Deutschland 2025 · 89 min. · FSK: ab 0 Regie: Anna Koch, Julia Lemke Drehbuch: Anna Koch, Julia Lemke Kamera: Julia Lemke Schnitt: Jamin Benazzouz |
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Zwischen Tradition und Selbstbestimmung... | ||
(Foto: 24 Bilder) |
Ein anderes Leben. Schon die ersten Minuten dieses stillen, leuchtenden Dokumentarfilms machen deutlich, dass hier jemand mit ungewöhnlicher Empathie hinschaut. Zirkuskind ist kein nostalgisches Zirkusmärchen, sondern ein poetischer, tief menschlicher Blick auf eine Welt, die in Deutschland fast verschwunden ist – die Welt der fahrenden Familien, der Artisten, der Menschen, die das Aufbrechen ebenso gelernt haben wie das Wiederankommen.
Im Zentrum steht Santino, elf Jahre alt, Sohn und Urenkel einer Zirkusdynastie, die längst selbst Geschichte ist. Sein Urgroßvater – einer der letzten großen, „kleinen“ Zirkusdirektoren des Landes – erzählt ihm die Geschichten seiner Vorfahren: von Aufbruch, Entbehrung und der Verfolgung im Dritten Reich. Diese Rückblenden, zart und spielerisch animiert, verweben sich mit den Szenen des Alltags zu einer dichten Erzählung über Erinnerung, Herkunft und Selbstfindung. Die Kamera bleibt dabei immer auf Augenhöhe mit dem Kind, das sich zwischen Tieren, Wohnwagen, Proben und Träumen bewegt.
Der Film findet seine größte Stärke im Staunen. Nicht in der Manege, sondern in den kleinen Momenten: wenn Santino sich fragt, was er an seinem elften Geburtstag im Zirkus zeigen soll – Jonglage, Dressur, Akrobatik? Oder gar nichts? Diese einfache Frage wird zum Leitmotiv einer Kindheit im Übergang, zwischen Pflicht und Freiheit, Zugehörigkeit und Selbstbestimmung. Es ist die Suche nach einer Rolle, die nicht vorgegeben, sondern gelebt werden will.
Julia Lemke und Anna Koch erzählen dies mit einem dokumentarischen Blick, der nichts verklärt und nichts verrät. Sie vermeiden das, was so viele Filme über das „fahrendes Volk“ machen: den exotisierenden Blick, das Folkloristische, das Fremde. Zirkuskind stellt nicht aus, sondern ein. Es zeigt eine Lebensform, die immer am Rand stand und doch ein wichtiger Teil der deutschen Wirklichkeit ist. Der Wohnwagen, der über Landstraßen zieht, ist hier kein Symbol des Ausbruchs, sondern ein Zuhause in Bewegung.
Die Stärke des Films liegt auch in seiner Struktur: Drei Ebenen fließen ineinander – die Gegenwart des Jungen, die Erinnerung des Urgroßvaters und die Geschichte des Zirkus als verschwindende Kulturform. Was daraus entsteht, ist mehr als ein Kinderfilm. Es ist ein Familienepos im Miniaturformat, getragen von Zärtlichkeit und der Erkenntnis, dass Identität immer etwas Bewegliches bleibt.
Besonders beeindruckend ist die visuelle Umsetzung. Die Manege wirkt nie als Bühne, sondern als dauernder, Leben in den Alltag pumpender Herzschlag. Die Animationssequenzen, in denen die Kriegserinnerungen des Urgroßvaters aufleben – von der Flucht, der Ausgrenzung, der Angst –, verleihen dem Film eine emotionale Tiefe, die über den kindgerechten Rahmen hinausgeht. Diese Passagen, subtil, nicht moralisierend, öffnen den Blick für die historische Verwundbarkeit jener, die „anders“ leben. Und dann sehen wir wieder Alltag, das Wesentliche im Unspektakulären. Den Lauf der Zeit.
Dass dieser Film im Rahmen der Initiative Der Besondere Kinderfilm entstand, die immer wieder in den letzten Jahren für ungewöhnlich schöne Kinderfilme verantwortlich zeichnete, ist nicht mehr als eine Fußnote. Aber eine wichtige. Denn sie zeigt, dass anspruchsvolles Kino für Kinder existieren kann, einm Kino, das ohne pädagogischen Zeigefinger, aber mit tiefer Empathie erzählt. Lemke und Koch vertrauen der Intelligenz ihres jungen Publikums – und dem Mitgefühl der Erwachsenen.
Santino, der in einem der letzten fahrenden Zirkusse Deutschlands groß wird, verkörpert am Ende mehr als nur Kindheit. Er steht für das fragile Gleichgewicht zwischen Tradition und Selbstbestimmung, für die Fähigkeit, in Bewegung zu bleiben, ohne sich zu verlieren.
Zirkuskind ist ein Film über Herkunft, über Freiheit und über die fast schon zärtliche Last der Familie. Ein Film, der still erzählt, was viele verlernt haben zu hören: dass es auch inmitten des Lärms unserer modernen Welt noch Räume gibt, in denen das Leben kleiner, aber wahrhaftiger ist.
Zirkuskind ist ein kleines Wunder von einem Dokumentarfilm – und vielleicht eines der schönsten Plädoyers seit langem für ein anderes, für ein bewegliches Deutschland, nicht nur auf den Straßen.