USA/HK 2017 · 114 min. · FSK: ab 0 Regie: Stephen Chbosky Drehbuch: Stephen Chbosky, Steve Conrad, Jack Thorne Kamera: Don Burgess Darsteller: Jacob Tremblay, Julia Roberts, Owen Wilson, Izabela Vidovic, Mandy Patinkin u.a. |
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Den Blick von Tätern und Opfern gleichermaßen ändern |
»Ich wünschte, jeder Tag wäre Halloween. Wir könnten alle immerzu Masken tragen. Dann könnten wir uns in Ruhe kennenlernen, bevor wir zu sehen kriegen, wie wir unter den Masken aussehen.« – Raquel J. Palacio in »Wunder«
Schon der Jugendbuchbestseller von Raquel J. Palacio hatte es in sich. Eine Emotionswaschmaschine mit Dauerschleudergang auf höchster Stufe, die Literaturblogger und Leitmedienkritiker gleichermaßen in die Knie zwang. Denn endlich gab es wieder mal Licht am Horizont eines der düstersten Schlachtfelder menschlichen Elends, das an Kindergärten, Schulen und in Arbeitswelten über Rottenbildung nur allzu gern durchgeführte Ausgrenzen von Außenseitern jeder Art, kurzum Mobbing. Denn darum geht es vor allem in Palacios Buch und in Stephen Chbosky filmischer Adaption: wie ein destruktives Mobbingnetz entsteht und wie es – in der Realität tatsächlich die Ausnahme – auch wieder entwirrt wird.
Und das funktioniert bei Chbosky genauso gut wie bei Palacio. Vielleicht sind die Identifikationsmöglichkeiten des Filmes sogar noch weiter gesteckt, werden die Eltern von Auggie Pullman (Jacob Tremblay), einem an der Gesichtsdeformation Treacher Collins-Syndrom leidenden 5-Klässler, doch von Hollywoods erster Garde, Julia Roberts und Owen Wilson verkörpert. Isabel Pullman hat Auggie wegen seiner Deformation bislang zu Hause unterrichtet, doch nun soll Schluss damit sein und gemeinsam mit ihrem Mann Nate und Auggies älterer Schwester Via (Izabela Vidovic) begleiten sie Auggie eines Tages auf seinem Weg zu seinem ersten regelkonformen Schultag mit regelkonformen Schülern.
Wie nicht anders zu erwarten, muss Auggie vom ersten Tag an leiden. Und das trotz präventiver Maßnahmen des Schuldirektors Mr. Tushman (Mandy Patinkin). Aber was wenigen Betroffenen gelingt, schafft trotz immensen Leidens Auggie. Er bleibt er selbst. Zwar versucht auch er sich kurzzeitig anzupassen, aber die Unmöglichkeit, normalen Standards genügen, wird ihm nur allzu schnell deutlich und damit auch der einzige Weg, der ihm bleibt: sich vertrauen und damit auch darauf vertrauen, dass andere weniger den äußeren Auggie als den inneren sehen.
Strukturiert wird diese Feuertaufe mit wohltuenden Perspektivwechseln – verschiebts sich der Fokus von Auggies Binnenperspektive zu seinen Eltern, zu seiner Schwester und deren bester Freundin, und zu einem insgesamt etwas einseitigen Bild gesättigter bis übersättigter weißer New Yorker Mittelklasse. Doch um soziale Gerechtigkeiten geht es weder in dem Buch noch in Chboskys Verfilmung, was damit gerechtfertigt werden kann, dass es sich beim Thema Mobbing um ein klassenübergreifendes Phänomen handelt, das auch in den besten Häusern vorkommt. Und in denen muss Auggie leiden. Um dies zu verdeutlichen, spielt Chboskys mit seinem in jeder Hinsicht überzeugenden Ensemble tatsächlich die ganze emotionale Hollywood- und Feelgood-Klaviatur durch, die möglich ist und die in dieser Intensität schon fast wie ein Hollywood-Fossil wirkt. Einen Hinweis darauf gab der deutsche Verleih zwar bereits bei seinen Pressevorstellungen, als er Taschentücher mit dem Filmplakataufdruck von Wunder verteilte. Mochte das vor dem Film noch verwirren, wurde nach dem Film und der völlig aufgebrauchten Packung klar, was damit gemeint war.
Deshalb ist es eigentlich auch fast egal, dass man sich bei Wunder immer wieder an den Kopf fassen kann und muss wie bei jeder gut gemachten emotionalen Gehirnwäsche. Denn natürlich weiß jeder, dass Mobbing trotz immer weit reichenderen Präventionsprojekten auch an deutschen Schulen selten gut ausgeht; man denke nur an die Spitze des Eisberges, dem Mobbing an einem jüdischen Schüler an einer Schule in Berlin Wedding im letzten Jahr. Und natürlich kann Wunder durchaus auch als »Inspiration Porn« durchgehen, wird hier doch auf Kosten eines nicht heilbaren Kranken, eines Menschen mit Behinderung, ein »Feelgood« mit Kitschpotential bei uns Gesunden erzeugt.
Aber egal. Denn bei allem kalkuliertem Herzschmerz dieses Heulers der Superlative, bleibt dennoch auch so etwas wie eine konstruktive Wirklichkeit zurück, die das Thema Mobbing dann doch bereichert, zeigt Wunder doch sehr explizit, dass es nicht allein daran getan ist, Mobbing zu verurteilen, sondern das es möglich ist, den Blick von Tätern und Opfern gleichermaßen zu verändern, das es dann und wann wirklich eine Chance gibt, das »Andere«, also das »Fremde« zur »Heimat« zu machen.