08.12.2016
Cinema Moralia – Folge 146

Künstlers Werk und Zeit­geists Beitrag

Der letzte Tango in Paris
Auch das ist Arbeit am Filmerbe: Bernardo Bertoluccis Skandal-Klassiker Der letzte Tango in Paris wurde soeben mal wieder deklassifiziert
(Foto: Bernardo Bertolucci)

Skandale allerorten: Bernardo Bertoluccis Der letzte Tango in Paris kommt wieder einmal ins Gerede, Björn Böhning auch, Werner Herzog zu wenig. Einblicke ins Herz jener Restauration, in der wir heute leben – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 146. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Nichts leichter als das, sagt Karlsson vom Dach, der Schlau­berger mit dem Propeller auf dem Rücken, immer dann, wenn er mal wieder demons­trieren will, wie toll er ist.«– Peter Körte, FAS vom 4.12.16

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In den letzten zwei Jahren haben wir an dieser Stelle häufig über die in fast jeder Hinsicht miserable Berliner Film- und Kultur­po­litik berichtet, nament­lich über das unselige Wirken des Chefs der Berliner Senats­kanzlei Björn Böhning (SPD). Ich stehe dazu, dass ich Böhning für einen fachlich extrem inkom­pe­tenten Film­po­li­tiker halte, dass ich glaube, dass er in der Causa DFFB mehrere Fehl­ent­schei­dungen zu Lasten der DFFB getroffen, und diese tolle und im Vergleich zu anderen Film­hoch­schulen einmalige Insti­tu­tion nach­haltig beschä­digt hat. Seine Art und Weise der Öffent­lich­keits­ar­beit hat den sach­li­chen Fehlern noch eine desas­tröse Form gegeben. Zudem hat mich wie viele andere empört, dass der Fall einer erwie­se­ner­maßen mani­pu­lierten Bewer­bungs­un­ter­lage – die Bewerbung des erwünschten Kandi­daten Ralph Schwingel wurde vorda­tiert, wie Schwingel selbst einräumt, zugleich auf die Fest­stel­lung Wert legt, dass er diese Datierung nicht selbst vorge­nommen hatte, wer also dann? – von allen Betei­ligten unter den Teppich gekehrt wurde. Über die Gründe der Senats­kanzlei kann ich nur Vermu­tungen anstellen, die privat bleiben, weil sie justi­ziabel wären.

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Es war aber aus vielen Gründen ein Fehler der neuen, noch gar nicht richtig ins Amt gesetzten Rot-Rot-Grünen Regierung und des leider immer noch Regie­renden Bürger­meister Michael Müller, Böhning im Amt zu lassen. Dieser Fehler wird nun zum ersten Skandal der Koalition und zur Belastung für Müller.
Denn seit ein paar Tagen ermittelt die Berliner Staats­an­walt­schaft gegen Böhning. Das hat zwar meines Wissens nichts mit der DFFB-Direk­toren-Besetzung zu tun, die Vorwürfe sind aber noch härter: Vorteils­ge­wäh­rung und Vorteils­an­nahme. »Korrup­tion« darf man das juris­tisch nennen, »Bestechung« nicht. Unsere Justiz liebt die feinen Unter­schiede.
Wir zitieren zum Fall daher am besten den Tages­spiegel: »Es geht um die umstrit­tene Koope­ra­tion zwischen der Senats­kanzlei und der Bera­ter­firma McKinsey. Die Unter­neh­mens­be­ra­tung hatte 2015 unent­gelt­lich das Flücht­lings­ma­nage­ment des Senats unter­s­tützt. Zum Jahres­ende erhielt McKinsey dann von Böhning den Auftrag, an einem Master­plan Inte­gra­tion und Sicher­heit mitzu­ar­beiten – wofür der Senat 238.000 Euro brutto bezahlte. Der ehemalige SPD-Politiker Lutz Diwell hatte im Auftrag von Böhning ein Gutachten verfasst, demzu­folge die externe Beratung des Senats legitim war. Später wurde bekannt, dass Diwell inzwi­schen von McKinsey als Berater verpflichtet worden war. Damit standen Vorwürfe von Korrup­tion und Untreue zulasten des Landes im Raum. Gegen Diwell selbst wird nun jedoch nicht ermittelt, wie Justiz­ver­wal­tungs­spre­cher Hoffmann betonte. (…) Ob Böhning ange­sichts eines Ermitt­lungs­ver­fah­rens Chef der Senats­kanzlei bleiben kann, gilt auch in dessen eigener Partei als fraglich.«
Letzteres ist ja zumindest für Film­freunde eine gute Nachricht. Zugleich gilt, wie in allen Fällen, auch hier die Unschulds­ver­mu­tung.

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Der letzte Tango in Paris war von Anfang an ein Skan­dal­film. Alle Gerichts­ver­fahren zu ihm, alle Zensur­ein­griffe und Verbote des Films trugen bei zu seinem Nimbus als tabu­bre­chendes Meis­ter­werk, das die bürger­li­chen Vorur­teile einer konfor­mis­ti­schen Mittel­stands­ge­sell­schaft direkt atta­ckierte und entzwei­brach. Wenn man den Film heute sieht, ist das nur zum Teil nach­voll­ziehbar. Ein toller Film, getränkt in sehr viel Zeitgeist der frühen Seventies, bleibt er allemal: Ein junges fran­zö­si­sches Hippie-Girl, gespielt von Maria Schneider in ihrem Filmdebüt und ein alternder, todes­sehn­süch­tiger, grau­me­lierter Ameri­kaner, dessen Frau sich gerade umge­bracht hat, und der dadurch von Ennui und Schuld­ge­fühlen gequält wird, gespielt von Hollywood-Superstar Marlon Brando in seinem ersten Ausflug ins europäi­sche Autoren­kino, haben einver­nehm­li­chen Sex in einer leeren Wohnung, in der sie ein paar Tage verleben. Am Ende erschießt aber das Mädchen den Mann – das alles ist bis heute für manche vers­tö­rend, aber auch voller Anspie­lungen an die moderne Kunst, besonders die Malerei Francis Bacons, und an die Begeg­nungen der Ameri­kaner mit Paris, von Scott Fitz­ge­rald und Hemingway bis Fred Astaire, an die abend­län­di­sche Mytho­logie: Eros und Thanatos im Zweikampf.

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Man kann so etwas heute veraltet und verschwur­belt finden. Mir geht es anders: Ich gehöre eher zu jenen vielen Cine­philen, die bedauern, dass kaum ein gegen­wär­tiger Autoren­film je dieses Niveau an ästhe­ti­scher Reflexion und intel­lek­tu­ellem Anspruch erreicht – wohl jeder, der den Film heute sieht, wird baff sein über die Konse­quenz der Vision, und die Offenheit, mit der die Melan­cholie zur Sprache gebracht wird, die Depres­sion, die Gegen­kultur nach der geschei­terten Revo­lu­tion von 1968 erfasste, man wird ihre Hinwen­dung ins Priva­tis­ti­sche, Sexuelle, Esote­ri­sche entdecken, die »Tyrannei der Intimität«, die das Herz jener Restau­ra­tion bildet, in der wir bis heute leben.
Damals schon war dieser Film, der vieles in den Schatten stellt, was heute gemacht wird, eine Revo­lu­tion: Die New Yorker Film­kri­ti­kerin Pauline Kael, eine Legende ihres Berufs­stands, verglich die Wirkung des Films nach seiner Premiere 1972 in seiner Bedeutung für die Kultur­ge­schichte des 20. Jahr­hun­derts mit der Premiere von Igor Stra­vin­skys »Sacre du Printemps«. Von »hypno­ti­scher Erregung«, »primi­tiver Kraft« und »mitreißenden Eroti­zismus« schrieb die erklärte Femi­nistin Kael. Es waren andere Zeiten, auch für den Femi­nismus.

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Heute nun wollen manche den Skandal wieder­holen und dem Film, der seiner­zeit frei­ge­spro­chen wurde, doch noch den Prozess machen.
Maria Schneider, deren Karriere nach diesem Debüt bald ins Stocken kam, hat dieses Stocken Jahr­zehnte später auch damit erklärt, dass sie sich durch diesen Film gezeichnet fühlte. Sie, damals erst neunzehn und mögli­cher­weise etwas naiv, hat sich Jahr­zehnte später darüber beschwert, dass der Regisseur, der einmal eine offenbar private Liebes­szene zwischen den beiden Haupt­dar­stel­lern mitfilmte, diese in den Film hinein­ge­schnitten hat.

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Zeitgeist – dazu gehört, dass man früher wahr­schein­lich zu wenig, jeden­falls andere Formen von Respekt gegenüber Frauen hatte. Wer von Miss­brauch, gar Verge­wal­ti­gung sprechen wollte, der konnte zu hören bekommen: »Hab' dich doch nicht so.« Ob das falsch war oder richtig ist, vermag ich weniger leicht zu entscheiden, als die meisten, die sich heute zu Wort melden. Ich bin nicht sicher, ob Reden für die Betrof­fenen immer besser ist als Schweigen. Sicher bin ich aller­dings, dass die Betrof­fenen es unbedingt selbst entscheiden sollten.
Zeitgeist ist aller­dings auch, dass sich heute die entspre­chende Debatte um 180 Grad gedreht hat. So wie »damals« der vermeint­liche Täter einen Vorschuss bekam, bekommen es heute die vermeint­li­chen Opfer. Wenn es um Verge­wal­ti­gung und Miss­brauch geht, dann siegt der Skan­da­li­sie­rungs­trieb der Gesell­schaft über den Rechts­grund­satz der Unschulds­ver­mu­tung.
Ich frage mich, ob man unseren jetzigem Umgang in vierzig, fünfzig Jahren nicht womöglich genauso einseitig und zeit­geistig finden wird, wie den um 1970.
Wir leben auch heute nicht in der besten aller Welten, im Gegenteil.

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In einem Video bestä­tigte Berto­lucci vor drei Jahren, seine Schau­spie­lerin sei »miss­braucht« worden – ohne das im Detail genauer zu erklären. Er fühle sich schuldig, aber seine Entschei­dung bereue er nicht. Darin bleibt auch Berto­lucci ein Kind einer post­re­vo­lu­ti­onären Epoche, die vom Expe­ri­ment besessen war. Diese Haltung – alles für die Kunst! – ist der Kunst, die ihrem Wesen nach radikal und irri­tie­rend ist, ange­mes­sener als eine, die Kunst der Moral und poli­ti­schen Wünschen unter­ordnet und dienstbar machen will.
Jetzt wurde das Berto­lucci-Video im Namen einer Aktion gegen Gewalt gegen Frauen neu ins Netz gestellt, und über digitale Netzwerke verbreitet. Die Absicht ist klar: Skan­da­li­sie­rung.
Solches Skan­da­li­sieren ist inzwi­schen längst auch in den selbst­er­nannten Qualitäts-Medien en vogue. Meist läuft es so: Der »Spiegel« legt vor und alle legen nach. So war bei Lars von Trier in Cannes, so war es auch diesmal: entweder vermeint­lich Neofa­schis­ti­sches oder Frau­en­feind­li­ches. Viel­leicht noch was gegen Natur­schutz oder gegen Tiere. Das sind die »Stöckchen« (Angela Merkel) über die dann alle springen. Spiegel-Online am Sonntag, FAZ und Süddeut­sche am Montag­morgen.

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Nun fordern manche, die Hollywood Academy sollte Brando und Berto­lucci ihre Oscars aberkennen. Es ist erst einmal im Argu­men­ta­ti­ons­gang bemer­kens­wert. Aber wieder lösen sich in diesen Debatten die Grenzen zwischen Kunst und Leben, zwischen einem Werk und seinen Machern auf, nur ganz anders, in entge­gen­ge­setzter Richtung, als um 1968 – unter den Vorzei­chen einer starken, in jeder Ecke neue Tabus errich­tenden »Poli­ti­schen Correct­ness«. So haben die 68er in einer merk­wür­digen Umdrehung der Verhält­nisse tatsäch­lich gesiegt.

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Aber man muss fragen: Wird ein Kunstwerk, ein Film schlechter, weil einem dessen Macher unsym­pa­thisch sind, oder moralisch und politisch suspekt. Sind Céline, Jünger und Eisen­stein schlechte Künstler, weil sie mit Dikta­turen sympa­thi­sierten? Dann könnte man ganze Galerien und Museen schließen, Werk­aus­gaben und Film­fes­ti­vals die Förderung entziehen. »Zensur findet nicht statt« steht aber im Grund­ge­setz (Art.5).
Wenn wir diesen Grundsatz, dass die Kunst frei ist und frei bleiben muss, ernst nehmen, sollten wir das Mora­li­sieren über die Werke einfach bleiben lassen.

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Gegenüber der Ungnade, die Berto­lucci trifft, ist die Gnade für Werner Herzog erstaun­lich. Denn er hat etwas gemacht, was für einen Künstler wirklich schlimm ist: Schlechte Kunst. Nein, eigent­lich hunds­mi­se­rable.
Und was passiert: Neben ange­mes­senen Verrissen finden alle möglichen Autoren, die sonst gern den strengen Mann geben, und bei Brian De Palma oder Denis Ville­neuve keines­wegs besonders gnädig sind, plötzlich Gründe, Herzog zu vertei­digen. Nichts leichter, als das.
»Ster­bens­lang­weilig« findet es Peter Körte in der FAS, »über die hölzernen Dialoge und über das sparsame Spiel von Veronica Ferres in Werner Herzogs neuem Film Salt and Fire zu spotten.« Mag sein. Aber viel­leicht auch einfach ange­messen.
Muss man nur, um sich weniger zu lang­weilen (um die Leser geht es ja offenbar nicht) sich einen abbrechen – »Salt and Fire ist ein Thriller. Wer einen Thriller wie alle anderen erwartet, wird enttäuscht sein; wer Herzog schätzt, wäre enttäuscht, wenn es ein Thriller wie alle anderen wäre« – und Gründe herbeil­a­bern, um dem Film noch was Gutes abzu­ge­winnen: Die Natur werde »vom Schau­platz zum Haupt­dar­steller ... Sollte es Aliens geben, würden sie vermut­lich hier landen, sollte es sich bei ihnen um intel­li­gentes Leben handeln, ließen sie sich sicher, wie es in der Schluss­se­quenz des Films versucht wird, von einer Magnum­fla­sche Cham­pa­gner anlocken. Die Menschen, die da in der Wüste herum­stehen, würden ihnen vermut­lich gar nicht weiter auffallen.« Das ist sehr schön geschrieben. Aber warum kann man nicht nochmal kurz hinter­her­schreiben, dass Herzog mit diesem Film wirklich jedes Wohl­wollen und jede Tole­ranz­grenze gesprengt hat?
Gene­reller gefragt: Gibt es neben der Kür nicht für jeden Film­kri­tiker auch eine Pflicht?
Natürlich: Wenn Körte den Film jetzt ernsthaft toll fände, müsste er das schreiben, und das wäre ein wirklich span­nender Text. Tut er aber glaube ich nicht. Er möchte nur nicht das machen, was alle machen. Vers­tänd­lich, sympa­thisch, aber am falschen Objekt demons­triert.

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Viel schlimmer aber Ekkehard Knörer bei »critic.de«. Ziemlich früh steht da: »Süda­me­rika benimmt sich, auch weiterhin, sehr süda­me­ri­ka­nisch. ... ein Süda­me­rika der philo­so­phi­schen Medi­ta­tion, der strah­lenden Wüste, von Salz und Feuer und Uturuncu-Vulkan. Egal, ob da ein Hinaus­wollen ist – allemal ist da ein Hinaus­gehen, ein Hinaus­rasen, hinaus aus dem Plot, hinaus aus allen realen geogra­fi­schen und poli­ti­schen Daten, ein Hinaus­eilen, eine horrende Zentri­fu­ga­lität, die alles zerreißt, was Thriller wäre und Forscher­mis­sion. Und dann ist plötzlich eine himm­li­sche oder höllische Ruhe.«
Ein Beispiel für die alte Einsicht, dass gut schreiben nicht genügt, man sollte schon etwas zu sagen haben. Immerhin: Die Ferres mag der Knörer nicht im Gegensatz zum Herzog. »Die Kamera, der Herzog­film zeigen sich an diesem blonden Körper, dem Körper von Veronica Ferres sehr inter­es­siert. Veronica Ferres zeigt der Kamera und dem Herzog­film, was sie kann. Das ist ziemlich erbärm­lich. Es ist zitternde, bebende deutsche Fern­seh­schau­spie­lerei.«
Dann aber »Freilich sind da auch Dialoge, die kann man kaum würdevoll sprechen. Was im Umkehr­schluss heißt, dass der Film nicht auf Würde hinaus­will.« Würde Knörer sowas auch über viele andere deutsche Regis­seure schreiben, jenseits der Berliner Schule und des alten Jung­filmer wie Herzog?
Würde er nicht, behaupte ich.
Im Ästhe­ti­schen, im Unter­schied zum Juris­ti­schen, gilt aber keine Unschulds­ver­mu­tung. Schon gar nicht für Werner Herzog. Der nimmt nur gern die Pose des naiven Narren ein, hat es aber faustdick hinter den Ohren.

(to be continued)