Frankreich/Ö/D 2003 · 113 min. · FSK: ab 12 Regie: Michael Haneke Drehbuch: Michael Haneke Kamera: Jürgen Jürges Darsteller: Isabelle Huppert, Béatrice Dalle, Maurice Bénichou, Patrice Chéreau u.a. |
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Bestien |
Wolfzeit ist ein grausamer Film, einer, bei dem das Zuschauen nicht den geringsten Spaß macht, oder vielleicht nur dann, wenn man keinen Funken Idealismus mehr in sich trägt und in den Geschehnissen auf der Leinwand sein destruktivistisches Weltbild bestätigt siehtMichael Haneke at his best. Die schlüssig gestrickten menschlichen Abgründe der Klavierspielerin sind wohl dem Mitwirken Elfriede Jelineks zu verdanken, ihrer Romanvorlage, die im Gegensatz zu den Büchern Michael Hanekes ihre Figuren nicht dauerhaft in die Rolle wehrloser Opfer zwingt.
Die Geschichte spielt im Irgendwo, im Irgendwann und beginnt ganz ähnlich wie Hanekes Funny Games: Eine Familie will Tage in ihrem Feriendomizil verbringen und trifft dort auf Eindringlinge, die sich mit verstörender Gewalt ihrer Privatsphäre bemächtigen. Und ihr im Falle von Wolfzeit gleich in den ersten Filmminuten den Vater nehmen. Der Film handelt davon, wie Anna (Isabelle Huppert) und ihre zwei Kinder die Zeit danach verbringen. Alle stehen unter Schock und irren umher, als wären sie auf der Fluchtvor den Eindringlingen, die sich nun im Besitz des Autos befinden, vor den Bildern des sterbenden Vaters, vor dem Erinnern. Ihr Umherirren ist ziellos, und genauso fühlt sich der Film an; die Bilder Jürgen Jürges ordnen sich dieser Ziellosigkeit unter. Mutter und Kinder fliehen durch neblige Felder und vereinsamte Landstriche, niemand der dort lebenden Menschen bietet Hilfe an, stattdessen werden Fensterläden zugemacht und in der Stube die Lichter gelöscht.
Irgendwann beginnt man zu ahnen, dass sich die Drei in einer Art Kriegsgebiet befinden. Zwar gibt es keine feindlichen Flieger, die Bomben abwerfen, auch sind weit und breit keine Soldaten in Sicht. Der Krieg scheint eher genereller Natur zu seinund status quo für Menschen verschiedenster Herkunft. Entlang der verwilderten Bahngleise liegen Leichen, deren Schuhe und Kleider von den Flüchtlingen eingesammelt werden. Es kommt ein Zug vorbei, der von oben bis unten mit Menschen bepackt ist, doch Anna und ihre Kinder können schreien und rennen wie sie wollen, es interessiert niemanden. Entlang der Gleise erreichen sie ein heruntergekommenes Bahngebäude. Dort hausen eine handvoll Flüchtlinge, die auf den Zug warten. Doch wo er hinführt ist nicht gewiss, und ob überhaupt einer kommt auch nicht. Immer mehr Menschen suchen in der Bahnstation Zuflucht, sie wird ihnen zum Sammelplatz und zur Vorhölle. Während die Horde wartet, werden einige zu Hordenführen. Waren wechseln durch Tausch den Besitzer und die Anführer sind es, die den vermögendsten unter den Flüchtlingen Pferde beschaffen können. Alle anderen kämpfen mit den elementarsten Mitteln ums Überleben. Es wird geraubt, vergewaltigt und inmitten des Gewühls treffen die drei Hauptfiguren auf den Mörder des Vaters. Der Mann streitet vor den Hordenführern alles ab, diese interessieren sich ohnehin nicht sonderlich für die Dinge, die vor ihrem Herrschaftsantritt oder außerhalb der Bahnstation passiert sindnun gelten andere Regeln und das Verbrechen gegen die Familie bleibt ungesühnt.
»Homo homini lupus est«, erkannte Thomas Hobbes, der Mensch ist dem Mensch ein Wolf. Michael Haneke zeigt eine Zeit, die radikal nach diesem Prinzip funktioniert und gerade wegen ihrer unbestimmten Realitätszuordnung an europäische Kriege der jüngsten Vergangenheit erinnert. Wolfzeit könnte genauso gut darwinistisches Zukunftsszenario sein. Der Verdacht liegt jedoch nahe, dass Haneke auch diesmal das Leid vorrangig um seiner selbst Willen inszeniert. Mit seinem gewohnt unbarmherzigen Realismus, der es sogar verlangt, die Nachtszenen ohne zusätzliche Beleuchtung zu filmen. Weil er erzählen möchte, wie schrecklich die Welt sein kann und wie ungeheuerlich der Mensch in ihr. Weil es ihm egal ist, ob die Zuschauer seinen Film anschauen oder nach den ersten Minuten traumatisiert das Kino verlassen verstanden haben ihn Hanekes Philosophie nach beide Parteien. Mit der typisch österreichischen Drastik will Haneke die Menschen erziehen, indem er ihnen einen fauligen Spiegel vorhält und sie zu üblen Gefühlen zwingtein guter Geschichtenerzähler ist er dabei kaum.
Bar jeder Rhythmik und dramaturgisch wertlos leidet der Film knappe zwei Stunden vor sich hin. Er ermüdet vor allem emotional. Denn Anna und ihre Kinder haben kein Ziel, nach dem sie streben, das Warten auf den Zug ist eine Utopie im leeren Raum, Sinnbild des Stillstands und zugleich des Wandels. Menschlich ist Stillstand, in seinen Aktionen aber wird der Mensch zum Wolf. Im Rudel die Starken gegen die Schwachen, bis die Ressourcen knapp werden, dann jeder gegen jeden. Inmitten des Leids gibt es seltene Momente, in denen Menschen ihr Leid teilen. Der Rest ist pure Tortur. Annas Sohn zerbricht daran. Und wenn er am Ende des Films seine Kleider ablegt und ins Feuer taumelt, ist es keine Kehrtwende hin zu menschlichen Werten, wenn einer der Männer ihn davon abhält. Was die Qualen der drei Hauptfiguren umso schlimmer macht, ist die Art des Films, sie bis auf kurze Szenen schwesterlicher Fürsorge nebeneinander leiden zu lassen. Vor allem Anna ist am wenigsten in der Lage, ihren Kindern Trost zu spendenIsabelle Huppert verkörpert sie noch frostiger als die Figur der Klavierspielerin. Es bleibt vollkommen unverständlich, warum nicht wenigstens diese Beziehung zwischen Mutter und Kindern intakt sein kann. Doch Wolfzeit wehrt sich gegen die Ausnahme. Denn im Kosmos Michael Hanekes darf es keine Hoffnung geben.
Die Leinwand wird schwarz, bleibt das auch minutenlang, nur die Buchstaben des Vorspanns laufen in Weiß, dazu kein Ton. Man spürt als Zuschauer, wie schwierig es ist, im Dunkeln stillzusitzen – und wird doch sofort hineingezogen in diesen beklemmend-faszinierenden Film. Offensichtlich hätte Michael Haneke (Die Klavierspielerin) auch ein Lehrer werden können, einer, der glaubt, seine Güte in eine gehörige Portion Strenge kleiden zu müssen: Sein neuer Film Wolfzeit ist ein Science-Fiction aus einer nahen Zukunft und macht es den Zuschauern nicht leicht. Von Anfang an überwiegt Bedrohung, die sich bald schon im Gewaltakt entlädt. Erzählt wird von einer Familie, die in ihr Wochenendhaus kommt, und sich dort plötzlich in eine zeit- und ortlose Welt geworfen findet, die der unsrigen sehr ähnlich sieht, nur das es Recht und Gesetz verschwunden sind, die eingeschriebenen Gewohnheitsregeln unseres Verhaltens nicht mehr zu gelten scheinen, keine Polizei oder Armee mehr existieren, Strom und andere Energiebringer fehlen. Irgendeine ungenannte Katastrophe hat sich ereignet. Auf sich zurückgeworfen zeigen sich die Menschen im Ausnahmezustand – In den Hauptrollen spielen Isabelle Huppert, Beatrice Dalle und Patrice Chéreau – von ihrer schlimmsten Seite – einer ist des anderen Wolf.
Es sind Zustände, die uns ungewohnt erscheinen mögen, die aber ausserhalb des reichen Nordens der Welt fast alltäglich sind: Not, Hunger, Angst, tiefe Erschöpfung. Wie in diesem Film sähe es aus, wenn afrikanische Lebensverhältnisse plötzlich in Europa alltäglich würden. Die Mutter wandert mit ihren Kindern Evi und Benny (so hießen schon die Jungen in Der siebte Kontinent, 1987 und Benny’s Video, 1992) durch die Nacht einer immer dunklen, immer kalten hoffnungslosen Welt. Trotz aller Not gibt es viele kleine Momente der Humanität. Haneke zeigt die gesamte Palette menschlicher Verhaltensformen.
Formal arbeitet Haneke mit Dunkelheit – Wolfzeit ist harte, unangenehme Kost, die erst einmal ratlos macht, ein Horrorfilm irgendwo im Niemandsland zwischen Blair Witch Project, Polanskis Macbeth, Die Rote Wüste von Antonioni und den Living Dead- und Bodysnatcher-Filmen der 70er. Ein Genrefilm genauso wie Autorenkino.
Die »Wolfzeit« ist einer alten germanischen Sage zufolge die Zeit unmittelbar vor der Apokalypse. Mehr noch fällt einem der Philosoph Thomas Hobbes ein, der argumentierte, dass im Naturzustand – ohne die Stützen der Zivilisation – der Mensch wieder zum Tier würde. Im Unterschied zu den vielen Filmen, die – oft etwas naiv – einfach das Gute der menschlichen Natur behaupten und mit Rousseau die Zivilisation als Wurzel allen Übels verdächtigen, ist Hanekes an Hobbes geschulter anthropologischer Pessimismus ein wohltuender Ausgleich – und irgendwie fast schon wieder tröstlich, weil er der Zivilisation, wo sie funktioniert, viel zutraut. Zudem zeigt der Film, dass dort wo das Schlimmste möglich ist, das Beste genauso existiert, enthält in all seinem depressiv stimmenden Gesamtbild doch immer wieder Zeichen der Humanität, bleibt erfüllt von Hoffnung.
Wolfzeit ist, gerade in seiner Kühle, seinem Verzicht auf Emotion, erst recht auf Kitsch, auf psychologische Rechtfertigung des Geschehens und auf jedes Heldentum der Figuren, eine Endzeitvision für die reichen Länder. Was den Figuren geschieht ist jederzeit nachempfindbar. Von wie vielen Filmen könnte man dies schon sagen? Ein spannender, herausfordernder, sehr starker Film, der durch seine Sprödigkeit unangenehm sein mag, aber Bestand haben wird – großes Kino, das substanziell weit mehr zu sagen hat, als viele formalistische Arthouse-Spielereien á la Dogville und Co.