18.05.2017
70. Filmfestspiele Cannes 2017

Die Wieder­kehr des Nicht­ver­drängten

Les Fantômes d'Ismaël
Stars, Spaß, Ironie & tiefere Bedeutung
(Foto: Magnolia Pictures)

Arnaud Desplechins Alptraumkomödie Les Fantômes d’Ismaël verbindet zur Eröffnung der 70. Filmfestspiele von Cannes Stars, Scherz und Feinsinn; Cannes-Notizen, 2. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Nocturama – der Titel dieses groß­ar­tigen fran­zö­si­schen Films, der morgen in Deutsch­land startet, bezeichnet eine besondere Käfig­an­lage zur Präsen­ta­tion nacht­ak­tiver Tiere im Zoo. Eine Analogie nicht nur zum Kino. Ein Nocturama ist auch Cannes. Um so unver­s­tänd­li­cher, dass dieser Film von Bertrand Bonello, einer der besten des vergan­genen Film-Jahres, nicht nur aus Frank­reich, sondern weltweit, und daher auf vielen Jahres­bes­ten­listen vertreten, letztes Jahr in Cannes abgelehnt wurde, aus rein poli­ti­schen Gründen – wegen »modernem Dschi­ha­dismus«. Viel­leicht ist dieses Schwach­sinns­eti­kett Werbung genug für diesen Film, auf dessen Zurück­wei­sung und die Cannes-Auswahl­kri­te­rien wir dieser Tage noch zu sprechen kommen.
Jetzt erstmal zu einem Film, der dieses Jahr ausge­wählt wurde, wenn auch... Aber der Reihe nach.

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Charlotte Gainsburg, Marion Cotillard und der fran­zö­si­sche Woody Allen Mathieu Amalric, nicht zu vergessen Monica Belluci, die die illustre Gala zur Eröffnung der 70. Jubiläums­aus­gabe der Film­fest­spiele von Cannes mode­rierte – als sie alle und die über eintau­send übrigen Gäste am Mittwoch-Abend unter dem Blitz­licht­ge­witter der Photo­gra­phen über den Roten Teppich mit seinen 24 Stufen das Festi­val­pa­lais von Cannes betraten, wussten alle – dieser Abend würde nicht nur ein Festival-Auftakt werden, sondern auch eine große Selbst-Feier des Autoren­kinos, als dessen Heimat sich Frank­reich seit jeher fühlt. Die »siebte Kunst« nennt man das Kino hier – Kino ist auch Lebens­eli­xier, das so pathe­tisch wie opti­mis­tisch gefeiert wird.
Und auch der Eröff­nungs­film wurde zu einer Hommage auf das Kino, nicht nur in Frank­reich.

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Stars, Spaß, Ironie und tiefere Bedeutung – Les fantômes d’ismaël von Arnaud Desplechin ist ein Film, der vielen etwas zu bieten hat: Fein­geister können sich an Verweisen auf Philo­so­phie und die europäi­sche Kunst­ge­schichte erfreuen, für jene, die gröbere Kinokost bevor­zugen, gibt es Sex – und eher unero­ti­sche Nackt­szenen mit Marion Cotillard –, Liebe, großes Drama und das Spiel mit Genre­stoffen, wie dem Spio­na­ge­film und dem Psycho­thriller.
Ismael – das ist ein bibli­scher, ein alttes­ta­men­ta­ri­scher Name, er ist der Sohn Abrahams und dessen Dienerin Agar. Diese biblische Geschichte spielt aber keine Rolle in diesem Film. Die Phantome, die die Haupt­figur heim­su­chen, sind seine Familie, sind seine Frauen, ist der Film, den er gerade dreht.

Les fantômes d’ismaël st eine Alptraum­komödie: Im Zentrum steht der Film­re­gis­seur Ismael (Amalric), der mit Sylvia liiert ist, einer Astro­phy­si­kerin (Gains­bourg). Eines Tages taucht aus dem Nichts Charlotte wieder auf, Ismaels Ehefrau, die vor 21 Jahren spurlos verschwand und inzwi­schen für »absent« und damit quasi tot erklärt wurde. Für ihre Abwe­sen­heit hat sie nur vage Erklärungen, jetzt aber will sie den Mann zurück, der sie nie ganz vergessen konnte – die Wieder­kehr des Nicht­ver­drängten.

So entspinnt sich eine turbu­lente Drei­ecks­ge­schichte, in der der Mann zwischen zwei Frauen steht, und sich gewis­ser­maßen zwischen Gegenwart und Vergan­gen­heit entscheiden muss. Der Film mischt Melodram und Komödie, schwer­blü­tige Melan­cholie und Screwball und erinnert in seinem Dialog­witz stel­len­weise an Woody Allen: »Wir wollten uns immer verlassen, aber nie beide zur selben Zeit« erzählt Ismael einmal über seine Exfrau, »und es war praktisch: Es war immer jemand da, der ans Telefon ging.«

Zusätz­liche Ebenen bringt die Film-im-Film-Handlung, in der Regisseur Ismael immer in Alpträumen von seinen Film­fi­guren heim­ge­sucht wird. Inhalt­lich erinnert sie an Desplechins letzten Film, Trois souvenirs de ma jeunesse, in dem ebenfalls ein Erzähl­strang vom Kalten Krieg der 80er Jahre und dem fran­zö­si­schen Geheim­dienst handelte.

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Desplechin probiert in seinen Filmen immer wieder neue Erzähl­weisen aus. Zugleich strotzt alles von Bezügen: Zu Shake­speare, zur europäi­schen Kunst­ge­schichte – die parallele Erfindung der Perspek­tive an zwei Orten in Europa um 1437 – zur Psycho­ana­lyse, zu seinem Lieb­lings­phi­lo­soph Stanley Cavell und zu Jacques Lacan – immer wieder stehen Leute vor dem Spiegel, man sieht sie durch Spiegel, wie durch Schleier –, wie auch zu seinen eigenen Filmen: Auch hier geht es wieder nach Roubaix, Desplechins Heimat­stadt, die Haupt­figur heißt Daedalus, wie oft, wird einmal mehr von dem wunder­baren Mathieu Amalric gespielt. Als einen immer gestressten, psychisch labilen Künstler. Cotillard spielt eine entsetz­liche Figur. Der beste aber ist der von Charlotte Gains­bourg – die das emotio­nale Zentrum eines Films bildet, der seine Figuren mag, aber sie und ihre sonder­baren Gefühle nie über Gebühr allzu ernst nimmt.

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Zugleich ächzt auch dieses Mekka der Filmkunst unter dem Druck des Kommerz. Vom Eröff­nungs­film exis­tieren schon heute zwei Fassungen – die in Cannes nennt Desplechin die »version francaise«, sie dauert knapp zwei Stunden, der 20 Minuten längere »version originale« läuft ab nächster Woche in ausge­wählten Kinos.
In der Zeitung Le monde war zu lesen, das seien zwei ganz unter­schied­liche Filme
Bedeutet das, dass auch das Festival in Cannes sich im alten Kunst-Kommerz-Span­nungs­ver­hältnis auf die Kommerz­seite geschlagen hat? Die nächsten Tage werden die Antwort geben.

(to be continued)