30.03.2017
Cinema Moralia – Folge 152

Diagonal ist besser

Das Plakat des illegalen Festivals NO X NO
Statt einem Foto von Kosslick, dessen Rechte wir nicht hätten, und einer Bebilderung der Diagonale gibt es hier: Das Plakat des illegalen Festivals NO X NO (in Munich: place to be).

So kann’s auch gehen: Neugier und Enthusiasmus – die 20. Diagonale kann uns vieles lehren – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 152. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Dieses nationale Ding ist ja, also viel­leicht a bisserl, aber auch nicht zu ernst zu nehmen...« Also sprach Alexander van der Bellen, Bunde­sprä­si­dent der Republik Öster­reich, und erklärte vor eintau­send­zwei­hun­dert, vor allem öster­rei­chi­schen Film­schaf­fenden, warum man den öster­rei­chi­schen Film mal nicht zu wichtig nehmen sollte, vor allem nicht in Öster­reich. So eine Rede eines Poli­ti­kers wäre in Deutsch­land voll­kommen undenkbar, wie überhaupt alles, was man am Dienstag Abend erleben konnte.

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Der Ort war Graz, die zweit­größte Stadt Öster­reichs, der Anlass war die Eröffnung der 20. Diagonale. Das zweite wichtige (und keines­falls zweit­wich­tigste) Film­fes­tival Öster­reichs, neben der Viennale, ebenfalls beach­tens­wert in seiner geschmack­vollen, strengen, dabei erstaun­lich offenen und immer beden­kens­werten Programm-Auswahl.
Schon das alles leider undenkbar bei uns (Piefkes), erst recht in dieser Form, Stil­si­cher­heit, gelas­senen Ironie: Wo gäbe es das, dass zwei gleich­be­rech­tigte Inten­danten ein Film­fes­tival leiten, und dass diese dann öffent­lich auf »Feuer und Enthu­si­asmus, Hysterie und Anarchie« fürs Kino hoffen? Die Offenheit und Neugierde einfor­dern, und für die das kein Wider­spruch zu Reali­täts­sinn ist?
Großartig und relaxed eröffnete das Inten­dan­tenduo Peter Schern­huber und Sebastian Höglinger das Festival und zeigte, wie man so etwas auch machen kann: Ironisch, offen vom Wunsch getragen, Teil einer Jugend­be­we­gung zu sein und in aller hedo­nis­ti­schen Heiter­keit hoch­po­li­tisch: Gegen die »gedank­liche Ausla­ge­rung der Konflikte«, »Unbehagen an der Politik« – jede dieser Behaup­tungen ist als Ideologie zu enttarnen – gegen die wohlfeile Kuschel­be­reit­schaft zwischen Kultur und Politik, von der man nicht nur in Öster­reich ein Lied singen kann. Gegen ein Kino »mit Beipack­zettel«, in dem »die Kritik an den Verhält­nissen von begriffs­fi­xierter Iden­ti­täts- und Befind­lich­keits­po­litik abgelöst« wird – Huhu, Pro Quote! – setzten sie Hansi Langs Austropop-Song-Verfüh­rung »Keine Angst«.

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A propos Festival: Erfreu­liche Nach­richten gibt es von der Dok Leipzig. Die meldet nach einem turbu­lenten halben Jahr, vielen Gerüchten vor Ort, zerbors­tenem Porzellan und manchen Verlet­zungen, dass ihre Auswahl­kom­mis­sion jetzt wieder komplett ist. Die persön­lich wie fachlich sehr geschätzte Claudia Weidner, Kollegin von der taz, dem Spiegel und einst auch der FAZ, neuer­dings auch Vorstands­mit­glied des »Verband der deutschen Film­kritik«, ist jetzt das fünfte Mitglied.

Neuer Leiter der Auswahl­kom­mis­sion ist der ihr seit 2007 angehö­rende Ralph Eue, für den die Wahl Weidners natürlich auch spricht. Weitere Neuzu­gänge sind Filme­ma­cher und Medi­en­pä­d­agoge Leopold Grün sowie die Kuratorin und Film­ver­mitt­lerin Luc-Carolin Ziemann, bereits länger dabei sind André Eckardt (Film­ver­band Sachsen) und Zaza Rusadze (Filme­ma­cher, Produzent). Frischen Wind kann das Programm in Leipzig in jedem Fall brauchen. Die letzten Jahre war es zwar auf solide gutem Niveau, aber oft inhal­tis­tisch und in jedem Fall allzu erwartbar.

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Ach ja: Wenn man dann noch naiv der Grazer Eröffnung am nächsten Morgen bei 23 Grad Sonnen­schein in der Zeitung – in diesem Fall der »Berliner Morgen­post« – liest, dass Dieter Kosslick definitiv im Jahr 2019 als Berlinale-Direktor gehen muss, dann ist das endgültig Grund für hervor­ra­gende Laune. Diese Nachricht war zwar über­fällig, aber erst letzte Woche hatte Frédéric Jaeger bei Spiegel-Online sehr richtig darauf hinge­wiesen, dass Kosslick bereits im Februar und seitdem hinter den Kulissen um eine weitere Vertrags­ver­län­ge­rung gebuhlt hatte. Dass dem die Kultur­po­li­tiker nicht statt­ge­geben haben, ist großartig. Jetzt beginnt zwar das große Nach­denken darüber, wer denn Nach­folger werden könnte, aber insbe­son­dere, wer eigent­lich wann und wie und vor allem nach welchen Kriterien darüber entscheiden wird? Gibt es eine öffent­liche Auschrei­bung der Position? Hoffent­lich. Aber welche Kriterien für einen guten Berlinale-Chef werden da benannt? Wird es eine Findungs­kom­mis­sion geben? Warum nicht? Sind auch Nicht-Deutsche als Berlinale-Chef denkbar? Doch auf alle Fälle. Jeder, dem die Berlinale am Herzen, liegt, sollte jetzt darauf Wert legen, dass der Posten nicht hinter den Kulissen ausge­kun­gelt wird. Und selbst­ver­s­tänd­lich darf Dieter Kosslick zwar in seiner Meinung gehört werden. Mitreden aber darf er nicht. Soweit kommt’s noch!
Über all das werden noch viele Zeilen geschrieben werden – aber jetzt freuen wir uns erstmal und genießen Graz – diagonal.

(to be continued)