11.02.2019
69. Berlinale 2019

Verdünnter Schmerz in der Steppe

Marie Kreutzer Der Boden unter den Füßen
Manche nennen es Krankheit, wir nennen es Berlinale – Szene aus Marie Kreutzers Der Boden unter den Füßen
(Foto: Salzgeber)

Die Agenten wer'n immer trauriger, und auch Unternehmensberater und Journalisten haben in Berlinale-Wettbewerbsfilmen keinen Spaß, Berlinale-Tagebuch, Folge 6

Von Rüdiger Suchsland

»Lächer­lich für jemanden wie ihn, aber es ist, wie es nun einmal ist: Entweder er arbeitet oder er langweilt sich. Gleich beide Nach­mit­tags­ter­mine wurden abgesagt und nun breitet sich der Tag wie eine unendlich weite Steppe vor ihm aus. Lange­weile ist verdünnter Schmerz. Irgendwo aufge­schnappt, bleibt hängen bis in alle Ewigkeit. Und warum? Weil es stimmt. Lange­weile ist gewis­ser­maßen ein der Depres­sion vorge­schal­teter Zustand. Die Schwermut, der Welt­schmerz, die diffuse Trübsal, die während seiner Jugend auf ihm lastete ist einer oft schier uner­träg­li­chen Ödnis gewichen.«
Heinz Strunk: »Der Goldene Handschuh«, S.55

400 Filme laufen bei der Berlinale, das ist sowieso eine Wahn­sinns­zahl. Es ist fast doppelt soviel, wie in Cannes (100) und Venedig (120) zusammen laufen. Klar, dass es da viel­leicht mehr Sektionen braucht, als die jeweils vier von Cannes oder Venedig. Ob es deshalb gleich 12-14 sein müssen, je nach Zählweise, ist eine andere Frage. Denn auch klar muss jedem sein, dass gerade in dieser Unmenge an Filmen Orien­tie­rung nötig ist. Das Festival muss seinen Besuchern vermit­teln, was ihm besonders wichtig ist, was auch für alle inter­es­sant ist, was hingegen eher spezielle Inter­essen erfüllt. Nichts von alldem leistet das Festival, deswegen fühlen sich hier viele ziemlich verloren und allein gelassen.
Wenn man dann noch bedenkt, dass die Berlinale drei Tage kürzer ist, als Cannes und zwei als Venedig, und wenn man weiß, dass es für den größten Teil der Sektionen gar keine Pres­se­vor­füh­rungen gibt, für das Panorama nur ein Dutzend und dass deshalb alle Pres­se­vor­füh­rungen überfüllt sind, dann kann sich jeder vorstellen, wie das Wochen­ende abläuft: ein einziges Gehetze und Chaos, verbunden mit der Frus­tra­tion, in vieles nicht herein­zu­kommen.
Manche nennen es Krankheit, wir nennen es Berlinale.

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Vermut­lich gibt es vieles, was gegen Der Boden unter den Füßen spricht. Mir hat der neue Film der Öster­rei­cherin Marie Kreutzer trotzdem gut gefallen.
Das Konzept ist lustig, einfalls­reich, schön sche­ma­tisch: Eine Unter­neh­mens­be­ra­terin und eine Verrückte treffen sich und wir Zuschauer begreifen, unter­s­tützt von der cleveren Montage, dass hier nicht Vernunft und Wahn, sondern nur zwei verschie­dene Formen von Irrsinn aufein­ander klatschen.
Es stimmt schon, ein bisschen mehr Boden­lo­sig­keit hätte dem Film gutgetan. Und zugleich weniger, dafür mehr Kälte und Mechanik. Viel­leicht hätte ihn dann die Berlinale nicht genommen, weil er nicht ins sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Schema der Unter­nehmer mit schlechtem Gewissen gepasst hätte. Es wäre aber der bessere Film.
Auch so ist es ein guter. Denn er ist elegant insze­niert, beob­ach­tend, aber immer wieder die reine Distanz aufbre­chend.
Was man tatsäch­lich einwenden kann, ist mangelnde Konse­quenz. Denn die Unter­neh­mens­be­ra­terin Lola ist dann doch nicht wirklich einfach nur Unter­neh­mens­be­ra­terin, sondern eben doch weniger cool, als sie gern wäre. Sie erzählt Ärzten nicht die Wahrheit, verleugnet ihre kranke Schwester auf selbst kranke Weise. Und sie hat eine lesbische Beziehung (Affäre?) mit ihrer Chefin. Als ob die Haupt­sache nicht gereicht hätte. Wie Maren Ade in Toni Erdmann traut die Regis­seurin der Figur einer Unter­neh­mens­be­ra­terin allein nicht genug zu – sie muss dann krank, kaputt, an sich leidend sein, und eben doch nicht so 'ne richtige »icy bitch«. Das hätte ich aber gern gesehen. So scheinen Frauen aber Frauen nicht gern zu sehen.

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Auch die Figur der Femme fatale ist komplett aus der Mode gekommen. Bedeutet Femi­nismus eigent­lich, dass Frauen in der Kunst keine Abgründe und nicht Doppel­ge­sich­tiges mehr haben dürfen?

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Die Berlinale war schon in ihrer »klas­si­schen« Zeit, während des Kalten Kriegs, ein Schau­fenster nach Osten. Wie sieht das 30 Jahre nach dem Mauerfall aus? Schon merk­würdig, dass der Mauerfall nach 30 Jahren der Berlinale keine Erwähnung wert ist, geschweige denn eine Sonder­reihe. Wie aus dem Gedächtnis getilgt.
2018 war ein erfolg­rei­ches Jahr für das osteu­ropäi­sche Kino. Aber welche Spuren hinter­lässt das osteu­ropäi­sche Kino nun auf der Berlinale?
Am Wochen­ende lief im Wett­be­werb Mr. Jones, der neue Film der polni­schen Altmeis­terin Agnieszka Holland, ein Film aus Maze­do­nien, und auch in den Neben­reihen vieles aus dem ehema­ligen Ostblock.
Mr. Jones war ziemlich öde, was nicht nur daran liegt, dass dies ein mit zwei­ein­halb Stunden über­langer Film ist, stilis­tisch 08/15-Kostüm­kino und Historien-Bebil­de­rung ist, das in einem A-Wett­be­werb nichts zu suchen hat, unin­spi­riert und altmo­disch, ohne einen Funken Origi­na­lität.
Die abge­dro­schene Geschichte über die Schrecken des Stali­nismus, die hier mit den Augen des briti­schen Jour­na­listen und ukrai­ni­schen Natio­nal­helden Gareth Jones (1905-1935) gezeigt werden, ist auch politisch frag­würdig.
Denn Gareth Jones zeigte offene Sympa­thien für die Nazis, schrieb für von Goebbels kontrol­lierte Zeitungen und war auch sonst eine Figur, die man keines­wegs derart ausschließ­lich positiv zeichnen sollte, wie Holland das tut. Einmal mehr ist auch dies ein polni­scher Film, der zwar über­sen­sibel auf die Abgründe de Sowjet-Kommu­nismus reagiert, demge­genüber aber die Verbre­chen der Nazis, der polni­schen und (in diesem Fall besonders) ukrai­ni­schen Natio­na­listen baga­tel­li­siert.

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Der Direktor mag bis zur letzten Sekunde seinen Spaß haben – es sind aber nur noch sechs Tage, he he he – die Menschen in Berlinale-Filmen leiden unter Spaß­verbot. Ein miese­pe­triger Film mit schlecht­ge­launten Charak­teren nach dem andern flackert über den Bild­schirm des Berlinale-Wett­be­werbs.

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Auch der Leben von Diane Kruger als Mossad-Agentin ist nicht lustig. Da der Regisseur Yuval Adler uns offenbar alle vergnüg­li­chen Dinge eines Agen­ten­films wie Verfol­gungs­jagden, Geballer und Explo­sionen ersparen will, wird umso mehr geredet. Nichts Sinn­volles, sondern Bana­li­täten und Plat­ti­tüden im Stil von »Im Krieg sterben Unschul­dige«. Vorher­sehbar geht es darum, wie schreck­lich und entfremdet angeblich doch das Leben von Geheim-Agenten ist. Wäre sie mal besser Unter­neh­mens­be­ra­terin geworden!

(to be continued)