The Woman Who Left

Ang babaeng humayo

Philippinen 2016 · 228 min.
Regie: Lav Diaz
Drehbuch:
Kamera: Lav Diaz
Schnitt: Lav Diaz
Darsteller: Charo Santos-Concio, John Lloyd Cruz, Michael De Mesa, Nonie Buencamino, Shamaine Buencamino u.a.
Charo Santos-Concio, die Gestaltenwandlerin

Bis die Nacht die Menschen verschluckt

Ang babaeng humayo ergießt sich der Titel in großen Lettern über die Leinwand, The Woman Who Left. Schwarz­weiß, klar, von dieser etwas schlie­rigen Sorte, wie es das digitale Kino hervor­bringt. Lav Diaz aber ist ein Spezia­list dafür, die Weißtöne hell leuchten zu lassen, sich nicht zu scheuen, bisweilen ein wenig über­zu­be­lichten, das Schwarz dunkel­schwarz die Figuren verschlu­cken und nur ihre Augen leuchten zu lassen, in dann sich erge­bender unbän­diger Konzen­tra­tion, wie es auch Pedro Costa vermag. – Eine Frau­en­gruppe, aus der Distanz einer Totalen gefilmt. Es wird geredet, in diesem unver­gleich­li­chen Singsang des Tagalog. Tableaux der Arbeit auf dem Feld, der Zusam­men­künfte auf einer Terrasse, in einem Schlaf­saal, das Auge des Zuschauers (nicht die Kamera, wie dies für Diaz typisch ist) gleitet über die vielen Frauen, alte, junge, Mädchen, und sieht am Bildrand dann: Männer, die mit Maschi­nen­ge­wehren das Tun der Frauen be- oder über­wa­chen. Klar, ein Gefängnis, so wissen wir aus der Ankün­di­gung des Films, die Bilder jedoch zeigen für das europäi­sche Auge wenig »Typisches«, das augen­blick­lich auf ein Gefängnis hinweist. Alles erscheint eher idyllisch, nur langsam und allmäh­lich, durch halb­to­tale Einstel­lungen, schält sich eine Figur aus der Gruppe, die zukünf­tige Prot­ago­nistin des Films.

Langsam und allmäh­lich

Langsam und allmäh­lich: das ist genau die Qualität des Kinos von Lav Diaz, seit einiger Zeit mit dem Label »Slow Cinema« versehen. Aber was heißt das eigent­lich: slow, außer, dass es der Zuschauer mit exor­bi­tanten Spiel­film­längen zu tun bekommt – die by the way aber auch nicht länger sind als eine Binge-Session mit der persön­li­chen Lieb­lings­serie (das wäre dann schon gleich das nächste Stichwort: wie Lav Diaz die Drama­turgie anlegt, ähnlich einer groß ange­legten Serie, in der sich die Erzähl­stränge abwech­seln, ohne je abge­schlossen zu sein). Diaz entwi­ckelt seine Geschichten langsam und allmäh­lich, erzählt nicht explizit im »ich sage Euch jetzt mal, was hier abgeht«-Stil eines aukto­rialen Besser­wis­sers, sondern implizit, durch die Beschrei­bung der Szenen durch ihre schiere Bild­lich­keit, feine Texturen von Geschichts­mög­lich­keiten webend, aus denen sich ein Faden löst, der sich zu einem Erzähl­strang mit einer Haupt­figur ausbildet – oder ausbilden kann. Manche Fäden werden auch fallen gelassen. Tastendes Suchen eines wie in die Erzählung einge­bet­teten Beschrei­bers oder Chro­nisten, der in der präsen­ti­schen Gleich­zei­tig­keit formu­liert, ohne zu wissen, wohin die Reise geht.

Das ist natürlich alles Bluff, selbst­ver­s­tänd­lich weiß Lav Diaz, wohin die Reise geht. Er ist, so kann getrost gesagt werden, der Moralist unter den gegen­wär­tigen phil­ip­pi­ni­schen Filme­ma­chern (neben Khavn de la Cruz, Raya Martin und Brillante Mendoza), die sich auf den großen Volks­re­gis­seur Lino Brocka berufen.

Lav Diaz ist überdies ein großer Verehrer der russi­schen Autoren. Dosto­je­wski (sein letzter weniger langer Film und erster großer Erfolg Norte ging auf dessen »Schuld und Sühne« zurück), jetzt Tolstoi. Die Geschichte der Frau, unschuldig wegen Mordes verur­teilt, die aus dem Gefängnis freikommt und auf sehr perfide Weise Rache nimmt am Anstifter der Bluttat (ein Riss, der durchs Land geht, wird hier insze­niert, zwischen den Ausge­stoßenen, Hoff­nungs­losen und jenen, die zu Geld gekommen sind und die Nähe der Macht­ha­benden genießen), diese Geschichte ist inspi­riert von der Tolstoi'schen Volks­er­zäh­lung: »Gott sieht die Wahrheit, auch wenn Er jahrelang schweigt.«

Geschichte der Rache

Es ist das Jahr 1997. Über der Geschichte lagert ein diffuser histo­ri­scher Kontext, der zu Beginn und später immer wieder über das Radio verlaut­bart wird, nicht wirklich zu entschlüs­seln für die, die mit den Ereig­nissen der Region nicht vertraut sind. Eine Entfüh­rungs­welle verun­si­chert die Phil­ip­pinen, Ziel sind vor allem die aus Hongkong zurück­ge­kehrten chine­sisch-phil­ip­pi­ni­schen Bürger, nach der briti­schen Übergabe von Hongkong an China. Es waren die meisten Entfüh­rungen, die die Phil­ip­pinen in einem Jahr regis­trierten, Manila bekam das Label »Asia’s kidnap­ping capital« verpasst.

Vor diesem Hinter­grund spielt diese Geschichte der Rache. Auf einer Insel des phil­ip­pi­ni­schen Archipels verviel­fäl­tigt sich die aus dem Gefängnis entlas­sene Haupt­figur Horacia Somo­rostro zu drei Frauen: die eine betreibt eine Garküche, die andere treibt sich in der Kirche herum, die dritte erforscht im Schatten der Nacht an der Seite eines Straßen­händ­lers die kleine Stadt – und das Objekt ihrer Rache, ihren Ex-Lover Rodrigo Trinidad, der den Mord ange­stiftet hatte, um sich an ihrer Untreue zu rächen, heute zu Geld und Ansehen gekommen.

Horacia ist wie ein viel­ge­stal­tiger Rächer, der, so heißt es einmal im Film, stets plötzlich wie Batman in der Nacht auftau­chen kann. Mit jeder der drei Figuren, die Horacia einnimmt, die Köchin, die Fromme, die Harte mit der Baseball-Kappe, verbindet sich eine andere Tonalität und die Begegnung mit weiteren Figuren, die wie Alle­go­rien der phil­ip­pi­ni­schen Armut erscheinen: die Humpelnde (in der Garküche), die Obdach­lose (in der Kirche), die Trans­ves­titin (auf der Straße). Besonders schön ist das Groteske und Queere, die den Gestal­ten­wandel narra­ti­vie­rende Episode, die sich in der Nacht an der Seite des Balut-Straßen­händ­lers entfaltet, in der Horacia der Trans­ves­titin Hollanda begegnet. Und die am Ende die Rache für sie voll­ziehen wird.

Horacia ist aber auch eine Retterin. Sie gibt den Verlo­renen Beistand in Form von Arbeit, Essen oder Pflege. Schon im Gefängnis hat sie die Kinder unter­richtet, in Tagalog, mit ihnen die Verben konju­giert. Die Rache, die schließ­lich ausge­führt wird, hat etwas zutiefst Doppel­bö­diges, Ambi­va­lentes und Unmo­ra­li­sches, das alles ausgelöst durch die gute Horacia: Es zeigt das Ende mora­li­scher Eindeu­tig­keit, im Jahr 1997. Aus dem Radio ist der Tod von Mutter Teresa zu vernehmen.

Gebettet ins Zirpen der Grillen der Nacht entfaltet sich so ein höchst unmo­ra­li­scher Raum, in dem verzwei­felt versucht wird, Gutes zu tun und die Bevöl­ke­rung oder allge­meiner: la gente, das Volk, zu retten. Über ihn legt sich das Dunkel der Nacht, die die Menschen verschluckt, bis nur noch das Bellen eines Hundes zu vernehmen ist.

Lav Diaz' Filme sind seit den zehn Jahren, in denen ich sein Schaffen verfolge, unge­bro­chen kompro­misslos. Und unge­bro­chen katho­lisch-synkre­tis­tisch-histo­risch und hoff­nungs­voll.

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Anmer­kungen: Zu Lino Brock, »The Brockas«, Charos Santos

Lino Brocka, kurze Skizze: machte immer auch sehr populäres Genre­kinos, um Geld zu haben für seine Filme über die Ausge­son­derten der phil­ip­pi­ni­schen Gesell­schaft, die in Slums leben, arm, aber aufrecht, die melo­dra­ma­ti­sche Verzweif­lung durch­leben, an deren Ende oft der Tod steht. Aufwüh­lendes, mitneh­mendes, aber auch hymni­sches und von großer Aufrich­tig­keit getra­genes Kino.

»The Brockas«: Lav Diaz spielt mit einigen anderen Filme­ma­chern zusammen in einer Band: »The Brockas«. Einmal, in einer doku­men­ta­risch gehal­tenen Szene, die an den Vergün­gungs­strand des Ortes hinführt, sind die Riffs einer elek­tri­schen Gitarre zu vernehmen: Es spielt Lav »Lavrente«, so seiner voller Name, Diaz.

Charo Santos: Sie spielt die Haupt­figur Horacia. Santos ist so etwas wie das Gesicht des phil­ip­pi­ni­schen Fern­se­hens, Mode­ra­torin und Gele­gen­heits­schau­spie­lerin, Harvard-Absol­ventin, einfluss­reiche TV-Produ­zentin und Mega-Geschäfts­frau der phil­ip­pi­ni­schen Film­in­dus­trie. Ihre Besetzung lässt natürlich viel Raum für Inter­pre­ta­tion: Kuschelt Lav Diaz mit der kommer­zi­ellen Auswer­tung? Ist seine Nähe zu den Media-Mächtigen nicht genau das, was er bei seinen Figuren anpran­gert? Verdankt sich am Ende sein inter­na­tio­naler Erfolg auf den Festivals einer Strategie, die geschult ist an populären und leicht konsu­mier­baren TV-Formaten? Oder ist er ein phil­lip­pi­ni­scher Fass­binder, der Leuten neue Rollen, ein neues Gesicht gibt? Und am Ende von höchster Ebene aus die Film­pro­duk­tion seines Landes beein­flussen kann? Viel­leicht gar sein Land verändern kann, auch im Jahr 1 von Rodrigo Duterte?