02.09.2019
76. Filmfestspiele von Venedig 2019

Die Poesie des Flam­men­wer­fers

Ema
Der Film des Festivals – Pablo Larraíns »Ema«
(Foto: Koch Films)

Freiheit statt Nihilismus: Filme von Pablo Larraín, Lauren Greenfield, Steven Soderbergh und Olivier Assayas – Notizen aus Venedig, Folge 6

Von Rüdiger Suchsland

»Alles bewegt sich, alles fließt, alles vollzieht sich mit größter Geschwin­dig­keit. Eine Figur steht niemals unbe­weg­lich vor uns, sondern sie erscheint und verschwindet unauf­hör­lich. Durch das Beharren des Bildes auf der Netzhaut verviel­fäl­tigen sich die in Bewegung befind­li­chen Dinge, ändern ihre Form und folgen aufein­ander wie Schwin­gungen im Raum. [*c] Stellen wir nochmal fest, dass ein Porträt, um ein Kunstwerk zu sein, seinem Modell weder ähneln kann noch darf; und der Maler trägt die Land­schaften, die er wieder­geben will, in sich. Um eine Figur zu malen, ist es nicht nötig, sie nach­zu­bilden; ihre Atmo­sphäre muss wieder­ge­geben werden.«
Tech­ni­sches Manifest der futu­ris­ti­schen Malerei », April 1910«

»You wouldn’t believe what I've been through/ You've been so long/Well it’s been so long/
And I've been putting out the fire with gasoline/ Putting out the fire/ With gasoline«

David Bowie »Cat People«

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Ich mochte Pablo Larraín bisher nicht, ich mag ihn einfach nicht, seine Filme erscheinen mir präten­tiös, gewollt, um Aufmerk­sam­keit zu buhlen, manie­riert, von einem falschen Forma­lismus geprägt, zugleich eine erzkon­ser­va­tive bis reak­ti­onäre Agenda zu haben. Und vieles von alldem könnte man auch über Ema sagen. Dieser ist, das kann man schon jetzt sagen, der Film des Festivals; er verdient einen Preis. Da ich mit keinerlei Erwartung hinein­ge­gangen bin, war die Über­ra­schung umso größer.

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Die Bilder zeigen die Nacht über einer Hafen­stadt. Eine Verkehrs­ampel brennt. Eine Frau blickt auf sie, geht dann ruhig weg.
Rätsel­hafte, poetische Bilder, manchmal surreal, manchmal sozi­al­rea­lis­tisch. Es dauert eine Weile, bis sich aus ihnen ein Zusam­men­hang und eine Geschichte heraus­schält. Aber dieser frag­men­ta­ri­sche, dezen­trierte Eindruck hat Gründe. Er entspricht den Figuren und Situa­tionen, von denen Pablo Larraín erzählt. Mit seinem siebten Spielfilm kehrt der chile­ni­sche Filme­ma­cher mit »Ema« nach seinem Hollywood-Ausflug mit Jackie wieder nach Chile zurück, genau gesagt in die Hafen­stadt Valpa­raíso.

Im Zentrum steht die Titel­figur, eine junge Frau (Mariana Di Girolamo, super charis­ma­tisch), die als Tänzerin in einer Compagnie arbeitet, und nebenbei an Schulen unter­richtet. In kurzen facet­ten­haften Momenten, die sich in Zeit, Ort und Figuren schnell abwech­seln, getrieben von der modernen Musik von Nicholas Jaar, zu der Ema tanzt, schält sich folgendes heraus: Ema ist mit dem Choreo­gra­phen Gaston (Gael García Bernal) zusammen; weil er zeugungs­un­fähig ist, hatten sie ein Kind adoptiert. Doch dieser Polo entpuppte sich als destruk­tives und gefähr­li­ches Kind: Er verbrannte das Gesicht von Emas Schwester schwer, worauf Ema und Gaston den Jungen den Behörden zurück­gaben. Die Umgebung bestraft vor allem Ema dafür: An der Schule wird sie von den übrigen Lehrern gemobbt; zwei Szenen zeigen die Sozi­al­ar­bei­terin, die den Ex-Eltern sagt: »fix your rotten heads before you adopt children.«
Ema, eine Cousine des Girl with the Dragon Tattoo, eine Millen­nial der besseren Art, also ohne Skrupel und Hyper­mo­ra­lismus, erscheint als Drifterin, als Verwandte der post­apo­ka­lyp­ti­schen Furiosa; sie will kein »good girl« sein, wir folgen ihr durch die Nacht, und ahnen, dass sie schon längst über Wege nachdenkt, Polo, der bei neuen Adop­tiv­el­tern lebt, zurück­zu­ge­winnen.

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Der Film flaniert auf ihren Spuren durch ein poetisch verfrem­detes Chile von heute. Man kann das präten­tiös finden, aber eigent­lich ist es auch sehr beiläufig erzählt. Man sieht sie tanzen, in Bars und auf Partys, bei Sex mit Männern wie Frauen, mit Freunden. Und sie kommt ihrem Ziel näher.

Unter­bro­chen wird das immer wieder von Montage-Passagen, in denen wir der Figur einfach folgen und sich Szenen lose anein­an­der­reihen. Von Tanz­szenen, die mit Poesie aufge­laden sind.

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Ein Flam­men­werfer taucht die Leinwand kurz in ein riesiges Feuer. Man sieht, wie Autos abge­fa­ckelt werden – Berlin grüßt voll klamm­heim­li­cher Freude.
Für Ema ist das Ernst und Spaß zugleich, feuriger Exzess, wenn sie ein Feuer­teufel wird und in einer Szene Feuer spuckt, »wie das feurige Sperma eines Elefanten«, in einer anderen mit ähnlichem Vergnügen den Wasser­werfer eines Feuer­wehr­mannes betätigt.
Ema ist ein Märchen im Delirium.

Larraín, der schon andere Phasen hatte, propa­giert hier ein Kino, das die Idee einer photo­gra­phi­schen Repro­duk­tion der äußeren Welt, jenes Ideal der Spießer, ablehnt, und dyna­mi­sche Empfin­dungen zeigen will. Gezeigt wird nicht ein Gegen­stand, sondern der Rhythmus des in Bewegung befind­li­chen Gegen­stands. Alle Formen von Nach­ah­mung und Spie­ge­lung – der Künstler und der Betrachter auf der einen, das Abge­bil­dete auf der anderen Seite – sind überholt und haben nichts mit der Wirk­lich­keit zu tun.
Man muss das alles nicht überhöhen, man sieht es einfach gern.

Das alles kommt mir sehr typisch chile­nisch vor, ich kann mir Ema nicht als einen Film aus Argen­ti­nien oder Mexiko vorstellen. Auch nicht aus Spanien – was ich schreibe, weil man den Film am ehesten noch mit Melo­dramen verglei­chen kann.

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»See these eyes so green/ I can stare for a thousand years/ Colder than the moon/
It’s been so long/ Feel my blood enraged/ It’s just the fear of losing you/«

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Dies ist der wohl beste Film im bishe­rigen Wett­be­werb der Film­fest­spiele von Venedig. Eine sehr positive Über­ra­schung und endlich mal ein Film, der nicht nach 20 Minuten verstanden und vorher­sehbar ist, nicht glatt ist, sondern gegen­wärtig, rau und unklar. Larraín erzählt in Facetten, in unzu­sam­men­hän­genden Szenen und immer wieder über­ra­schenden Bildern. Ein Film, der aus der unüber­sicht­li­chen Gegenwart nicht Nihi­lismus schöpft, sondern Freiheit.

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Dietmar Dath hat es im FAZ-Blog besser gesagt, als ich es kann: »Bei Ema hört das Spiel der Frau, die hier eine Frau spielt, welche mit sich und anderen spielt, an keinem der Punkte auf, über die alle anderen Filme sich nicht heraus­treten, es wird mit Haut und Haaren der Ernst vom Spiel verschlungen und umgekehrt, das Werk ist komplett pervers und Pablo Larraín ein Irrer. Aber ein sehr ruhiger. Ich meine das als Lob. Ich fürchte mich vor diesem Mann und vor seinem Star, der unbe­greif­li­chen Mariana Di Girolamo. Die sind nicht von hier, von dieser Welt, wo man Handeln einer­seits und So-tun-als-ob ande­rer­seits unter­scheiden kann. Die sind von einem Planeten, wo böse Musik wie Grund­wasser unter allem strömt, siedend heiß, von Feuer nicht verschieden. Wer auf eine Pres­se­kon­fe­renz geht, um sich Filme wie Ema erklären zu lassen, wird nicht viel erfahren. Wer aber den Kopf auf den Boden legt, damit dieser Film drüber­fahren kann, wird was ganz Beson­deres erleben.«
I teach freedom, beschreibt Ema sich selbst. Für den Film gilt das auch.

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Es ist bald Halbzeit bei den Film­fest­spielen von Venedig. Das vergan­gene Wochen­ende brachte vor allem viele poli­ti­sche Stoffe, stilis­tisch Main­stream auf hohem Niveau.
Am Sonn­tag­abend sind die Ameri­kaner nach Toronto weiter­ge­reist. Jetzt ist am Lido Autoren­kino angesagt. Die Chilenen hatten am Sonn­tag­abend ihre Party, die Vene­zue­laner auch, die Film­stif­tung NRW immerhin ein Abend­essen, zu der Fern­seh­re­dak­teure und Dieter Kosslick einge­laden waren, und wahr­schein­lich ein paar erlesene Jour­na­listen, wir aber leider nicht.

Das Wochen­ende in Venedig war auf allen Ebenen durch­zogen von Politik: Die neue Regierung in Italien ist für dieses der Kunst in all ihrer irri­tie­renden Kraft und Sper­rig­keit gewidmete Film­fes­tival eine gute Nachricht. Täglich rechnet man damit, dass die Vertrags­ver­län­ge­rung mit dem sehr erfolg­rei­chen Direktor Alberto Barbera bekannt­ge­geben wird.

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Politik fand sich aber auch auf der Leinwand in vielen Facetten: Der fesselnde Doku­men­tar­film The Kingmaker handelt von 50 Jahren phil­ip­pi­ni­scher Politik und im Beson­deren von der einstigen First Lady Imelda Marcos, die im Westen vor allem für ihren Schuh­fe­ti­schismus bekannt ist.
Dabei ist Marcos eine mit allen Wassern gewa­schene Poli­ti­sche Profes­sio­nelle, die noch mit über 90 daran arbeitet, die Repu­ta­tion ihrer Familie wieder­her­zu­stellen, und ihre Kinder in deren poli­ti­scher Karriere zu unter­s­tützen. Regis­seurin Lauren Green­field zeigt ein über­ra­schend viel­fäl­tiges Porträt einer Frau, die allzu oft auf simple und rassis­ti­sche Klischees reduziert wird. Sie zeigt auch, dass weibliche Macht nicht notwendig besser ist als männliche.
In The Laun­dromat erzählt Steven Soder­bergh mit viel Witz und Star­be­set­zung die Geschichte der »Panama-Papers« als Farce mit tieferer Bedeutung. Ähnliches leistet Altmeister Costa-Gavras, der in Adults in the Room die Geschichte der EU-Troika und der grie­chi­schen Schul­den­krise rekon­stru­iert – aus Sicht der Griechen gewürzt mit kriti­schen Spitzen vor allem gegen Merkel und die deutsche Austeri­täts­po­litik und mit Ulrich Tukur als Wolfgang Schäuble.

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Noch einmal um ein Netzwerk geht es in The WASP-Network vom Franzosen Olivier Assayas. Im Unter­schied zu den beiden vorge­nannten Filmen ist dies aber keine Komödie mit klar verteilten Gut-Böse-Rollen, sondern ein hoch­kom­plexes Vexier­spiel aus Spionage und Gegen­spio­nage, Masken unter denen neue Masken sichtbar werden. Asssayas erzählt nämlich mit viel Geduld und Lust an der Verwir­rung der Perspek­tiven die wahre Geschichte jener kuba­ni­schen Agenten, die in den 1990er Jahren die rechts­extremen exil­ku­ba­ni­schen Netzwerke in Florida unter­wan­derten, wie die ameri­ka­ni­sche Regierung Clinton Terror­akte gegen Touris­ten­burgen auf Kuba unter­s­tütze, Atten­tats­pläne und Putsch­ver­suche, und duldete, dass all dies durch schmut­ziges Drogen­geld finan­ziert wurde.
Erkennbar bewegt sich Assayas hier auf den Spuren seines Welt­erfolgs Carlos; unter­s­tützt von Stars wie Penélope Cruz und Gael García Bernal wirft er ein anderes, sympa­thi­scheres Licht auf Castros Kuba.

Alle diese Spiel-Filme über Politik haben eines gemeinsam: Sie zeigen Politik nicht als das Spiel einsamer großer Männer und Frauen, sondern als komplexes Handeln in Netz­werken.

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Kaum zu glauben, aber wahr: Die fran­zö­si­sche Auslands­film­ver­tre­tungs-Orga­ni­sa­tion »Unifrance« veran­staltet ihren Venedig-Empfang ausge­rechnet während der Presse-Vorfüh­rung des Films von Olivier Assayas. Offen­sicht­lich inter­es­sieren sie sich nicht dafür. Eine solche Einladung sugge­riert den Jour­na­listen der Welt und den profes­sio­nellen zumindest: Ihr müsst nicht in eine Assayas-Vorstel­lung gehen. Oder machen sie dies absicht­lich, um diese Vorstel­lung zu entlasten, denn Sams­tag­abend ist natürlich ein groß­ar­tiger Termin, und diese Vorfüh­rung wird voll besetzt sein, nicht nur, weil alle Assayas sehen wollen, sondern weil Sams­tag­abend-Vorfüh­rungen einfach immer voll besetzt sind.

(to be continued)