"Träume mit offenen Augen" - so lautete das
verführerische Motto des diesjährigen Münchner
Filmfests. Vom Kino als Traumfabrik, die aus technicolorfarbener
Zuckerwatte cineastische Märchen strickt, war allerdings
wenig zu spüren.
In FEAR AND TREMBLING
entpuppt sich der Traum vom Job in Tokio als Alptraum: Kaffee
servieren, Kalenderblätter abreißen - ganz so hatte
sich die hochqualifizierte Amélie ihre Arbeit in einem
japanischen Konzern eigentlich nicht vorgestellt. Ihren Wunsch,
nach einer Tätigkeit, die ihr Gehirn beschäftigt,
finden die Japaner außerordentlich exzentrisch, Eigeninitiative
wird mit Misstrauen beäugt. Trotz aller Schikanen ist
Amélie entschlossen, durchzuhalten - denn wer in Japan
kündigt, verliert sein Gesicht. Ihre einzige Zuflucht
ist das Staunen über das absurde Theaterstück, in
dem sie sich plötzlich wiederfindet, und der Blick aus
dem Fenster, der ihr einen imaginären Flug über
die Skyline der Megametropole schenkt.
Auch Odil und Yvan flüchten sich in einen Traum: Mitten
im Krieg haben die junge Mutter und der Streuner sich in einem
verlassenen Haus eingerichtet - eine friedliche Bastion, die
außerhalb der Zeit zu existieren scheint. Doch obwohl
Yvan gleich zu Beginn heimlich das Telefon gekappt hat und
das Radio im Keller verschließt, lässt sich die
Wirklichkeit auf Dauer nicht aussperren. LES
ÉGARÉS von Regisseur André Téchiné
zeigt Menschen denen erst eine Ausnahmesituation ermöglicht,
ihre Träume auszuleben.
Senay und Okwe, zwei illegale Einwanderer in London, haben
existenzielle Sehnsüchte: Sie hoffen auf eine neue Identität,
die ihr Schattendasein beendet. Ein Organhändlerring
bietet ihnen einen neuen Pass im Tausch für eine Niere.
Als die Einwanderungsbehörde Senay immer mehr zusetzt,
scheint ihr dieser Preis für ein neues Leben plötzlich
gar nicht mal so hoch. Mit DIRTY
PRETTY THINGS verleiht Stephen Frears dem verborgenen
Heer illegaler Einwanderer ein Gesicht und stellt allgemeingültige
Fragen nach Zivilcourage und Integrität.
Der plötzliche Tod ihres Mannes hinterlässt bei
May ein zunächst beängstigendes Vakuum. Doch rasch
füllt sich der ungewohnte Freiraum mit längst begraben
geglaubten Träumen: May stürzt sich Hals über
Kopf in eine Affäre mit einem Handwerker - halb so alt
wie sie und überdies der Liebhaber ihrer Tochter. May
erkennt in Roger Michells bewegender Geschichte THE
MOTHER: Leben heißt, seine Träume in die Tat
umsetzen. Auch wenn viele an der Realität zerschellen
und ihre Splitter schmerzhafte Wunden reißen.
Das wunderbare Maori-Epos WHALE
RYDER erzählt davon, wie mit Hartnäckigkeit,
Hingabe und einem Schuss Magie auch unmöglich scheinendes
wahr werden kann. Pai träumt davon, in die Riten ihres
Stammes eingewiesen zu werden. Doch für Mädchen
ist die Kriegerausbildung tabu. Stattdessen versucht Großvater
Kano aus Baseballkappen tragenden Jünglingen künftige
Häuptlinge zu machen. Doch Pai lässt sich davon
nicht abhalten: Eines nachts ruft sie ihren Urahnen, den Walreiter,
zu Hilfe...
Auch im Dokumentarfilm geht es letztendlich um Träume.
EASY RIDERS, RAGING
BULLS basiert auf der Skandalchronik von Peter Biskind
über die schönen, wilden 70er. Der Film erzählt
wie Scorsese, Coppola, Altman & Co das amerikanische Kino
auf den Kopf stellten aber dann ihre Ideale verkauften.
In HYSTERICAL BLINDNESS
schließlich träumen Debby und Beth noch immer von
Mr. Right. Vor allem Debby versucht verbissen, die Realität
ihren Träumen anzupassen - und wälzt nach einem
One-Night Stand schon die Brautkataloge. "Manchmal siehst
Du die Dinge nicht besonders klar", sagt ihr Barmann
Bobby nach einer weiteren Enttäuschung. Und so werden
Debbys kurze Anfälle von Sehverlust, die der Arzt als
Hysterische Blindheit diagnostiziert, zur Metapher für
einen sehnsuchtsverzerrten Blick auf den Realität. Am
Schluss steht zwar nicht das große Hollywood Happyend,
dafür jedoch ein Augenblick purer Lebensfreude - ein
kurzer Moment nur, aber dafür die Wirklichkeit.
Träumen ist eine großartige Sache, so lautet die
Botschaft des Films und dieses Festivals, solange man sich
dabei nicht selbst um das kleine Alltagsglück betrügt.
Nani Fux
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