13.09.2015
72. Filmfestspiele von Venedig 2015

Ist Geschmack nur eine Frage des Geschmacks?

Anomalisa von Charlie Kaufmann
Charlie Kaufmanns Anomalisa ist bislang Favorit von Susan Vahabzadeh
(Plakat: Paramount Pictures Germany GmbH)

Favoriten, Urteile, allererste Preise und ein ganz großartiger Wettbewerbsfilm aus der Türkei – Notizen aus Venedig, Folge 7

Von Rüdiger Suchsland

a»Wären wir bereit für härteren Stoff?« – Verena Lueken, FAZ vom 7.9.15

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CIAK (sprich: »Tschack!«) heißt in Venedig das tägliche Festi­val­ma­gazin, das kostenlos ausliegt. Der größte Teil der Texte ist italie­nisch, den kann ich also eher vermuten, der Rest ist auf Englisch. Gar keine Sprach­kennt­nisse braucht man für die Sternchen, die dort mehr oder weniger geschätzte Kollegen für die Filme vergeben. Es gibt gleich drei Tabellen: Für inter­na­tio­nale Kritiker, für italie­ni­sche Kollegen, und fürs Publikum. Aus Deutsch­land dabei sind FAZ-Redak­teurin Verena Lueken und Susan Vahabzadeh von der SZ.
Wenn man das dann mal in Ruhe durch­guckt und vergleicht, gibt es paar inter­es­sante Beob­ach­tungen: Alexander Sukourov ist sowieso seit jeher ein allge­meiner Kriti­ker­lieb­ling. Sein neuer Essayfilm Fran­co­fonia bekommt nun überall (und wie ich finde, sehr zu Recht) Topwer­tungen, und führt bei Italie­nern und Publikum deutlich. Bei den Inter­na­tio­nalen steht er immer noch an zweiter Stelle – denn die beiden schlech­testen Wertungen die ihn die Führung kosten bekommt Fran­co­fonia ausge­rechnet von den beiden deutschen Kolle­ginnen.

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Woran liegt das? Mit irgend­einer Borniert­heit gegenüber dem Thema – europäi­sche Kunst trifft deutschen Faschismus – hat das in diesem Fall schon mal nichts zu tun. Eher schon viel­leicht damit, dass Sokurow erklärter Putin-Freund ist?
Ein wenig viel­leicht. Ich würde hier aber noch dreierlei anderes vermuten: Erstens eine gewisse geschmack­liche Fan-Girl-Haltung gegenüber New York und den beiden – natürlich nicht schlechten, aber meiner Ansicht nach auch nicht richtig guten – New Yorker Hipster-Filmen von Charlie Kaufmann und Laurie Anderson unter­stellen: Vahabzadeh gibt Kaufmanns Anomalisa ihre Höchst­wer­tung. Das hätte ich schon vorher gewettet.

Verena Lueken ist der Sokurov-Film offenbar zu unpo­li­tisch – denn ihre Topfilme sind Amos Gitais Rabin, the Last Days (über den ich in Folge sechs geschrieben habe) und Abluka vom Türken Emin Alper. Das versöhnt mich etwas mit dem unver­s­tänd­li­chen Abwat­schen von Sokurov. Im Fall von Gitai würde ich nur erwidern: Der ist politisch extrem wichtig, aber filmisch schwach, zum Teil dilet­tan­tisch – wären da nicht die Archiv­auf­nahmen.
In ihrem FAZ-Text vom 7.9. zu Sokurov fragte Lueken: »Worauf will er in seinem neuen Film hinaus, der hier weit­läufig bewundert wird?« Es scheint der Kollegin zu chaotisch, sowohl im Stil­misch­masch, wie in den verschie­denen Themen des Films, die oft nur gestreift und den aufge­wor­fenen Fragen, die oft nicht beant­wortet werden. Diese Offenheit finde ich ja gerade spannend. Mir sind hier und im Kino des letzten Jahr­zehnts viele Filme zu geschlossen, zu klar, zu simpel, zu eindi­men­sional. Ich glaube wir brauchen mehr Chaos und viel mehr stilis­ti­sche Unrein­heit, um Kino wieder spannend und ästhe­tisch fort­schritt­lich zu machen.
Sokurov gelingt längst nicht alles, aber doch genug. Vor allem versucht er viel, und erzählt Dutzende spannende Geschichten.
Aller­dings hat Lueken mit anderem nur allzu recht: »Es gibt keinen einzigen Juden in diesem Film. Dafür später Doku­men­tar­auf­nahmen aus dem Hunger­winter in Leningrad, wo dann endlich auch mal von Toten die Rede ist, von einer Million Toten. Aber haben sie für die Kunst im Louvre mit ihren Leben bezahlt? Vom Film aus gesehen, ließe sich diese absurde Folgerung ziehen.«

Die oben erwähnten Vorwürfe konnte man im Übrigen nicht nur auch Amos Gitai und Laurie Anderson, sondern natürlich auch Chris Marker machen. Wenn man dann demge­genüber dann Tom Hooper ungemein verlo­genen, dazu aalglatten The Danish Girl vorzieht, und als »mit großer Sorgfalt geschmack­voll ausge­stat­tete Produk­tion« und »zarter Zugang zu diesem Thema« lobt, verstehe ich die Welt wirklich für einen Moment nicht mehr.

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Gefolgt wird Fran­co­fonia von Gitais Rabin, the last days. Gute Wertungen erhält auch die fran­zö­si­sche Justiz-Komödie L’Hermite von Christian Vincent, einem der wenigen heiteren Filme im Wett­be­werb.
Große Unter­schiede gibt es dagegen bei Jerzy Skoli­mowski. Der wird von den Italie­nern gut gefunden, von den inter­na­tio­nalen weniger, erst recht nicht von den beiden Deutschen, die hier ätzende Tiefst­wer­tungen geben. Was sagt uns das nun? Entweder hat es in diesem Fall dann doch mit der Frau­en­frage zu tun, damit, dass man »die alten Männer« (auch Sokurov ist einer) satt hat. Obwohl Skoli­mowski innerlich der jüngste von allen ist, und man seinen Film 11 Minutes, wenn man ihn schon nicht mag, auch gut und gern »kindisch« nennen könnte.
Aber Barbara Hollander, die ich nicht kenne, und die für eine poli­ni­sche Zeitung unterwegs ist, gibt dem Film die Höchst­wer­tung. Viel­leicht in diesem Fall, weil er Pole ist? Ist Geschmack am Ende doch national? Allemal ist Geschmack nicht immer nur eine Frage des Geschmacks.

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So wenig, wie Filme­ma­chen: Abluka, der zweite Film des jungen türki­schen Regis­seurs Emin Alper (sein Debüt Tepenin ardi – Beyond the Hill gewann 2012 den Caligari-Preis auf der Berlinale), im Wett­be­werb um den Goldenen Löwen, mutet seinem Publikum einiges zu. Aber er bietet ihm noch viel mehr: Abluka bietet eine besondere Erfahrung: Vers­tö­rend, unklar, irri­tie­rend über sein Ende hinaus, dabei offen­kundig von hoher Qualität. Das Publikum bei der Pres­se­vor­füh­rung blieb im Saal, applau­dierte keines­falls frene­tisch, aber ohne Buhs, respekt­voll und deutlich, immer noch unter dem Bann dessen, was es da gesehen hatte.

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Die Musik des Künstlers Cevdet Erek, mit der der Film einsetzt, ist schon mal großartig. Sofort kommt einem der B-Horror der 70er Jahre in den Sinn, jener Zeit, in der im Kino noch alles möglich war. Auch sonst ist dies ein toller Film, toll im doppelten bis drei­fa­chen Sinn des Wortes: »Abluka« bedeutet »Bela­ge­rungs­zu­stand«, und das ist präziser, als der inter­na­tio­nale Titel: Frenzy, auf Italie­nisch »Follia«, also »Wahnsinn«, »Verrückt­heit«, mit einem Hauch von Panik – dies ist alles in allem großartig, aber auch ein krasser, wahn­wit­ziger Film – und eben auch tollwütig: Gefähr­lich und anste­ckend.

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Zu Beginn bebt die Erde – ein alltäg­li­ches Phänomen in Istanbul, aber in diesem Fall auch eine Metapher für erschüt­terte Menschen, und eine ganze Gesell­schaft auf unsi­cherem Grund. Abluka ist ein beklem­mender Para­noiath­riller mit Science-Fiction-Elementen, die aller­dings auf unge­wohnte Weise präsen­tiert werden. Zugleich ein erschre­ckend aktuelles Werk. Denn das hier gezeich­nete Bild eines Poli­zei­staates, in dem fort­wäh­rend Gefangene an myste­riöse Orte verschleppt werden, in dem ein Geheim­dienst regiert, und jeder jeden bespit­zelt, die Nachbarn sich denun­zieren, und in der alle Menschen zunehmend an ihre eigenen Lügen glauben, kann zur Zeit gar nicht anders verstanden werden, denn als Analogie auf die derzei­tigen Verhält­nisse in der Türkei, die sich gerade mit Sieben­mei­len­stie­feln von demo­kra­ti­schen Gepflo­gen­heiten entfernt. Alper kreiert eine seltsame, bizarre Welt aus Miss­trauen, Hilf­lo­sig­keit und Angst, in der die Gewalt allge­gen­wärtig ist: Wilde Hunde streunen hier in größeren Scharen umher, und eine der Haupt­fi­guren ist ein Hunde­fänger, der täglich viele der Tiere erschießt. Autos brennen, Bomben explo­dieren, es gibt Poli­zei­blo­ckaden und wilde Razzien.

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Dies sind Moment­auf­nahmen, die auf meine türki­schen Freunde nicht wie Fiktion wirken. »There are quarters like this in Istanbul« erzählt eine Freundin, deren Namen ich hier jetzt nicht nenne, weil die Verhält­nisse eben so sind, wie sie sind.
Es gäbe dort Viertel, in die die Touristen nicht hinkommen, die die Polizeit ständig, 24/7 abriegelt.
Allemal entwi­ckelt sich, dass macht der Film wie auch andere Beiträge klar, die Türkei zu einem Land, in dem der Poli­zei­staat verin­ner­licht wird.

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Einmal heißt es in Abluka: »This country is getting really strange. Everyone sitting in their wholes, doing weird things.«

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Unsrer Gegenwart zum Verwech­seln ähnlich sehend, könnte dies doch auch ein Horror- oder Zombie­film sein. Oder ein Western. Denn die Haupt­figur, die nach 20 Jahren aus dem Gefängnis in seine Heimat­stadt zu seinem einen Bruder zurück­kehrt, ist ein einsamer Schweiger, ein »No Nonsense Guy«, mit dem wie mit anderen Western-Chara­keren nicht zu spaßen ist, bei dem es sich aber auch um eine verlorene Seele handelt. Zugleich bleibt der Regisseur ein unzu­ver­läs­siger Erzähler: Alles ist möglich, auch dass es sich hier doch »nur« um einen Alptraum handeln könnte – den der Haupt­figur, oder den des Filme­ma­chers.
Dieser hervor­ra­gende Film dürfte durchaus Chancen auf einen der Haupt­preise von Venedig haben.

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Abluka ist nicht der einzige Film, der seinem Publikum klarmacht, dass Gewalt überall existiert. Nicht nur in Kriegs­ge­bieten. Wer von Gewalt erzählen will, kann von der Gesell­schaft nicht schweigen, in der sie sich ereignet.

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Der Stadt als solcher skeptisch bis feind­selig gegenüber steht offenbar Sezen Tüzen, die Regis­seurin von Mother­land, ihrem Debüt, das in der »Settemana« läuft. Das muss man zumindest aus Tüzens Antworten beim Gespräch nach dem Film schließen, das wieder einmal ein Beispiel dafür war, wie Filme­ma­cher ihr Werk beim anschließenden Gespräch selbst noch schlechter machen.
Mother­land erzählt von einer jungen Frau, die sich ins Dorf und Haus ihrer jungst verstor­benen Groß­mutter zurück­zieht, mit moderne Turn­schuhen, iPhone und Computer, um ein Buch­pro­jekt anzu­schließen. Aber auf dem Land gegen die Uhren anders, und als sich auch noch ihre Mutter einlädt, um sich recht dominant um die Tochter »zu kümmern«, legt sich ein magischer Bann über das Haus. Die Tochter leidet unter Schreib­blo­ckaden, und wirkt auch sonst so blockiert wie ihr Auto, das in der Werkstatt des Dorfes repariert wird.
Dem schaut man eine ganze Weile zu. Man sieht, dass die Mutter an Geister glaubt, sich im Dorf wohlfühlt, und mit Vergnügen täglich Verwand­ten­be­suche erhält. Man hört das Geschwätz der Alten, das bei uns auch nicht anders ist, als ihre Binsen­weis­heiten, dass das Leben eben seine Regeln hat, und als eben diese Regeln die immer mit »A Mother should always...« anfangen und mit »A Daughter should better...« weiter­gehen.
Und man fragt sich, warum hier die Tochter die Mutter nicht endlich rauswirft,oder selber geht? Dass sie so keine Zeile schreiben wird, das aber muss, ist klar.

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Mother­land ist gelungen, aber unaus­ge­goren, manchmal schlecht erzählt oder erklärt, und voller kleiner Fehler, mit Längen und ener­vie­renden Momenten. Die Regis­seurin spielt Stadt gegen Land aus, und insze­niert die Macht der Mütter. Diese macht der Tochter immer ein schlechtes Gewissen, trieft aber vor Selbst­mit­leid – es geht nur um sie.
In den letzten Minuten stürzt der Film dann richtig ab: War es noch produktiv provo­zie­rend, die Tochter zu sehen, wie sie sich am Computer selbst befrie­digt, geht sie später in selbst­zer­stö­re­ri­schem Impuls allein in ein Waldstück, Dort hat sie Sex mit dem Dorf­trottel, bei dem bis zum Ende nicht ganz klar ist, wer da wen verge­wal­tigt?
Was soll das jetzt? Eine zusam­men­hang­lose, auch etwas hilflos insze­nierte Szene, und damit ein bescheu­ertes Ende, das den ganzen Film ruiniert.

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Die Mostra de Cinema von Venedig neigt sich dem Ende zu. Nach elf Tagen Wett­be­werb werden am Sams­tag­abend die Goldenen und Silbernen Löwen, sowie weitere Preise vergeben.
Aller­erste Preise gibt es schon: Sie kommen von der »Fedeora«, der »Fede­ra­tion of Film Critics of Europe and the Medi­ter­ra­nean«. Dabei handelt es sich um eine Abspal­tung von Dissi­denten des inter­na­tio­nalen Kriti­ker­ver­bandes »Fipresci«. Im Mai 2010 gründete sich diese Gruppe inter­na­tio­naler Film­kri­tiker, der ein paar durchaus bekannte Kollegen angehören.
Die vier­köp­fige Jury vergibt sechs Preise. Im Wett­be­werb gewann Fran­co­fonia und bestätigt damit seine Favo­ri­ten­rolle. »Fran­co­fonia is a complex film exploring themes of European culture in a chal­len­ging, sometimes confron­ta­tional, but always poetic voice«, lautet die Begrün­dung. Da kann ich nicht wider­spre­chen. Den Satz aller­dings hätte man so aber auch über geschätzte 15 andere Filme schreiben können.
In den »Gionate degli autori zeichnet man Under­ground Fragrance vom Chinesen Pengfei als besten Film aus, Ruchika Oberoi für Island City als besten Regisseur, und Ondina Quadri für Arianna als beste Schau­spie­lerin.
Und in der ›Settemana‹, die diesmal im Gegensatz zum letzten Jahr am Unauf­fäl­ligsten blieb, Kalo Pothi von Bahadur Bham Min als besten Film, und Benthey Deans Kamera bei Tanna

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Heute werden später auch bereits die »Preise der unab­hän­gigen Film­kritik«, der »Bisato de Oro« verliehen, den ich letztes Jahr selbst mit Von Caligari zu Hitler gewonnen hatte. Präsident der Jury aus inter­na­tio­nalen Kritikern ist ausnahms­weise nicht Josef Schnelle, der diesmal nicht nach Venedig kommen konnte – und den wir von hier aus von Herzen grüßen, und hoffen, er liest das hier alles auch.

(to be continued)