Luxemburg/Irland/USA 2020 · 103 min. Regie: Tomm Moore, Ross Stewart Drehbuch: Will Collins Musik: Bruno Coulais Stimme: Honor Kneafsey, Sean Bean, Eva Whittaker, Simon McBurney u.a. |
![]() |
|
Geschichten und Bilder, wie ein Wandteppich, unlösbar miteinander verknüpft | ||
(Foto: Apple TV+) |
Zum Jahresende mit zwei der besten Animationsfilme des Jahres beschenkt zu werden, ist ein großes Glück. Auch wenn das Glück, wie ja eigentlich immer, einen Wermutstropfen beinhaltet. Denn sowohl Pixars Soul als auch Cartoon Saloons Wolfwalkers sprengen normale Erwartungshaltungen an Animations-, Kinder, und Familienfilme, sind schon ohne ihre erzählte Geschichte ästhetisch so solitär, dass man sich wünscht, sie unbedingt auf der wirklich größtmöglichen Leinwand sehen zu dürfen, um diese Kunst noch besser würdigen zu können. Pandemiebedingt ist das jedoch nicht möglich, ist Soul deshalb auf Disney+ und Wolfwalkers auf AppleTV+ in den versprengten Weiten der Streamingdienste angelaufen. Doch Wehmut mal beiseite und menschliche Adaptionskünste in den Vordergrund gestellt: es geht auch ohne Würdigung und Leinwand, was noch einmal mehr für das große Können ihrer Macher spricht.
Im Fall von Wolfwalkers ist das umso erstaunlicher, als es sich mit Cartoon Saloon um ein verhältnismäßig kleines, stets um seine Unabhängigkeit ringendes irisches Animationsstudio handelt, das, anders als Pixar mit Disney im Hintergrund, keine allumfassende Großmacht darstellt, sondern ähnlich wie das japanische Ghibli-Studio einen sehr individuellen Weg eingeschlagen hat.
Einen Weg, der so wie Ghiblis Weg, auch davon geprägt ist, die eigene nationale Geschichte und Identität prominent zu platzieren. So kümmerte sich das preisgekrönte Erstlingswerk vom Gründerteam um Tomm Moore, Nora Twomey und Paul Young, Brendan und das Geheimnis von Kells (2009), im Kern um das, was auch im neuen Film Wolfwalkers im Zentrum steht – das Erinnern und Wiederaufleben alter irischer Geschichte anhand von verbürgten historischen Quellen.
Doch weitaus mehr als in THE SECRET OF KELLS werden diese Quellen in Wolfwalkers auch künstlerisch integriert. So wie Isao Takahata in Ghiblis Meisterwerk Die Legende der Prinzessin Kaguya alte japanische Tuschetechniken in seine animierten Tableaus integriert hat, hat Tomm Moore für Wolfwalkers die Ästhetik der alten irischen illustrierten Handschrift des Books of Kells aus dem 8. Jahrhundert in die Animationen miteinfließen lassen. »Splitscreens«, Zweidimensionalität, feine, filigrane Muster, leuchtende Farben, und Figuren, die in wunderbaren Übergängen vom Sakralen ins Profane mäandern.
Doch abseits dieser zärtlichen, künstlerischen Implosionen bietet Wolfwalkers auch eine Geschichte an, die stark ist. Die eine eigentlich nicht in irischen Mythen verankerte Legende von Wolfswandlern aufnimmt, die Moore in österreichischen Legenden gefunden haben will, und die nichts mit Werwolf et al. zu tun hat. Zwar muss man auch hier gebissen werden, um nachts ein Wolf zu sein, doch geht es hier weniger darum, möglichst weitere Menschen mit ins Unglück zu ziehen, als um eine Rückbesinnung zu »Mutter Erde«, die Möglichkeit, eins mit der Natur zu werden und ganz nebenbei Vorurteile über Wölfe aus dem Weg zu räumen.
Diese Erkenntnis schockiert die junge Robyn Goodfellowe jedoch zu Anfang noch, denn bislang träumte sie vom Gegenteil, nämlich im irischen Kilkenny des mittleren 17. Jahrhunderts ein so furchterregender Wolfsjäger wie ihr Vater Bill zu werden. Bill wurde von Lord Protector Oliver Cromwell, der aus England entsandt wurde, um die Einheimischen zu »zähmen«, und seitdem die ganze Stadt unterdrückt, mit der Aufgabe betraut, die Wälder vor den Stadtmauern Kilkennys zu roden und die dort lebenden Wölfe entweder zu töten oder zu vertreiben. Doch nachdem Robyn die gleichaltrige Wolfswandlerin Mebh getroffen hat, beginnt sie nicht nur ihre Sicht auf die Wölfe, sondern auch auf die Rolle Englands, das zu dieser Zeit vor der zweiten Eroberung Irlands stand, zu hinterfragen.
Diese behutsam eingepflegte historische Komponente um die englische Kolonialisierung Irlands wird durch eine ebenso behutsame Coming-of-Age-Schilderung und der langsamen Selbstermächtigung von Robyn ergänzt, die als junges Mädchen etliche Hürden queren muss, um nicht nur von ihrem Vater gehört zu werden, der sie lieber in der Küche statt hinter der Armbrust sehen will.
Diese so diversen erzählerischen Stränge sind über das prächtige Bildwerk wie ein Wandteppich unlösbar miteinander verknüpft, pulsieren und überraschen, und machen Wolfwalkers zu einer so sinnlichen wie intellektuellen Erfahrung, und zu einem Film, der wie die großen Werke von Laika, Pixar und Ghibli für Erwachsene so gut wie für Kinder funktioniert.
Wolfwalkers ist seit dem 12. Dezember 2020 auf Apple TV+ abrufbar.