Deutschland/F 2025 · 102 min. · FSK: ab 6 Regie: Ina Weisse Drehbuch: Ina Weisse Kamera: Judith Kaufmann Darsteller: Nina Hoss, Saskia Rosendahl, Vincent Macaigne, Thorsten Merten, Camille Loup Moltzen u.a. |
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Immerhin die Möglichkeit von Leben... | ||
(Foto: DCM) |
Schon in Ina Weisses Debütfilm Der Architekt (2008) stand ein von Josef Bierbichler großartig verkörperter Architekt im Zentrum einer Geschichte, in der es auch um Lebenslügen ging. Nach ihrem zweiten Film Das Vorspiel (2019) ist in Weisses nun drittem Film Zikaden erneut ein Architekt eine der tragenden Figuren, dieses Mal allerdings deutlich im Hintergrund positioniert und von Weisses Vater, der ebenfalls Architekt ist, verkörpert. Er hadert mit den Folgen eines Schlaganfalls und einem Leben, das nicht mehr dem entspricht, was er sich als lebenswert vorstellt und damit sowohl seine Frau (von Weisses Mutter gespielt) als auch die von Nina Hoss verkörperte Tochter Isabell mehr und mehr vereinnahmt. Nicht nur durch den zunehmenden Plegeaufwand, den Weisse genauso wie das Altwerden gnadenlos illustriert, sondern auch über die Schatten der Vergangenheit. Vor allem Isabells gescheiterte Ambitionen, in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten, und ihrer ernüchternden Arbeit als Immobilienmaklerin.
Aber nicht nur Isabells Erwerbsarbeit ist eine ernüchternde Lebenslüge, auch die Beziehung zu ihrem Partner Philipp (Vincent Macaigne) ist von einer zunehmenden, aus tumber Überforderung und fehlenden Visionen genährten Leere geprägt, die letztendlich zu einer Trennungskrise führt.
In diese Leere tritt die einer völlig anderen Gesellschaftsschicht entstammende Anja (Saskia Rosendahl), die, alleinerziehend und an prekären Jobverhältnissen leidend, zufällig auf Isabell trifft, weil die sich um das einstige Wochenendhaus der Familie, eine architektonische Perle, kümmern muss. Für diese zarte, vorsichtige Annäherung zweiter unterschiedlicher Menschen lässt sich Weisse vielleicht zu Anfang ein wenig zu viel Zeit und wirkt gerade die erste verbale Begegnung auf einer Brücke ein wenig konstruiert und aufgesetzt, doch funktioniert gerade dieses Szene dann auch wie eine narrative Sprungfeder. Nicht nur gelingt es Weisse, die verhärteten Blicke und Seelen ihrer beiden Heldinnen überzeugend zu verzwirbeln und langsam aufzuweichen, sondern auch das dysfunktionale Umfeld kathartisch einzubinden.
Mit einem hervorragenden Score (Annette Focks), der gerade über subtile Gitarrenmusik die Pole zusammenführt, die sonst kaum zusammenkommen – zwei Generationen, zwei Schichten, zwei Leben –, erzählt Weisse bis in die letzten Nebenrolle hinein von der Härte des Lebens und der Weichheit der Sehnsucht, die bei aller Härte dann doch immer wieder obsiegt, ganz so, wie das weiche Wasser, das im Tao Te King den harten Stein besiegt.
Aber Weisse erzählt zum Glück keine Wohlfühlgeschichte, denn Glück sieht dann doch anders aus. Doch immerhin kommt durch die Annäherung zweier einsamer Fremder Bewegung in ihrer beider Leben, wodurch sogar das versteinerte Altwerden eine neue Dynamik und ein so stilles wie provokantes Ende findet und ein paar Mal sogar so etwas wie die Möglichkeit von Liebe im Raum steht.
Doch die Leere verschwindet auch durch die Teillösung des Problems nicht, bleibt es still in Weisses Film und nimmt sie sich die notwendige Zeit, sich um die Nebenfiguren zu kümmern, etwa den Chef einer Bowlingbahn, bei dem Anja irgendwann zu arbeiten beginnt. Neben den vielen Polaritäten, die Weisse aufbaut, werden hier auch die verlorenen Lebenslinien angedeutet, die durch die Wiedervereinigung der beiden Deutschland entstanden sind, eine Leere, die so entsetzlich wie banal ist.
Das von Weisse angeleitete Ensemble unterlegt diese subkutanen Narrativlinien mit einer großartigen Intensität. Dabei ist die Verwandlung von Nina Hoss ähnlich verblüffend wie die fast schon surreale Entpuppung des Charakters, den Saskia Rosendahl verkörpert. Dass all die Verwandlung am Ende die Sprachlosigkeit und Stille nicht auflöst, ist da fast schon Nebensache und wird vielleicht kaum jemand bemerken, ist es doch so, wie die meisten von uns sich »ins Reine bringen«, um am Ende mit einem kleinen, aber feinen Zustand wunschlosen Unglücks zufrieden zu sein.
»Die Sicherung des Baugrundes ist überall ein wichtiges Thema. Aber hier in Berlin auf jeden Fall. Berlin ist im Wesentlichen auf Morast gebaut. Das Nikolaiviertel und auch das Berliner Schloss wurden auf Eichenpfählen gegründet.«
– Rolf D. Weisse im Film»Bye-bye Berlin, Berlin bye-bye
Alles dahin, endlich sind wir frei
Bye-bye Berlin, dein Berghain brennt
Feuer verzehrt sein Fundament
Bye-bye Berlin, und Schluss mit Uckermark
Ein letzter Kuss im Business-Park«
– Tocotronic
Zweimal Krise: Das wohlgefügte Leben von Isabell gerät durcheinander, als die langjährige Beziehung der erfolgreichen, aber nicht recht zufriedenen Berliner Innendesignerin erkennbar an ihr Ende gerät und sie zugleich begreift, dass ihre Eltern zunehmend nicht mehr alleine zurechtkommen.
Während sie zwischen Berlin und dem Brandenburger Wochenendhaus ihrer Eltern pendelt, trifft sie immer wieder auf Anja, eine rätselhafte junge Frau, die sich als alleinerziehende
Mutter einer Tochter mit schlechten Jobs über Wasser hält.
Die Leben von Anja und Isabell berühren sich kaum. Zufällig treffen sie sich eines Tages auf einer Brücke in dem brandenburgischen Dorf.
Mit Nina Hoss und Saskia Rosendahl spielen zwei der besten deutschen Gegenwartsschauspielerinnen diese beiden, auf den ersten Blick sehr ungleichen Frauen, deren Leben scheinbar nichts verbindet, die sich nun aber zunehmend einander annähern, Gemeinsamkeiten entdecken und Unterschiede.
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Die Berliner Regisseurin Ina Weisse ist eine der spannendsten und interessantesten Filmemacherinnen der Bundesrepublik. Weisse arbeitet in erster Linie als Schauspielerin, doch immer wieder besticht sie mit überaus originellen, sensibel erzählten und sehr persönlichen Autorenfilmen, die vollkommen quer zum Einerlei des deutschen Gegenwartskinos stehen: In Weisses Filmen geht es um Geheimnisse. In Der Architekt (2008) spielte Josef Bierbichler einen charismatischen Macher – der vielleicht nicht zufällig große Dinge vor seiner Familie verbirgt. In Das Vorspiel (2019) spielte Nina Hoss eine Bildungsbürgerin zwischen Toleranz und Autoritarismus, Selbstgerechtigkeit und Kunst, Liebe und Affairen. Und es gab Kinder, die auch nicht immer die
Wahrheit sagen...
Jetzt kommt Weisse dritter Spielfilm ins Kino: Zikaden. Und wieder geht es auch um Geheimnisse.
In der Geschichte der Annäherung zweier ungleicher Frauen erzählt die Berliner Regisseurin auch in zurückhaltender, sensibler Weise von den zwei Deutschlands, die weitgehend parallel nebeneinander her leben, sich nicht verstehen, aber doch erstaunliche Schnittmengen aufweisen.
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Es ist eine Zweckbekanntschaft, die auch Aspekte einer echten, engeren Freundschaft hat, in der kurz sogar eine mögliche Liebesbeziehung aufscheint, und das Erkennen einer Nähe und Verwandtschaft über alle Grenzen des eigenen Hintergrunds hinweg. Und in der doch auch immer etwas da ist, das beide fundamental trennt, etwas Unausgesprochenes.
Auch mögliche schmutzige Geheimnisse. Denn es wird bald klar, zuerst uns Zuschauern, dann auch Isabell, dass Anja nicht immer die
Wahrheit sagt.
Könnte es also nicht sein, dass die häufigen zufälligen Treffen der beiden gar nicht so zufällig waren, dass Anja sie geplant hat, dass sie Isabell bewusst kennenlernen wollte, um sie auszunutzen, sich in ihr Leben hineinzuschleichen und einen Anteil daran zu gewinnen, aus Neid oder aus Gier, oder weil sie einfach nicht ganz normal ist?
Oder ist das alles die reine Projektion?
Genau solche Fragen treiben diesen Film an, und geben ihm, so ruhig und gleichmäßig und beiläufig, gewissermaßen Französisch er erzählt ist, auch den Touch eines Psychothrillers.
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Dies ist auch ein »Intruder«-Film. Also ein Film über einen Eindringling – und damit über die Angst, die untergründige, kaum sich selbst eingestandene, aber umso wirksamere Angst der Oberschichten und bildungsbürgerlichen Schichten, den Urbanen vor den Bildungsfernen, vor der Landbevölkerung.
Aber was treibt Anja wirklich an? Sie hat auch etwas ganz und gar Verlorenes, Hilfloses und gleichzeitig eine große Sehnsucht. Sie will nicht nur die sein, die sich mehr schlecht als recht finanziell über Wasser hält und mehr schlecht als recht ihre Tochter großzieht – immer wieder knapp davor, mit dem einen oder dem anderen zu scheitern. Auch sie hat Sehnsüchte, auch sie hat den Wunsch nach einem anderen, besseren Leben – und es ist keine Frage, dass sie zumindest sehnsuchtsvoll und vielleicht auch ein bisschen neidisch auf Isabell schaut, der alles zuzufallen scheint und die scheinbar das, was sie längst lebt und besitzt, gar nicht würdigen kann und sich in Wohlstandsproblemchen verzettelt.
Diese Anja ist die eigentliche Hauptfigur des Films, man liebt sie, je länger er dauert. Sie ist die Rätselhafte, sie ist die, von der man mehr wissen will, während man von Isabel alles zu wissen glaubt – was vielleicht auch nicht richtig ist.
Isabell steht für eine Klasse und ein Milieu: die individualistische »Generation Berlin« (Heinz Bude), selbstbewusste, bildungsbürgerliche Menschen, die Ende der 80er und in den wilden 90ern erwachsen wurden, die ihr Leben für sich definieren und ohne Bindungen leben wollen; aber zugleich über dieses Leben vollkommene Kontrolle haben möchten. Vielleicht geht genau dieses eine aber nicht mit dem anderen zusammen.
Dieses Berlin-Mitte-Volk trifft jedenfalls hier aufs Brandenburger Land. Auf das ganz pragmatische Leben in den Tag hinein, mit knappem Geld und im Kampf mit den Behörden, mit bürokratischen Vorschriften und gesellschaftlichen Regeln, die einen unnützer, als die anderen.
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Das Thema Landflucht, das Aufeinandertreffen von Städtern und Landmenschen, das auch in anderen neueren deutschen Filmen zunehmend eine Rolle spielt, ist hier ein zentrales Motiv, prägnant in Szene gesetzt von der wunderbaren Kamera Judith Kaufmanns. Es ist die Geschichte von den »Somewheres« und den »Anywheres« (David Goodhart), wie die Soziologen das nennen, von den zwei Universen einer gespaltenen deutschen Gesellschaft: Strassjeans gegen Anzüge, Sahnetorte gegen Superfood, niedriger Bildungsstand gegen Auslandsstudium, Ballermann gegen Achtsamkeits-Etepetete, Minijobs gegen Öko-Elite.
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Auch Architektur spielt in dem Film von Ina Weisse, der Tochter eines Architekten, deren Debüt »Der Architekt« hieß, ein weiteres Mal eine wichtige Rolle.
Denn auch hier ist die Vaterfigur der – womöglich recht autobiographisch gestalteten – Isabell ein ehemals erfolgreicher, prominenter und charismatischer Architekt (gespielt von Rolf D. Weisse, dem wirklichen Vater der Regisseurin in einem unfassbar intensiven, faszinierenden Auftritt. So wie auch Isabells Mutter von deren Mutter Inge Weisse gespielt wird), der noch sein Wochenendhaus als eindrucksvollen modernistischen Bau entworfen und für sich selbst gebaut hat.
Architektur steht in »Zikaden« nicht nur für Kunst, sondern auch für bewusste Gestaltung des Lebens und für dessen Ordnung. Die Ordnung, die Isabell zunehmend entgleitet und die Anja so verzweifelt sucht.
Dies ist ein kleiner, feiner, sehr sehenswerter und geheimnisvoller Film, der auf eine zarte sensible Weise erzählt: unaufdringlich, sanft, über Beobachtungen, nicht über Dialoge.
Anmerkung am Rande:
Es ist meiner Ansicht nach grundfalsch und schmerzt, wenn man diesen hervorragenden Film kennt, schadet ihm auch an der Kinokasse enorm, dass er leider über den Eindruck und die »Pitchline« vermarktet und jetzt auch besprochen wird, dass die alten Eltern der einen Hauptfigur Isabell pflegebedürftig werden. Wer möchte so einen Film sehen? Wer möchte im Kino sehen, was er schon im wirklichen Leben am liebsten verdrängen will? Und in Zikaden ist dieser Erzählstrang wirklich nur einer von fünf bis acht Handlungsteilen, die der Film verhandelt. Es geht hier nicht zentral darum, dass die Eltern – genau genommen ist es ja auch nur der Vater, nicht die Mutter – zunehmend nicht mehr alleine zurechtkommen. Wenn man nichts über Zikaden weiß, muss man aber diesen falschen Eindruck bekommen.