24.05.2013
66. Filmfestspiele Cannes 2013

Böse liebe Kinder

Szenenbid The Bling Ring
Reich, jung und gierig: The Bling Ring
(Foto: Tobis Film GmbH)

Die Schönen und die Verdammten: Sofia Coppola und Francois Ozon erzählen in Cannes von den Sünden der Jugend, der Iraner Asghar Farhadi von Schuld, Trost und Vergebung – Cannes-Notizen, zweite Folge

Von Rüdiger Suchsland

Diesmal prägt die ersten Festi­val­tage eine auffal­lend gute Program­mie­rung. Als ob Thierry Fremaux dem unan­ge­foch­teten Meister dieser Klasse, Ex-Venedig-Boss Marco Müller, Konkur­renz machen wollte, webt er ein dichtes Netz aus Bezügen und Korre­spon­denzen, in dem ein Film als Kommentar des anderen wirkt, gleiche Geschichten parallel erzählt werden, und Leit­mo­tive – wichtige wie unwich­tige – heraus­kris­tal­li­sieren.

+ + +

»Karneval der Tiere« vom fran­zö­si­schen Kompo­nisten Saint-Saens das ist seit über zehn Jahren die Musik zum Vorspann der offi­zi­ellen Selektion des Cannes-Film­fes­tival. Durchaus program­ma­tisch: Denn was sind diese Filme­ma­cher und Stars und Film­men­schen hier an der Côte anderes, als ein bunter Zoo höchst merk­wür­diger Tiere. Zu ihnen gehören natürlich irgendwie auch wir Film­kri­tiker. Wir haben unseren eigenen Ort, viel­leicht das Exotarium. Eine sehr spezielle, sehr liebens­werte und geliebte ist das Spiel, das unser argen­ti­ni­scher Freund Diego Lerer veran­staltet. Seit einigen Jahren versam­melt er Freunde und Bekannte während des Festival zu einem sozialen Netzwerk in dem wir alle Filme, die wir sehen, bewerten – nach dem sehr einfachen Schema 0-10 Punkte. Das ist natürlich zu primitiv für jeden von uns, aber wenn man darum weiß, und dazu steht, funk­tio­niert es wiederum sehr gut. Der Ort für die nötige größere Diffe­ren­zie­rung sind ja unsere Kritiken.

+ + +

In der Gesamt­heit gibt diese Aufstel­lung übrigens dann doch ein ganz aussa­ge­kräf­tigen und für die Marke­ting­frak­tion vermut­lich wichtigen Indikator dafür ab, wie die Cannes-Filme (und eben nicht nur der Wett­be­werb) bei einigen der besten Kritiker der Welt ankommen. So sagen wir das jetzt mal, in alle gebotenen Unbe­schei­den­heit.
Inter­es­sant ist natürlich auch, was die Bewer­tungen über Tempe­ra­ments­un­ter­schiede verraten. Manche bleiben fast immer unter dem Durch­schnitt, andere sind deutlich darüber – wie ich bisher auch am vierten Tag mit meinen Bewer­tungen.
Manche versuchen sehr objektiv zu sein, andere urteilen sehr subjektiv, setzen Filme, die sie mögen, also tenden­ziell hoch, Sachen, die man zwar quali­tativ hoch­wertig, aber trotzdem doof findet, deutlich runter. Und sei es nur um den Durch­schnitts­wert zu senken.

+ + +

»Young & Beautiful« sang Lana del Rey zur Eröffnung. Die Sängerin ist mit diesem Song der Star des Sound­tracks von The Great Gatsby mit dem am Mittwoch die Film­fest­spiele von Cannes eröffnet wurden. Wer nun der Ansicht war, dass Baz Luhrmanns Roman­ver­fil­mung auch als meta­pho­ri­scher Kommentar auf unsere Gegenwart zu verstehen sei, der sollte sich einmal den neuen Film von Sofia Coppola angucken: »Dedicated to Harris Savides« steht auf der Leinwand, bevor es losgeht. Coppolas Kame­ra­mann in diesem Film und in Somewhere, der auch bei den wich­tigsten Filmen von Gus Van Sant und in David Finchers The Game und Zodiac und auch für Jonathan Glazers groß­ar­tigen Birth die Bilder gestal­tete, war im Oktober 2012 kurz nach Ende der Dreh­ar­beiten mit nur 55 Jahren an einem Hirntumor gestorben.

+ + +

Mit einem Einbruch geht es los, »Shit« hört man, dann sind die Jugend­li­chen drin: Girls, die Fun haben, in Schuhen und Klamotten baden. Ein Hauch von Spring Breakers. Wir sehen Luxus im Überfluß: Kleider! Schuhe!! Schmuck!!! Dazwi­schen der aus Steinen gelegte Schriftzug »Rich Bitch«. Dazu Musik. Marken, eine Feier der Ober­flächen. Man denkt sofort an Marie Antoi­nette.
»Based on real events« steht auf der Leinwand, der Hinweis auf einen »Vanity Fair«-Artikel, der alles inspi­rierte: »The Suspects wore Loubou­tins«. Dann ist der Vorspann zu Ende.
Emma Watson schwa­dro­niert vor einer Fern­seh­ka­mera über die »huge learning lesson«, die sie gerade erlebe. Offenbar wird ihr der Prozeß gemacht. Ein Insert orien­tiert uns: »one year earlier«.
Ein Mädchen­schlaf­zimmer fast ganz in Weiß, ein großes Bett, ein Bowie-Poster an der Wand. Eine all american family beim »morning prayer«. Mutter und drei Töchter, die Töchter gelang­weilt, die Mutter absurd engagiert. Ihr Wunsch: »to be the best person to the greater benefit of the planet.«

+ + +

The Bling Ring erzählt eine tatsäch­liche Geschichte nach, die vor ein paar Jahren die Promiwelt von Los Angeles erschüt­terte: Eine Gruppe von High-School-Schülern, die meisten von ihnen Mädchen und aus wohl­ha­benden Verhält­nissen, war über Monate immer wieder in die Villen von Glit­zer­stars wie Paris Hilton und Lindsay Lohan einge­drungen, und hatte dort teuerste Marken­kla­motten, Schmuck und Geld mitgehen lassen. Von Einbruch möchte man hier trotz allem kaum sprechen, denn zu den vielen Merk­wür­dig­keiten dieses Falls gehört, dass nie ein Fenster einge­schlagen oder sonstwie Gewalt angewandt wurde, nie heulte irgend­eine Alarm­si­rene. Denn die Promis gingen mit ihrem Hab und Gut offenbar überaus leicht­sinnig um: Bei Paris Hilton lag der Schlüssel unter der Fußmatte, bei andern standen Fenster oder Türen einfach offen. Per googeln hatten die Kids, die viele ihrer Opfer verehrten, und vor allem deswegen stahlen, um durch ein Desi­gner­s­tück ihrer Lieblinge diesen noch näher zu kommen, die Adressen erfahren. Und wann ihre Bude sturmfrei war, posteten die Stars gleich selbst auf Facebook.

+ + +

Sofia Coppola erzählt all dies daher auch aus Sicht der Kids, die Ernst und Spaß nicht unter­scheiden können, und das Einbre­cher­da­sein als candy store erleben, mit mehr als einem Hauch von Bonnie & Clyde – und doch zugleich noch mehr als eine sarkas­ti­sche Satire auf Kons­um­rausch, Medi­en­kultur und Promiwahn. Ganglea­derin Rebecca – eine Halb­ko­rea­nerin, womit am Rande erwähnt einmal mehr die Böse eine Asiatin ist. Oder sind die nur geborene Führungs­per­sön­lich­keiten? – ist ein echtes fashion addict: »I want some Chanel« stöhnt sie, und los gehts…

Da Coppola vor allem ein Genie der Schau­werte und der Ober­flächen ist, stellt The Bling Ring auch die Obszö­nität des Luxus mancher Super­rei­cher aus: Immer wieder sieht man wohn­zim­mer­große Klei­der­schränke mit Haute-Couture, Kisten voller echtem Schmuck, cham­pa­gner­fla­schen­große Flacons mit Edel­parfüm – Qualität in Quantität und zwar einem Ausmaß, das einen König Midas neidisch machen muss. Wollte man einen Gatsby unserer Gegenwart zeigen, dann müsste dessen Villa genau so aussehen, und statt auf Long Island in den Holly­woodhills liegen – und die ange­be­tete Daisy wäre ein drogen­süch­tiges Unter­wä­sche­model. Moral­fragen bleiben in dem hoch­gradig unter­halt­samen The Bling Ring weit­ge­hend außen vor. Die Jugend­li­chen werden zwar irgend­wann erwischt und verur­teilt; Coppola selbst aber urteilt nicht, sondern zeigt uns einfach, wie die Kinder unserer Wohl­stands­ge­sell­schaft ihre Tage verbringen.
Der Blick auf sie ist so neidisch wie fassungslos.

+ + +

Bei vielen Kollegen kommt der Film trotzdem vergleichs­weise schlecht an. Warum? Mit Ernesto aus Chile und einem seiner Kollegen habe ich eine lange Unter­hal­tung darüber: Es wieder­hole sich immer alles, nach einer halben Stunde bringe der Film nichts Neues, lautet ein Gegen­ar­gu­ment, ihr Stand­punkt sei unklar und unaus­ge­goren, ein anderes. All das leuchtet mir kaum ein. Zum ersten Punkt ist zu sagen, dass sich der Film zwar sehr wohl weiter­ent­wi­ckelt. Aber er setzt auch, wie Coppola immer, auf Wieder­ho­lungen und den Effekt des Seriellen. Denn genau darum geht es ja auch inhalt­lich: Um das Immer­gleiche; um die Leere des Über­flusses. Coppola will vom System des Luxus erzählen. Und das kann man nur, wenn man ihn darstellt, nicht symbo­lisch, sondern in reiner Quantität. Wenn man Überfluss auch als solchen zeigt.

Der Stand­punkt scheint mir auch klar zu sein: Er liegt neben der erwähnten Medien- und Kons­um­kritik, dem Spott über den Promiwahn und öffent­liche Dummheit, sehr einfach darin, dass sie in diesem konkreten Fall Opfer und Täter gleich­setzt. Die Moral von der Geschicht' ist, dass es keine Moral gibt. Die Promis sind genauso dumm, und gierig und obszön, wie die Kids, die sie bestehlen. Und natürlich haben sie mitschuld, daran, beraubt zu werden. Die Kids sind die Geister, die sie gerufen haben, sie sind auch Vorboten jener Revo­lu­tion, die diese Kons­um­kultur, für die sie symbo­lisch stehen, eines nicht so Tages hinweg­fegen wird.

+ + +

Ich werfe dem Film eher umgekehrt vor, dass er in alldem nicht konse­quent genug ist. Dass er sich mit der Mehr­heits­ge­sell­schaft darin gemein macht, dass er ihr am Ende den Triumph gönnt, die Kids im Gefängnis zu sehen. Sie haben zwar tausende von Face­book­freunden, Fanpages und ähnliches, und werden, wenn es gut läuft, bald Memoiren schreiben, die dann viel­leicht auch noch verfilmt werden. Aber wir sehen sie am Ende in sehr unmo­di­schen orangenen Klamotten hinter Gittern. Das hätte nicht sein müssen.
Zu den vielen Fetischen der sympa­thi­schen Feti­schistin Sofia Coppola gehört leider auch der unsym­pa­thi­sche Fetisch namens Fakten­wirk­lich­keit. Aber wer inter­es­siert sich im Kino schon für »real events«?

Wie eine deutsche Histo­ri­kerin fuchtelt Coppola mit den Quellen herum, um damit doch eigent­lich gar nichts zu beweisen. Wer den erwähnten »Vanity-Fair«-Artikel liest, wird fest­stellen, wie genau sich Coppola an die Fakten hält, wie sie sogar ganze Szenen und Dialoge, zugegeben sehr gute, von der Realität schreiben ließ.

+ + +

Der beste Einwand gegen The Bling Ring scheint mir ein anderer, aber verwandter zu sein: Coppola zeigt eine Handvoll Menschen, die sich nehmen, was sie wollen. Und sie zeigt sie positiv. Damit feiert sie Menschen, die im Prinzip nichts anderes sind, als ein Gatsby: Ruchlose Kapi­ta­listen. Also Figuren, die man, wenn wir hier schon über Moral und Politik reden, nicht feiern sollte.

So kann man argu­men­tieren. Das Gegen­ar­gu­ment lautet meines Erachtens: Sie zeigt nicht Kapi­ta­listen, sondern Hedo­nisten. Sie zeigt Gesten und Posen, zu denen die der Coolness ebenso gehören, wie die des Genuß, der Lust, der Gegen­wär­tig­keit, des Ästhe­ti­zismus, der Moral­kritik. Die Kids, die im Zentrum des Films stehen, sind Outsider und von Anfang an Verlorene. Das was sie ihrer Gegenwart, ihren Eltern, Moral und Recht ihrer Gesell­schaft entge­gen­halten, ist die schon von vorn­herein »ohnmäch­tige Utopie des Schönen«, von der Adorno in der »Minima Moralia« (§ 58) schreibt: »So gerät das Schöne ins Unrecht gegen das Recht und hat doch Recht dagegen. Im Schönen bringt die hinfäl­lige Zukunft dem Moloch des Gegen­wär­tigen ihr Opfer dar: weil in dessen Reich kein Gutes sein kann, macht es sich selber schlecht, um als Unter­lie­gendes den Richter zu über­führen. Der Einspruch des Schönen gegen das Gute ist die bürger­lich säku­la­ri­sierte Gestalt der Verblen­dung des Heros aus der Tragödie.«
Man muss in diesem Sinn auch eine Figur wie Gatsby – wie neulich erwähnt auch ein Roman­tiker – retten.

+ + +

Die Provo­ka­tion von Coppolas Art des Filme­ma­chens liegt aber noch woanders: Sie liegt darin, dass diese Regis­seurin die Inhalts- und Themen­las­tig­keit, das Content- und Plotdogma des zeit­genös­si­schen Kinos nicht akzep­tiert. Kino heißt zeigen, nicht erzählen. Es heißt Bilder statt Worte. Ein guter Test ist es immer, einen Film einmal ohne Dialoge anzu­gu­cken. Erst wenn man ihn dann noch gern guckt, ist er wirklich gut. Ton bedeutet auch nicht immer Worte, es kann atmo­sphäri­scher Ton sein, es kann sich um Musik handeln. Worte sind über­be­wertet.
Coppola stellt sich eine hoch­in­ter­es­sante, zentrale Frage: Wie erzählt man von Inhalten ohne Plot? Ohne Psycho­logie? Ohne Mora­li­sieren?
Coppola akzep­tiert die Differenz von Sein und Schein, von Form und Ober­fläche nicht, sondern ebnet sie ein. Das wirkt dann so, als seien ihre Filme reine Ober­fläche, nur noch Form. Es wirkt wie Ästhe­ti­zismus. Tatsäch­lich aber setzt sie sich gleich, paral­le­li­siert sie entdeckt sie im Sein den Schein, und im Schein das Sein.

Jede Ideologie produ­ziert ihre eigenen Anti­thesen. So wie der aufge­klärt-auto­ri­täre Despo­tismus des 18.Jahr­hun­derts eine aufge­klärt-auto­ri­täre Revo­lu­tion erzeugte, so erzeugt der konsu­mis­ti­sche Popu­lismus unserer Tage auch konsu­mis­ti­sche Revolten. Das, was die meisten an diesem Film, bzw. seinen Haupt­fi­guren stört, ist nicht, dass sie krimi­nelle Dinge tun, dass sie Dinge stehlen, sondern, dass sie keine tieferen Gründe dafür haben. Sie maskieren ihr Tun nicht durch irgend­welche Robin-Hood-Thesen, sondern wollen einfach haben. Damit reprä­sen­tieren sie nicht nur das haben-wollen von uns allen. Aber das Verhalten von Coppolas Kids ist damit nicht un-ideo­lo­gisch, sondern genau die Reaktion, die den reinen Konsu­mismus der Gesell­schaft spiegelt.

+ + +

Truffaut hat mal gefragt: Was wäre der Film, wenn er kein Film ist? In über 80 Prozent aller Fälle wäre er dann ein Roman, ein Thea­ter­s­tück, ein Sachbuch, ein poli­ti­sches Manifest. Aber Film sollte öfters ein Gemälde sein, oder ein Musik­stück.
Und am meisten inter­es­sieren mich Filme, die nur als Filme vorstellbar sind, nicht als irgend­etwas anderes.

+ + +

Was hat Sofia Coppola also falsch gemacht? Außer dass sie eine Frau ist und kein schwuler Mann? Sie ist jeden­falls nicht die einzige. In der Sektion »Un Certain Regard« ist fast die Hälfte aller Filme – 8 von 18 – von Frauen gedreht, im Wett­be­werb nur einer. Machen Frauen also die schlech­teren Filme, oder wo liegt ihr Fehler?

+ + +

Von der unein­ge­stan­denen Angst der Erwach­sen­welt vor ihren Kindern, vor deren Sünden namens Drogen, Sex, Unge­horsam und Freiheit, vor deren Ungreif­bar­keit in den sozialen Netz­werken, in denen sie verschwinden mit deren merk­wür­digen Stam­mes­ri­tualen erzählt auch der Franzose François Ozon (8 Frauen). Sein neuer Film Jeune et Jolie (Jung und hübsch) handelt von Isabelle, einem Mädchen aus gutbür­ger­li­chen Verhält­nissen, die mit 17 beginnt, als Edel-Prosti­tu­ierte zu arbeiten – ohne ersicht­li­chen Grund. Die vielen Euro­hun­derter, die sie verdient, hortet sie im Klei­der­schrank. Viel­leicht will sie einfach expe­ri­men­tieren, viel­leicht gefällt ihr die Macht über die Männer. Erst als ein Freier stirbt, bekommt die Fassade kalter Jugend kleine Risse. Für Ozon ist das auch Gele­gen­heit, Maske­raden und Heuche­leien der Bour­go­isie zu entlarven, zudem ist dies eine weitere von Ozons Hommagen an starke Frau­en­fi­guren des Autoren­kinos, die von Fass­binder bis Bunuel immer schmut­zige Heilige und edle Huren zugleich waren – diesmal steht eindeutig Bunuel Pate: Isabelle ist eine zeit­ge­mäße Variante von Catherine Deneuves »Belle de Jour« – ungerührt, klug und fast jederzeit Herrin der Situation. Bis zum Ende bleibt es aber eine Frage unserer eigenen Haltung, auf welche Seite der Moral – Hedo­nismus oder Anstand – wir uns bei dieser Geschichte schlagen. Auf eine Weise verkör­pert diesen Doppel­sinn Charlotte Rampling in einem tollen Auftritt als Witwe des toten Freiers.

+ + +

Was tut aber der Film selbst? Ozon will auch von Jugend erzählen, von der Einsam­keit und Verlas­sen­heit junger Menschen. In der Pres­se­kon­fe­renz erwähnt er die eigene unglück­liche Jugend. Am ehesten scheint er sich mit Isabelles jüngerem Bruder zu iden­ti­fi­zieren. Das erste Bild ist sein Blick auf die Schwester, im Sommer am Strand, durchs Fernglas. Es ist ein Voyeurs­blick. Aber der Bruder ist die einzige männliche Figur, der nicht als Voyeur auf die schöne Schwester schaut. Der hat eine intime Vertraut­heit mit der Schwester, deckt ihre kleinen Vergehen gegen die elter­liche Ordnung. Er ist Bruder, deren beste Freundin. Er berät sie beim Schminken, und er ist nach einer Vier­tel­stunde begreift man, dass deren Verhältnis nicht das Thema des Films ist. »You look like a whore« hatte er gesagt, als sie sich für den Jungen, der sie entjung­fern wird, schön gemacht hat.

Ozon erzählt von Blicken, von den Blicken aller anderen auf die Prosti­tu­ierte. Die Männer kommen in Versu­chung. Aber sie sind auch arme Trottel. Dumm, harmlos, gutmütig. Isabelle spielt mit ihnen mit äußerstem Geschick. Gerade dies, die Macht, die sie über die Männer hat, macht sie ihnen suspekt. Es liegt sehr viel Neid und sehr viel Aggres­sion im Verhalten aller anderen Frauen – Ramplings Witwe ausge­nommen – gegenüber Isabelle. Es ist die Angst, der Verdacht und die Ahnung, dass Isabelle etwas über ihre Männern, über alle Männer wissen könnte, das sie nie wissen werden.
Zugleich sind diese Frauen sämtlich durch­trieben. Sie haben alle etwas zu verbergen.

+ + +

Unge­achtet all dessen verfällt Jeune et Jolie gegen Ende der Moral, die er doch kriti­sieren will, und gönnt gerade dem bürger­li­chen Publikum den bequemen Ausweg: Indem er Isabelle beim Tod des Freiers erschüt­tert sein lässt, beim Thera­peuten verletz­lich, oktroy­iert Ozon der Figur Gefühle auf, und schwächt sie. Sie wird wieder vom Netz der Moral einge­fangen, das sie zuvor schon zerrissen hatte.

+ + +

Mit dem persi­schen Schei­dungs­drama Nader und Simin gewann Asghar Farhadi vor zwei Jahren bei der Berlinale den Goldenen Bären – und in Frank­reich über eine Million Zuschauer. In Deutsch­land wollten nur ein paar Tausend den faszi­nie­renden Film sehen, der ein privates Drama zugleich zum Abbild einer Gesell­schaft macht. Kein Wunder, dass Farhadi mit seinem neuen Film dann lieber auch gleich in seiner Wahl­heimat Premiere feiert. Hier lebt er die meiste Zeit des Jahres, den im Iran werden frei­geis­tige Künstler bekannt­lich bedroht und verfolgt. In Paris hat er auch seinen neuen Film gedreht: Le passé – Das Vergan­gene spielt unter Immi­granten, und wieder geht es, wenn auch ganz anders, um eine Trennung: Zu Beginn fliegt Ahmad aus Teheran ein, um sich nach vier Jahren Trennung von seiner Frau Marie scheiden zu lassen. Die lebt mit zwei Töchtern aus erster Ehe in einem Haus am Rand von Paris. Man spürt, das noch viel Nähe zwischen dem Paar besteht, und schnell wird Ahmad wieder in die alten Verhält­nisse und einen Strudel aus Gefühlen hinein­ge­sogen. In dessen Mittel­punkt steht Maries 16jährige Tochter Lucie. Die hat heftige Konflikte mit ihrer Mutter, deren Ursachen zunächst völlig unklar sind. Der ausglei­chende Ahmad soll schlichten – und sein gutes Verhältnis zu Lucie, die sich ihren Stief­vater zurück­sehnt, einsetzen. Bald ist klar, dass auch Maries neuer Freund Samir, und der miss­glückte Selbst­mord seiner Frau, die nun im Koma liegt, hier eine Rolle spielen…

Wieder bietet Farhadi Innen­an­sichten zweier Familien, deren Schicksal mitein­ander verstrickt ist. Wieder erzählt er von Schuld und Vergebung, Trost und Sühne, Entschul­di­gung und Ausreden. Ein Rädchen der Erzählung greift ins andere, das mag man etwas konstru­iert finden, aber es ist eben zumindest sehr gut konstru­iert, und glän­zendes Regie­hand­werk im Hinblick auf Szenen­aufbau, Schau­spiel­füh­rung und Erzählö­ko­nomie. Jeder schiebt in dieser Story die Schuld auf den Anderen, und jeder muss seinen eigenen Anteil erkennen; jeder hat etwas Schuld, aber Schuld hat keiner Alleine, Farhadi unter­nimmt also auch eine Absage an den Narzissmus der Schuld, den es ja auch gibt. Diese mora­li­sche Geschichte ist so unauf­dring­lich wie universal. Sie ist ein bisschen kitschig, aber es bleibt aus guten Gründen alles offen, alles Entschei­dende unklar. Sie wird von einer Jury mit Steven Spielberg und Ang Lee in zehn Tagen ganz gewiss gewürdigt werden.

+ + +

Die Themen und Objekte über­lappen sich von Anfang an: Die Prada-Tasche bei Ozon und Coppola, Paris als Ort der Hoffnung in Le passé und The Bling Ring, wobei der Satz, der in Sofia Coppolas Film gleich ein paar Mal fällt, vor allem ein guter Gag ist: »Let’s go to Paris«, das meint in diesem Film über die Promi-Einbre­cher den sound­so­vielten Besuch bei Paris Hilton, deren Haus­schlüssel unter der Fußmatte liegt. Ein weiteres Leitmotiv ist zum Beispiel das Parfüm. Das spielt auch in der zentralen Schluss­szene von Asghar Farhadis Le passé eine wichtige Rolle.

+ + +

Wie gesagt: Der Film handelt von einer Frau, Marie, ihrem persi­schen Ex-Mann Ahmad zu Besuch und ihrem neuen Freund Samir. Dieser Freund ist noch verhei­ratet, doch seine Frau liegt nach einem Selbst­mord­ver­such im Koma. Den ganzen Film über ist sie abwesend; anwesend nur in zahl­rei­chen Gesprächen. Zum Beispiel, weil Maries Tochter Lucie sich vorwirft, den Selbst­mord verur­sacht zu haben – halb zu Unrecht, wie sich heraus­stellt.
Am Ende des Films geht Samir dann ins Kran­ken­haus, und parfü­miert sich stark, weil er gehört hat, der Geruchs­sinn sei im Koma noch am präsen­testen, und insgeheim hofft, die Frau könne aufwachen, oder werde irgendwie reagieren. Er spricht mit ihr, hält ihre Hand, fordert sie auf, diese zu drücken. Das einzige, was aber passiert, ist das wir – für Samir kaum sichtbar – eine Träne aus ihrem linken Auge rinnen sehen.

Ein in seiner Ambi­va­lenz sehr starkes, aber aus dem gleichen Grund auch unbe­frie­di­gendes Schluß­bild. Die Ehefrau im Koma, das ist nichts als unsere Projek­tion, und die der Film­fi­guren. Wie sie sterben? Will sie im Koma weiter­leben? Wir werden es nie erfahren.
Die Frau im Koma ist aber auch der Filmtitel. Sie ist die Vergan­gen­heit, die nicht sterben kann.

+ + +

»I dont want to look back anymore. Forget it«, hatte Marie vorher ihren Ex-Mann ange­schrien. Auch alle anderen im Film haben ein gespal­tenes Verhältnis zur Vergan­gen­heit. Sie wollen vergessen, nicht wieder­holen, sie blicken ungern in sie zurück.
Wenn Marie in der Eröff­nungs­szene Ahmad am Pariser Flughafen abholt, liest man auf ihrem Gesicht reine Vorfreude und Erwartung. Auch die Blumen, die sie in der Hand hält, sprechen eigent­lich dafür, dass sie einen Liebhaber abholt. Dass sie tatsäch­lich sich scheiden lassen wollen, begreift man erst nach 20 Minuten des Films. Und bis zum Ende fragt man sich, ob sie nicht eigent­lich Ahmad zurück­haben möchte. »Dont get sucked into this« warnt diesen ein Freund, »Cut!« Lacher im Kino.

Die Haupt­figur des Films ist nicht, wie man ursprüng­lich denken kann, zumal Farhadi ein besonders guter Frau­en­re­gis­seur ist, Marie, sondern Ahmad. Das zentrale Verhältnis ist nicht das zwischen ihm und Marie, sondern zwischen ihm und der 16-jährigen Lucie. Er ist ihr tatsäch­li­cher, wenn auch nicht leib­li­cher Vater; darum vermisst sie ihn auch mehr als Marie.

+ + +

Bernardo Berto­lucci ist Jury­prä­si­dent. Aller­dings nicht der von Cannes, sondern von Venedig. Es gehört zum inzwi­schen gewohnten Unsinn der Festi­val­welt, dass pünktlich vor jedem Festival die Jury­prä­si­denten des nächsten bekannt gegeben werden, um der Konkur­renz wenigs­tens für einen kurzen Moment die Schlag­zeilen streitig zu machen – so erfuhr man wenige Tage vor der Berlinale, dass hier in Cannes Steven Spielberg in der Jury präsi­dieren werde.

+ + +

Viele Filme in Cannes in diesem Jahr erzählen Verlust­ge­schichten, oder machen Verlust­re­chungen auf. Das gilt auch unbedingt für Like Father, Like Son (Soshite chichi ni naru), den neuen Film von Hirokazu Kore-eda (Nobody Knows). Zu Beginn lernt man eine Familie kennen: Vater, Mutter, Kind. Offen­sicht­lich gehören sie zu gutver­die­nenden Ober­schicht, und in der ersten Szene sieht man ein Aufnah­me­ge­spräch bei der privaten Grund­schule, die bereits der Vater besuchte. Der ca. sechs­jäh­rige Junge namens Keita ist aufge­weckt und charmant, und erzählt lebendig, von einem Camping­aus­flug mit dem Vater Ryota, bei dem er einen Drachen steigen ließ. Direkt danach wird klar, dass die Episode erfunden ist: »Wir waren nie campen« sagt der Vater, »Mein Lehrer hat mir geraten, das zu erzählen«, erwidert der Keita.

Der tolle Einstieg erzählt schon fast alles, über Leis­tungs­druck, Lügen, Schein, Sein, Anpassung und Auslese in modernen Gesell­schaften. Es geht dann zunächst aber um ganz anderes: in Anruf aus dem Kran­ken­haus mit Bitte um ein Treffen enthüllt schnell die wohl größte Tragödie die Eltern wider­fahren kann, von Krankheit und schweren Behin­de­rungen einmal abgesehen: Ihr Sohn wurde nach der Geburt im Kran­ken­haus vertauscht. Die andere betrof­fene Familie wird ebenfalls geladen, und man berät, was zu tun ist. Diese anderen namens sind vergleichs­weise einfache, arme Leute, ihr Leben am Stadtrand ist tradi­tio­neller, aber auch lockerer: Ohne Leis­tungs­druck, liebe­voller, verspielter, naturnäher.

Nun müssen sich diese Unglei­chen arran­gieren. Was tun? Fast immer, heißt es im Film, werden vertauschte Kinder zurück­ge­tauscht – obwohl meine instink­tive Reaktion war. Die sechs gemein­samen Jahre sind wichtiger, als die Wieder­her­stel­lung der biolo­gi­schen Ordnung. So argu­men­tiert auch Ryotas Frau Midori. Doch der Mann entscheidet auch hier und setzt sich durch. Alles geht besser, als gedacht, obwohl Ryota zunächst versteckte Pläne hat: Er will seinen leib­li­chen Sohn Ryusei zu sich holen, ohne Keita herzu­geben. Als das scheitert, werden die Kinder getauscht. Das funk­tio­niert nicht wirklich, obwohl Ryota bald lernt sich an das unge­wohnte neue Kind anzu­passen. Dann will Ryota die Kinder zurück­tau­schen...

+ + +

Kore-eda nimmt sich viel Zeit die Komple­xität dieses Szenarios in allen seinen Stadien zu zu entfalten, und jeder seiner Figuren ihr Recht zu geben, ihre emotio­nale Situation nach­voll­ziehbar zu machen. Das ist trotz gele­gent­li­cher Längen, spannend, einfühlsam erzählt und sensibel insze­niert. Vor allem in der Regie von Kindern ist Kore-eda ein Meister.

Es geht bei diesem ganzen, an ein Labor­ex­pe­ri­ment erin­nerndes Szenario aber noch um etwas anderes. Denn vor allem rechnet Kore-eda hier ab mit einem ganzen Lebens­mo­dell, dem des modernen Japan, das extrem auf Wirt­schafts­wachstum und Leistung um jeden Preis ausge­richtet ist. Es geht um den modernen Kapi­ta­lismus.
Die eigent­liche Haupt­figur ist denn auch Ryota und seine reiche Familie. Es geht darum, ihm eine Lektion zu erteilen, und wenn irgend­etwas gegen Like Father, Like Son zu sagen ist, dann genau dies: Dass es nicht wirklich sympa­thisch ist, wenn Film­fi­guren oder dem Publikum Lektionen erteilt werden. Die Familie lebt denn auch etwas plakativ entfremdet in einer funk­tional einge­rich­teten Hoch­haus­woh­nung mit Fenstern von der Decke bis zum Boden, von denen aus ihre Bewohner wie Fische eines Aquariums vom zwölften Stock aus auf das Leben und die Menschen herab­bli­cken.

+ + +

Abgesehen von einem Übermaß an, wenn auch schöner, Klavier­musik, ist Like Father, Like Son insgesamt einer der objektiv besten und für mich persön­lich der anrüh­rendste Film im bishe­rigen Wett­be­werb. In all seiner Unschein­bar­keit beein­dru­ckendes Filme­ma­chen; eine kluge Geschichte mit vielen Facetten, und eine sehr huma­nis­ti­sche obendrein. In der Beziehung der beiden Mütter zuein­ander, im Eigensinn der Kinder scheint die Möglich­keit eines anderen, besseren Lebens und eines Ausgleich auch sozialer Gegen­sätze auf, das sich in der Schlußszene zu einer Art Utopie verdichtet. Da kommt Ryota mit Frau und Kind raus aufs Land gefahren, um seinen aufge­wach­senen Sohn Keita zurück­zu­holen. Die zwei Familien stehen gemeinsam vor dem Haus. Und in diesem Moment ist es für jeden sichtbar, dass die ange­mes­sene Antwort auf die Laune des Schicksal die ihre Kinder vertauschte nur die eine sein kann: Aus zwei Familien muss über alle Gegen­sätze hinweg eine einzige werden.