­liche, ins Chaos. An den Listen der anderen kann man sich reiben, selbst da, wo man enthu­si­as­tisch zustimmt, kann es die perfekte Liste nicht geben. Schon die eigene ist ja nicht perfekt. Listen in ihrer Ordnungs­sug­ges­tion stoßen uns auf die Unordnung, auf den Rest, der aus irgend­wel­chen Gründen nicht reinkommt, auf das Leben, könnte man sagen.

Und weil die eigene Liste aufzu­stellen schon schwer genug ist, dachte ich bald: Ich möchte damit nicht allein sein. Andere sollen sich auch mal den Kopf zerbre­chen. Und meine eigene Liste kenne ich schon, darum möchte ich mal die anderer lesen. Anderer, die ich mag, deren Meinung und Blick ich schätze.

Also habe ich Freunde und gute Bekannte gefragt, nur welche, die irgendwas mit Film zu tun haben, und ohne Anspruch auf Voll­zäh­lig­keit. Nicht sehr bewusst, aber dann doch ziemlich gut gegendert, mit leichtem Frau­enü­ber­schuss. Wer nicht gefragt wurde, sich aber ange­spro­chen fühlt, und das hier liest, bitte ich um Entschul­di­gung.

Erbeten wurde eine beliebig geordnete Liste mit »21 Lieblings-Filmen aus den Jahren 2010-2019«. Weiter hieß es: »Alles ist erlaubt: Müssen keine Lang­spiel­filme sein, dürfen reine Festi­val­pre­mieren sein, auch reine Strea­ming­filme, aber bitte keine Serien. ... Und falls Du Lust hast, auch gern stich­wort­artig, kannst Du alles dazu schreiben, was Dir noch einfällt: Ein paar Ideen zum Kino der Zehner­jahre, Tendenzen, Verän­de­rungen, Hoff­nungen, Ängste oder ein Ausblick auf die Zwanziger Jahre, oder einfach noch die nächsten 25 Lieb­lings­filme, oder 111 oder…«

Auf dieses Anschreiben haben die aller­meisten positiv bis enthu­si­as­tisch geant­wortet, es gab wenig Absagen, über 40 Zusagen.
Diese werden wir hier in den nächsten Wochen in Form einer losen Serie aus Blöcken unter dem Titel »21 films« veröf­fent­li­chen. Es gibt alles: Zum Teil längere Kommen­tare, zum Teil nackte Listen.

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Und nun noch zu ein paar FAQ: Warum 21? Warum nicht? Irgend­eine Zahl sollte es sein, 10 wären zu wenig, 50 viel zu viel, runde Nummern fand ich doof. Mit dem Film 21 Grams hatte das erstmal nichts zu tun, aber dann hat der Zusam­men­hang von Kino und Herz­schlag, Kino und Leben zusätz­lich verführt. Und die Zahl 21 bedeutete nüchtern betrachtet 2 Filme pro Jahr plus ein Joker. Das muss reichen für die Ewigkeit – der Rest oder zumindest eine Handvoll mehr kann ja auch genannt werden, wenn’s sein muss, und bei mir zum Beispiel muss es das definitiv.

Naja, und »Lieb­lings­filme«, oh je... »Beste Filme« und den quasi-objek­tiven, päpst­li­chen Abso­lut­heits­an­spruch dieses Begriffs hätte ich halt auch wieder doof gefunden.

Jeder hat einen anderen Begriff von Lieb­lings­filmen. Für mich sind Lieb­lings­filme Filme, die ich (immer) wieder sehen möchte.
Ein Freund, der mitge­macht hat, hat mir geschrieben: »Bei Lieb­lings­filmen, denen man zu einem bestimmten Zeitpunkt begegnet ist, ist ja nicht unbedingt notwendig, dass sie zeit­gleich entstanden sind. Wenn ich heute über Lieb­lings­filme aus dem gewünschten Zeitraum nachdenke, müsste ich eigent­lich viele nochmals sichten, denn nun haben auch Filme Eingang in die Liste gefunden, die ich halt damals als Lieb­lings­filme empfunden habe, und dieses Empfinden habe ich gewis­ser­maßen einge­froren, sodass ich sie, ange­spro­chen auf diese zeitliche Phase, (teilweise) nach wie vor nenne. Das meint mögli­cher­weise letztlich subjektiv … Wie auch immer. Eigent­lich eine komplexe Ange­le­gen­heit, das Erstellen von Lieb­lings­film­listen …«

Wie recht er hat. Denn genau darum geht’s ja: Um das einge­fro­rene Damals; das ist viel wichtiger, als das objek­ti­vis­ti­sche Gemäkel hinterher. Aber es gibt natürlich Filme – und das ist dann das Glück – die vertragen den zweiten, dritten Blick…

Ein paar Regeln hab ich mir aufge­stellt, so wie jeder natürlich seine eigenen Regeln gemacht hat. Dürfen zum Beispiel Regis­seure mehrfach vorkommen? Ich habe mich entschieden, das auszu­schließen, und nur den für mich schönsten Film des Regis­seurs zu nennen, das erleich­tert die Sache. Aber es ist auch Quatsch, wenn man mehrere Filme der gleichen Person einfach sehr mag.

Der Begriff der Lieb­lings­filme ist auch gefähr­lich. Er hat eine Tendenz zum etwas zu Freund­li­chen, Anschmieg­samen, und wie alle Begriffe schließt er auch bestimmte Filme aus. The Wolf of Wall Street zum Beispiel ist für mich der wohl ohne Frage beste Film Scorseses aus dieser Dekade, und zeigt Unglaub­li­ches, verrät sehr viel von unserem Zeitalter. Ein kluger, sehr witziger Film.
Aber er nervt eben auch kolossal, das gehört zwar dazu, aber eben darum, weiß ich nicht, ob ich ihn allzu oft wieder­sehen möchte, und einen Lieb­lings­film nennen kann.

Lieb­lings­filme, nun ja. Ein besserer Begriff fand sich nicht.
So oder so ist es eine Wahn­sinns­er­fah­rung diese Liste zu erstellen, auch für mich. Was ich da raus­ke­geln musste, hätte ich nie gedacht, so wurde es eine zen-buddhis­ti­sche, passi­vis­ti­sche Übung im »Los-lassen« und gleich­zeitig im Gegenteil, in einer Samurai-Härte »gegen sich selbst«.
Die Übung stimmt opti­mis­tisch, denn man reali­siert, wie viele gute Filme es doch gibt, im Kino. Der Alltag lässt einen das schnell vergessen. Aber wenn man pro Jahr fünf, sechs Filme findet, die Bestand haben, die man wieder­sehen möchte und die beim Wieder­sehen wie neu erscheinen, dann ist das genug.

In diesem Sinn machen wir allen unseren Lesern hiermit hoffent­lich Lust auf das Kino, auf das Wieder­sehen alter Filme und auf die Golden Twenties, die vor uns liegen…