Zimmer 212 – In einer magischen Nacht

Chambre 212

Frankreich/B/L 2019 · 87 min.
Regie: Christophe Honoré
Drehbuch:
Kamera: Rémy Chevrin
Darsteller: Chiara Mastroianni, Benjamin Biolay, Vincent Lacoste, Kolia Abiteboul, Camille Cottin u.a.
Ein Film der von »uns« erzählt
(Foto: Olymp Film)

Risiko und Geheimnis

Kino als Amüsement: Christophe Honorés moderner Liebesfilm Chambre 212

Ein Ehepaar: 20 Jahre lang sind die Jura­pro­fes­sorin Maria und Richard schon verhei­ratet, manche Krise haben sie ebenso schon hinter sich wie das Rosarot der ersten Verliebt­heit. Gewohn­heiten und leichtes Desin­ter­esse domi­nieren. Dann erfährt er durch einen dummen Zufall, dass sie immer wieder mal Affären hat, und sie zieht erst einmal in das Zimmer 212 des gegenü­ber­lie­genden Hotels. Von dort aus hat sie nicht nur den Überblick darüber, was bei ihrem Mann so vor sich geht. Sie hat auch Zeit, um ein bisschen nach­zu­denken und alles Revue passieren zu lassen.

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In zwei wichtigen Bereichen des mensch­li­chen Lebens sind die Franzosen (und viel­leicht überhaupt alle Romane katho­li­schen Länder) uns Deutschen (und viel­leicht allen protes­tan­tisch geprägten Ländern, also auch den Ameri­ka­nern und den Briten) weit voraus: In der Bereit­schaft zum Risiko und in der Liebe zum Geheimnis. Beides, das Risiko und das Geheimnis werden nicht tabui­siert, sondern feti­schi­siert; sie werden erotisch aufge­laden. Und Risiko und Geheimnis sind diesen Menschen derart selbst­ver­ständ­lich, dass man mit ihnen spielen kann. Und genau das tut dieser Film.

Bezie­hungs­krise – das heißt hier nicht wie oft in deutschen Filmen Schreien, Weinen, verkrampfte Dialoge und das alles auf den Tisch kommen und ausge­spro­chen werden muss. Im Gegenteil: Es heißt Komödie, Erotik und Philo­so­phie.

Das Ergebnis ist eine spritzige turbu­lente Komödie, eine Komödie des Ehebruchs und der Wieder­ver­hei­ra­tung, die beides nicht etwa der Lächer­lich­keit preisgibt, sondern umgekehrt zeigt, wie lächer­lich wir Menschen gerade dann sind, wenn wir glauben, alles ganz ernst zu nehmen und nehmen zu müssen. Sehr fran­zö­sisch ist das alles und nicht wahn­sinnig deutsch in dem plakativ zur Schau getra­genen expressiv zele­brierten Unernst, unter dem aller­dings der irra­tio­nale Ernst der Leiden­schaft liegt.

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Der fran­zö­si­sche Regisseur Chris­tophe Honoré ist ein Meister des Über­schusses und der Über­schrei­tung. In seinem Kino sind Geschichten immer nur ein Vorwand, um etwas anzusehen, Dialoge immer nur ein Vorwand, um etwas zu zeigen. Honoré, gerade 50 Jahre alt, ist als Filme­ma­cher dem inzwi­schen klas­si­schen fran­zö­si­schen Kino der Nouvelle Vague verpflichtet, den Filmen von Francois Truffaut und vor allem den einzig­ar­tigen Musicals des Solitärs Jacques Demy.

Auch als Referenz an Jacques Demy muss man die Tatsache verstehen, dass Honoré hier die Haupt­rolle mit Chiara Mastroi­anni besetzt hat. Denn Mastroi­anni ist nicht nur die Tochter eines berühmten Vaters, sondern auch einer nicht minder berühmten Mutter: Catherine Deneuve ist der Star der beiden schönsten Film­mu­si­cals von Jacques Demy.

Nun ist Zimmer 212 kein Musical. Es nutzt aber die Mittel dieses Genres. Da ist zum einen die einzig­ar­tige Eröff­nungs­se­quenz, da ist zum anderen der exzessive Gebrauch von Musik. Vor allem die Chansons von Charles Aznavour sind es, die diesem Film eine sehr eigene Note und ein einzig­ar­tiges, zugleich nost­al­gi­sches Flair verleihen.

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Dieser Film ist Kino als Amüsement; es ist ein moderner Liebes­film, der sich, so könnte man sagen, keinerlei Illu­sionen über das Wesen erwach­sener Paar­be­zie­hungen macht. Aber es ist zugleich nost­al­gi­sches Liebes­kino, also ein Film, der glei­cher­maßen roman­tisch wie utopisch ist, der die Liebe als Passion feiert, als etwas, das die Menschen von morgens bis abends beschäf­tigt und in einen anderen Zustand versetzt.

Darum gibt es hier auch in den Ecken keinen Dreck, der Wirk­lich­keit beglau­bigen soll. Dieser Film belästigt seine Zuschauer nicht mit Lektionen in Natu­ra­lismus: Alles ist over the top, »Bigger than Life«, dabei sehr euro­päisch, also nicht mora­li­sie­rend, dafür ästhe­tisch: Die Menschen leben als Bilder­buch-Intel­lek­tu­elle inmitten endloser Bücher­re­gale in einer schönen, gut einge­rich­teten, zivi­li­sierten Wohnung.
Manche werden sagen, das sei alles zu einfach, zu lustig, überdies ironi­sie­rend, es sei ein Film, der von »First World Problems« erzählt. Stimmt genau! Man könnte auch sagen: Er erzählt von uns.

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Post­scriptum: Bei den Sujets Risiko und Geheimnis bei diesem Film musste ich an die fran­zö­si­sche Philo­so­phin Anne Dufour­man­telle denken, die über beide Themen überaus hell­sich­tige Bücher geschrieben hat. Sie wunderte sich darüber, dass ausge­rechnet Menschen, die in der sichersten Epoche seit Menschen­ge­denken leben, selbst banalste Risiken scheuen. Und in der Epoche totaler Trans­pa­renz vertei­digte sie den Wert des Geheim­nisses. Honorés Film scheint mir in seinen Posi­tionen sehr nahe an den Gedanken dieser recht unbe­kannten Philo­so­phin und ihrer unter­schätzten Ideen zu liegen.