15.02.2010
60. Berlinale 2010

Über dem Pflaster das Eis

Tuan Yuan - Together Apart
Familienzusammenführung in Wang Quan'ans Eröffnungsfilm
Tuan Yuan – Together Apart

Die Berlinale als Universalereignis: das Wetter, Metropolis und Chinawürze zur Eröffnung

Von Thomas Willmann

Alle reden vom Wetter. Alle.

Noch bevor der erste Meter Zelluloid, das erste Byte Bild­in­for­ma­tion durch die Projek­toren gesummt war, hatte die Berlinale ihr erstes großes Thema: das Wetter. Es herrscht Eiszeit in Berlin. Die erste Meldung auf der Berlinale-Homepage war zum Start eine Empfeh­lung für festes Schuhwerk und winter­feste Kleidung. Und das war nicht als Witz gemeint. Faust­dicke, pockige Eispanzer haben sich über die Gehsteige gebreitet. Hiesige Zeitungen befragen tatsäch­lich Curling-Spie­le­rinnen, wie man am besten auf glattem Unter­grund einher­staksen soll. Und sie befragen Judo-Kämpfer, wie man sich am besten, verlet­zungs­ver­mei­dend im Fall des Falles fallen lässt – wohl falls die Curling-Spie­le­rinnen Unsinn erzählt haben. Fach­be­su­cher bilden Seil­schaften, und es gehen Gerüchte um, dass Joseph Vilsmaier schon in den Start­löchern steht, um die Geschichte der ersten Abhan­den­ge­kom­menen zu verfilmen.

Und es ist nicht das schlech­teste Thema. Dem meteo­ro­lo­gi­sche Ausnah­me­zu­stand eignet ein demo­kra­ti­sches Moment. Denn er ist wirklich länder- und sprachü­ber­grei­fend, man muss keinen Film gesehen haben, muss kein Cineast sein, muss nicht mal wissen, wie man Knio buch­sta­biert um mitreden zu können. Es gibt ein verbin­dendes Gefühl, dass die Weltstadt Berlin auch den Potsdamer Platz nicht von der poten­tiell knochen­kna­ckenden Schicht befreien konnte oder wollte. Der Frost ist ein Gleich­ma­cher, der Schnee malt alles weiß, Frieren und Schlit­tern sind universal. Es ist ein großes »Wir« der Menschen gegen die Elemente.

Das Ganze ist auch lang nicht so stim­mungs­er­sti­ckend, wie man meinen könnte: Es macht die Leute auf andere Weise trotzig als der übliche Berliner Februar-Trist. Die Menschen­an­samm­lungen unter freiem Himmel mögen etwas (aber auch nur etwas) kleiner sein als sonst – aber sie sind da, und sie dürfen das Gefühl wahren Helden­tums haben.
Die Neugier hat mich am Eröff­nungs­abend doch kurz zum Bran­den­burger Tor getrieben, wo die neu restau­rierte Metro­polis-Fassung als kosten­lose Open-Air-Vorfüh­rung zu sehen war. Und da waren wahr­haftig ein paar Hundert Menschen versam­melt, die sich von Wind und Schnee­treiben nicht schrecken ließen, zwei­ein­halb Stunden Stummfilm zu schauen. Und wäre es nicht zu kalt hier für ohne Kopf­be­de­ckung, müsste man sagen: Hut ab! Denn das war einer der bisher eindrucks­vollsten Beweise, dass die Berlinale doch noch den Spagat zwischen Bran­chen­be­trieb und in die Stadt ausstrah­lendem Publi­kums­fes­tival hinbe­kommt.

Nicht nur länger – auch mehr Lang!

Selbst habe ich mir Metro­polis dann aber doch lieber in über­dachten und beheizten Verhält­nissen betrachtet, bei der Gene­ral­probe mit Live-Orchester im Fried­rich­stadt­pa­last. Und man ist ja immer ein bisschen skeptisch, wenn wieder eine neue Restau­rie­rung eines Klas­si­kers angekün­digt ist, weil die Unter­schiede zu oft dann doch nicht allzu revo­lu­ti­onär ist. Hier aber muss ich wirklich sagen: Es ist nicht nur ein anderer, sondern auch ein wesent­lich stärkerer Film geworden.

Ich will ganz ehrlich sein: Bei aller Bewun­de­rung für Langs Monu­men­tal­werk hat es mich doch auch immer letztlich ein wenig kalt gelassen. Ich fand es im Ganzen ein bisschen zu sche­ma­tisch, alle­go­risch. Die Geschichte und die Figuren hatten für mich nie annähernd die Größe der Bilder. Das war diesmal anders. Mag freilich auch an der musi­ka­li­schen Beglei­tung gelegen haben – ich habe den Film schon in etlichen Fassungen und Auffüh­rungen gesehen, aber noch nie mit orches­traler Live-Beglei­tung. Und die hat halt doch einen anderen Farben­reichtum, eine andere Wärme und Wucht als Klavier­ge­töne oder Tonkon­serve. Mehr noch aber lag es doch an der neuen Fassung – bei der man kein Wunder­ge­dächtnis braucht, um jedes hinzu­ge­kom­mene Fitzel­chen eindeutig zu iden­ti­fi­zieren, da das verschrammte, rampo­nierte argen­ti­ni­sche 16mm-Material die Spuren seiner Geschichte auch nach digitaler Aufhüb­schungs­ver­suche unver­kennbar im Angesicht trägt.

Es dauert ein bisschen, bis wesent­liche Ände­rungen sichtbar werden: Anfangs beschränken sich die Funde tatsäch­lich nur auf ein paar versprengte Einstel­lungen – hier ein Moment mit dem Zere­mo­nien­meister mehr, da eine Reaktion von Freder dazu. Aber schon hier dämmert zunehmend das Gefühl, dass der Film nun wieder seinen ursprüng­li­chen Atem zurück­ge­wonnen hat. Es ist der klas­si­sche Fall eines Werks, das in längerer Fassung kurz­wei­liger wirkt, weil der Rhythmus einfach besser stimmt, einen mehr mitnimmt.
Doch nicht nur den Atem gibt Metro­polis das »neue« Material – auch das Herz, diesen unver­zicht­baren Mittler zwischen Konzept und Konkretem, schlägt nun wieder viel vernehm­barer. Die Figuren stehen nichtmehr nur für Prin­zi­pien: Die Feind­schaft von Joh Fredersen und Rotwang, erfährt man nun, beruht auf einer alten, unglück­li­chen Drei­ecks­ge­schichte – der Unter­nehmer hatte dem Erfinder einst die unsterb­lich Geliebte wegge­nommen, und dann war sie bei der Geburt seines Sohnes gestorben. Plötzlich hat Rotwangs Schöp­fungs­wahn also eine ganz andere Dimension. Und die Haupt­cha­rak­tere des Films wirken auch deswegen plas­ti­scher, weil sie nicht mehr so allein, im um sie luft­leeren Figu­ren­raum agieren, weil es Geschichten und Biogra­phien neben ihren gibt: Josaphat, der entlas­sene Sekretär Joh Fredersen, ist nun eine gebro­chene Gestalt, deren Treue zu Freder einen echten Preis, echte Größe hat. Und der Arbeiter, den Freder an einer Maschine ablöst, ist nun nicht länger ein bloßes Plot-Zahn­räd­chen, sondern ein Mensch: »Gregory«, wie er heißt, hat jetzt eine ganze eigene Neben­hand­lung – in deren Verlauf auch der Vergnü­gungs­club Yoshiwara schon früh einge­führt und so vielmehr zum echten Teil der Stadt-Geogra­phie wird statt zum bloß alle­go­ri­schen Ort. Und wenn Gregory später für Freder stirbt, dann hat auch er, hat auch dieser Moment nun wahre Tragik.

Aber auch auf symbo­lisch-alle­go­ri­scher Ebene ist Metro­polis jetzt wieder ein reicherer, orag­ni­scherer Film geworden. Die moti­vi­schen Quer­ver­bin­dungen sind stärker, dichter, wuchernder: Hel etwa – die Geliebte, die Rotwang an Joh Fredersen verlor – vervolls­tän­digt das Frauen-Vieleck der beiden Marias und der Hure Babylon. Oder der apoka­lyp­ti­sche Tanz der Androidin ist nun paral­lel­mon­tiert mit Fieber­fan­ta­sien Freders von dem Prediger, der von eben jener Hure Babylon spricht.

All das sind Dinge, wo man sich bereits fragt, wer je auf die Idee kommen konnte, dass Metro­polis ohne sie ein besserer, besser vermarkt­barer Film sein würde. Vollends verblüf­fend aber ist, dass nun auch die großen Action-Sequenzen am Ende ungleich drama­ti­scher sind: Die Rettung der Kinder vor den Wasser­massen ist jetzt wieder von einer atem­be­rau­benden Dramatik, die alle Block­buster der letzten Jahre ziemlich lahm aussehen lässt. Das beginnt damit, dass man nun erkennt, wieviel Anstren­gung es Maria kostet, denn Gong am Läuten zu halten, mit der sie die Kinder zu sich ruft. Und dann folgt eine lange Passage, in der die Kinder­horden in ein Trep­pen­haus gepfercht sind, von unten immer weiter nach­drän­gend, dem stei­genden Wasser entflie­hend, wo oben aber eine Eisen­git­tertür den Weg ins Freie versperrt. Die einzige sinnvolle Erklärung für die Entfer­nung dieser Szenen kann nur sein, dass man sie damals zu aufregend fand für das ameri­ka­ni­sche Publikum.

Man könnte es viel­leicht auch so sagen: Es ist jetzt wieder mehr Fritz Lang in Metro­polis. Die gekürzte Fassung stand Thea von Harbou näher – deren Begeis­te­rung für poli­ti­sche Allegorie aber hat Lang ja wohl eher toleriert als ernsthaft geteilt; die Sinn­spruch-»Aussage« war stets einer der schwächeren Aspekte des Films. Freilich ist dieser Aspekt nun nicht verschwunden – alles, was bisher in diesem Film zu finden war, ist ja nach wie vor da. Aber es ist nun Teil geworden eines komple­xeren, viel­schich­ti­geren Wech­sel­spiels von Kräften. Es gibt jetzt einfach mehr Ebenen, auf denen Metro­polis funk­tio­niert und kommu­ni­ziert. Und für mich zumindest hat sich das nun zum erstenmal nicht nur im Kopf auch wirklich wie das Meis­ter­werk angefühlt, von dem man schon immer aus Vernunft­gründen sprechen musste.

Anfang süß-sauer

Eis, Weiß und Frost legen aller­dings auch Bilder von Erstar­rung, Verkrus­tung nahe. Und so ganz sind die nicht von der Hand zu weisen. Wenn man all die Rück­blicke vor Augen hat, die zum 60. Jubiläum jetzt allü­berall zele­briert werden, dann muss man schon zugeben: Einen Film wie manchen damals, der in der Film­ge­schichte – oder gar in der Geschichte der Stadt, der Republik – etwas bewegt, dauer­hafte Spuren hinter­lassen wird, den erwartet hier niemand mehr. Diese Leben­dig­keit traut man diesem Festival dann doch nicht mehr zu.
Das ist nur sehr bedingt ein Problem der Berlinale und viel mehr eins des Mediums, der Kultur im allge­meinen. Es liegt nicht daran, dass große Kunst oder poten­tiell provo­kante Werke prin­zi­piell seltener geworden sind. Und es liegt auch nur teils an einer tatsäch­lich größeren Toleranz insgesamt: Es liegt vor allem daran, dass alle sich jene Dinge, über die man sich aufregen würde, besser vom Leib halten können. Es gibt kaum noch öffent­liche Foren, an denen eine bunte Mehrheit teil hat und wo neue Gedanken auf jene Leute treffen könnten, die nicht auf sie vorbe­reitet sind. Umso mehr aber könnte ja ein Festival wie die Berlinale ein Zeichen setzen mit seinem Eröff­nungs­film. Doch ein weiteres Mal war mit Tuan Yuan – Together Apart eine eher rätsel­hafte Wahl am Start.

Die Auswahl des Berlinale-Openers ist ohnehin eine höchst arkane, obskure Kunst, die haupt­säch­lich von Faktoren beein­flusst scheint wie »Möglicher Roter Teppich-Star«, »Freun­des­dienste an Produk­ti­ons­firmen«, »Mondphase« und »Vogelflug«. Man stellt sich da immer irgend eine von flackernden Super8-Projekt­lampen beleuch­tete Grotte unter dem Potsdamer Platz vor, wo Dieter Koslick in einer Zelluloid-Robe ein Starlet opfert, um dann nach Anrufung der Gottheit Ar-Ri den Kandi­daten zu bestimmen. Und nach mancher kompletter Unver­s­tänd­lich­keit in den letzten Jahren war Tuan Yuan immerhin von respek­ta­bler cine­as­ti­scher Qualität. Hier kann man definitiv nicht vorwerfen, dass der schnöde Glamour-Quotient den Ausschlag gab, denn der liegt hier bei Null.

Nein, es war wohl eher das Gesetz, dass wer einmal auf der Berlinale war, nach Belieben wieder kommen darf. Und hier hat man es eben mit dem neuen Werk von Wang Quan'an zu tun, der einst mit Tuyas Hochzeit zum Über­ra­schungs­ge­winner wurde. (Der aber nicht aus Dank­bar­keit gegenüber nun Tuya’s Neukölln gedreht hätte.) Plus: Da in diesem Film quasi ohne Essen gar nicht kommu­ni­ziert werden kann; da jedem wichtigen Gespräch erst einmal ein großes Kochen voraus­geht; da die Charak­tere ihre Gefühle, so scheint’s manchmal, besser darüber ausdrü­cken können, was sie dem anderen servieren, als über das Disku­tieren – darum war das quasi auch gleich ein passendes filmi­sches Appe­tithäpp­chen für Koslicks »Kuli­na­ri­sches Kino«.

Und ja, man kann eigent­lich nicht viel sagen gegen diese Geschichte vom taiwa­ne­sisch-chine­si­schen Liebes­paar, das nach Jahr­zehnten politisch bedingter Trennung erstmals wieder zusam­men­kommt – als sie, die Chinesin, in Shanghai längst eine Familie mit einem anderen aufgebaut hat. Da sind einige nette Über­ra­schungen dabei – der aktuelle Ehemann etwa erweist sich der ganzen Sache gegenüber als uner­wartet aufge­schlossen; grad', als man das große Drama erwartet, meint er: Ach nö, er hat das mit seiner Frau bespro­chen, alles kein Problem, er will da jetzt nicht im Wege stehen. Es ist auch ein hübsch bedäch­tiger Film über das moderne Hoch­ge­schwin­dig­keits-Shanghai, in dem die alte Lebens­welt der Figuren schneller verschwindet, als sie reden und handeln. Und das Ganze ist mit einer großen Sorgfalt insze­niert, da gibt es vor allem Familien-Tableaus, die an die großen Asienkino-Meister wie Ozu erinnern – wo eine lange Einstel­lung lediglich durch ein Verändern der Figu­ren­kon­stel­la­tion, durch ein paar Zenti­meter Kame­ra­be­we­gung zu einer ganz neuen Szene wird, wo etwa ein Grup­pen­bild sich so zum Dreier-Drama wandelt.

Aber über allem liegt eben auch eine solche Gedie­gen­heit, dass einem danach so wenig bleibt davon. Als Eröff­nungs­film war das, absicht­lich oder unab­sicht­lich, ein Statement im Sinn von: »Wir sind ein cine­as­ti­sches Festival, wir sind aufge­schlossen gegenüber dem Weltkino, wir sind Freunde auch der kleinen Leute – aber wir tun niemand weh, wir wollen keine blei­benden Spuren hinter­lassen.« Und grade in einem Jubiläums­jahr, grade bei all dem, was in der Welt derzeit los ist und was sich auf der Leinwand spiegeln ließe – gerade da ließ einen das dann doch ziemlich kühl.