19.05.2016
69. Filmfestspiele Cannes 2016

162 Minuten

Andrea Arnolds American Honey
Andrea Arnolds American Honey hat vieles mit Maren Ades Toni Erdmann gemeinsam, und dann auch wieder nicht.
(Foto: Universal Pictures International Germany GmbH)

Arnold und Ade: Über zwei Filme aus dem diesjährigen Cannes-Wettbewerb, die genau gleich lang sind

Von Till Kadritzke

Die beiden Filme teilen wenig mitein­ander, abgesehen von den paar harten Fakten: Nicht nur sind Toni Erdmann und American Honey von Frauen gemacht worden, deren Nachnamen mit »A« anfangen, und die deshalb, hätte sich nicht Frau­en­ver­steher Almodóvar dazwi­schen­ge­schoben, stolz am Kopfe der meist alpha­be­tisch sortierten Wett­be­werbs­liste thronen würden. Diese beiden Filme sind zudem auch exakt gleich lang – und mit 162 Minuten tatsäch­lich ziemlich lang. Mit dieser Flucht ins Epische jedoch könnten sie unter­schied­li­cher kaum umgehen. Maren Ades Film ist sehr präzise gebaut, konstru­iert eine Welt in und mit der Zeit, hat ein Gespür dafür, welche Momente wann nach­hallen, ohne sie dafür mani­pu­lieren oder drama­ti­sieren zu müssen. Andrea Arnold dagegen versucht verzwei­felt, die Zeit zu vergessen, ihr Film ist ein einziges offenes Ende, scheint selbst zu kaum zu wissen, wohin die Reise seiner Prot­ago­nistin geht oder wie lange sie dauern wird. Er versucht nur, soweit es irgendwie geht, mitzu­reisen, oder besser: sich mitreißen zu lassen.

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Aber von vorn: Über Maren Ades gran­diosen Film wurde viel geredet und geschrieben, dabei viel­leicht etwas zu viel über Szenen­ap­plaus und weniger über Szenen, etwas zu viel über deutschen Humor im Allge­meinen und zu wenig über den Humor dieses Films im Beson­deren. Bei mir wirkt Toni Erdmann vor allem nach, weil hier ein Film seine Figuren nicht durch Intro­spek­tion oder Selbst­er­kenntnis ein paar Wahr­heiten entlockt, sondern durch gnaden­lose Eska­la­tion. Der Film unter­läuft nicht einfach Erwar­tungen, wie man das mitt­ler­weile gerne mal für etwas andere Filme konsta­tiert, sondern agiert das, was in ihm angelegt ist, bis zur letzten Konse­quenz aus. Belässt es nicht bei jener drama­tur­gi­schen Einkehr, die gern subtil genannt wird, häufig aber auch einfach feige ist.

So kommt es im deutschen Kino ja zum Beispiel häufiger mal vor, dass sich Fami­li­en­mit­glieder gegen­seitig Besuche verspre­chen – und ihre Blicke ebenso wie die der Ange­spro­chenen dabei verraten, dass daraus eh nichts wird. Lauter leere Verspre­chungen ersticken die Action im Keim. Ade nun nimmt mittels ihres Prot­ago­nisten Winfried solche dahin­ge­sagten Phrasen ernst, schaut sich an, was passiert, wenn dieser Winfried tatsäch­lich nach Bukarest kommt, seine Tochter Ines besucht – und sein ganzes Kostüm- und Scherz­ar­tikel-Arsenal mitbringt. Im Kino passieren diese Dinge nämlich gerade nicht »eh nicht«, sondern doch.

Die Verklei­dungen, die der Vater sich überzieht, die Identität des Toni Erdmann, die er sich ausleiht, um sich dieser Unter­neh­mens­be­ra­terin von Tochter anzu­n­ähern, stehen dabei nicht für eine plumpe Kritik an der Fassa­den­haf­tig­keit der modernen Business-Welt. Viel­leicht ist Toni Erdmann eher so etwas wie ein Aufruf zur Verviel­fäl­ti­gung der Fassaden. Denn letztlich führt dieser Erdmann ja nur jene Bewegung konse­quent zuende, der sich die Welt, für die seine Tochter steht, verschrieben hat: die ständige Flexi­bi­lität und Neuer­fin­dung. Wo Ines die entspre­chenden Ressourcen aus ihrem Innen heraus­zu­holen versucht – mit ihren stetigen Anpas­sungen an Meeting-, Network- und Präsen­ta­tions-Situa­tionen, mit ihrem über Skype zuge­schal­tetem Personal Coach, in dieser ewigen Feedback-Schleife der perfekten Perfor­mance –, holt Winfried sie sich von außen: Schminke, Masken, Kostüme, falsche Namen, falsche Visi­ten­karten.

Nicht um Entfrem­dung geht es also, sondern um Verfrem­dung. Dieser kann gelingen, was einer scho­nungs­losen Offenheit zwischen Vater und Tochter niemals gelingen wird: weniger große Versöh­nung als neue gemein­same Erfah­rungen. Dafür darf man den Zufall nicht ausschließen, auch nicht im Kino, und schon gar nicht mit dem Argument, dass so etwas ja ohnehin nicht passiert. Es passiert: Wenn das passende Kleid und der pünkt­liche Empfang von Gästen nicht in eine Rangfolge zu bringen sind, dann steht man eben nackt da. Und passt die eigene Perfor­mance der neuen Situation an. Schließ­lich heißt es doch eh, gegen das Lampen­fieber helfe es, sich das Publikum als ein nacktes vorzu­stellen. Noch so ein Spruch, den Toni Erdmann sehr ernst nimmt.

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Gab es in Cannes kaum jemanden, der in die Lobes­hymnen für Toni Erdmann rein­grät­schen wollte, ist Andrea Arnold mit ihrer Liebes­er­klärung an jugend­liche Flucht­im­pulse kaum auf Gegen­liebe gestoßen. Nur wenige, die ich gespro­chen oder gelesen habe, konnten mit American Honey etwas anfangen. Viel­leicht hat das damit zu tun, dass dieser Film gar nicht so richtig will, dass man etwas mit ihm anfängt; viel­leicht auch damit, dass Länge und Bild­sprache von einer Ambition künden, die dem Film selbst dann recht egal ist. Diese Ambition steckt ja schon im Titel. Was mit »American« anfängt, das verspricht mytho­lo­gi­sche oder zeit­ana­ly­ti­sche Annähe­rungen an Fiktionen der unbe­grenzten Möglich­keiten und den neuesten Fakten, die diese begrenzen.

Tatsäch­lich findet American Honey im Mittleren Westen unzählige Americana-Motive. Das 4:3-Format des Films lässt die Truck­stops und Bill­boards, die öden Land­schaften, die Neon­schilder der Fastfood-Ketten nach Foto­gra­fien aussehen. Und doch ist Arnolds Film eigent­lich bescheiden. Er zieht sich nicht in eine Amerika-Totale zurück, sondern vollführt einen Zoom auf Street­view-Level, bis auf einen Highway irgendwo in Kansas – und folgt dann dem Begehren, das er dort antrifft. In diesem Fall: Die 18-jährige Star, gespielt von der Newco­merin Sasha Lane, die sich zu Rihannas »We Found Love« in einem Walmart von dem verrückten Jake (Shia LaBoeuf) angezogen fühlt und sich seiner Crew anschließt. Diese Crew reist durch wohl­ha­bende Gegenden und verkauft Magazin-Abos.

Andrea Arnold ist mehrere Monate mit einer solchen Crew durch die Staaten gereist, aber trotz dieser Annähe­rungs­form, die eher dem doku­men­ta­ri­schen Kino entspricht, ist American Honey weniger eine beglei­tende Studie, die von Trost­lo­sig­keit und Preka­rität erzählt, als eine rasante Fahrt zu wilden Pop-Beats. Star, ihre Jungs und Mädels, vor allem die Musik, die sie hören, sind dem Film selbst in jeder Hinsicht vorgängig, bestimmen ihn derart, dass es der Kamera nur gerade so zu gelingen scheint, aus ihren Bewe­gungen irgendwie Kino zu machen. Von Pop beglei­tete Filme drohen ja schnell zu nerven, in Musik­video-Ästhetik und Bebil­de­rungen von Playlists abzu­gleiten. Hier jedoch sind es diese jungen Menschen selbst, die die Tonspur zudröhnen. Man kann Arnolds Haltung ihren Figuren gegenüber für simpel affir­mativ halten, aber ist der Film gar nicht in der Lage etwas zu affir­mieren, kann nichts anderes zu tun als sich affi­zieren zu lassen und selbst wieder 18 zu werden. »We found love in a hopeless place«, heißt es bei Rihanna. Dankbare Catchline für diesen Film. Andrea Arnold gibt sich diesem ohnehin schon über­stra­pa­zierten Track nicht nur in einer, sondern in zwei Sequenzen hin. Und beide Male ist es ganz wunderbar.