Wolfsburg

Deutschland 2002 · 90 min. · FSK: ab 12
Regie: Christian Petzold
Drehbuch:
Kamera: Hans Fromm
Darsteller: Nina Hoss, Benno Fürmann, Antje Westermann u.a.
Benno Fürmann in tiefer Nacht

Autos, Liebe und der Rest

Eine leere, ebene Land­schaft. Felder, ein paar Bäume, dazwi­schen eine kaum befahrene Land­straße. Grauer Himmel. Schon in den ersten Bildern von Wolfsburg sieht Deutsch­land aus, wie der Mittlere Westen Nord­ame­rikas.

Man sieht ein Auto. Es ist ein heute altmo­di­sches Modell, ein roter Ro 80 – seit langem auch ein Teil der Mytho­logie der Bundes­re­pu­blik. Wie die Stadt, die dem Film den Titel gibt. Philipp, der Fahrer, tele­fo­niert mit seiner Freundin, sie haben Streit. »Ich war viel­leicht in Gedanken«, sagt er, und ist es wieder: Nur ein knappes Geräusch ist die Spur, die der Augen­blick hinter­lässt, in dem sich alles verändert. Ein Unfall. Das Kind auf dem Fahrrad lebt noch, ist aber schwer­ver­letzt. Philipp begeht Fahrer­flucht.

Alles wird in Wolfsburg über die Autos der Figuren erzählt, darüber, wie von ihnen die Rede ist, oder über die Rolle, die sie im Film sonst spielen. Schon in dieser exzel­lenten ersten Szene lässt sich das mit Leich­tig­keit entdecken: Sie zeigt, wie das Auto, der Ort vermeint­li­cher Freiheit, ganz schnell zum Gefängnis werden kann. Hier wird die Haupt­figur noch mehrfach unter Druck gesetzt werden. Wie zuerst von seiner Freundin, in Zukunft nun von seinem Gewissen. Das Auto als Druck­kammer.

Für Christian Petzolds (Die innere Sicher­heit) neuen, wunder­baren Film ist es auch wichtig, dass Laura, die Mutter des schwer­ver­letzten Kindes gar kein Auto besitzt. Philipp hingegen ist Auto­händler. Ein Typ Mensch, der Leuten, wenn sie sein Geschäft betreten, ganz schnell ansieht, was sie kaufen wollen, der im Nu weiß, wie er mit ihnen reden muss, damit sie Wachs sind in seinen Händen. Er kann allen noch etwas aufzu­schwätzen. »Traue keinem Auto­händler«, sagt man.
Zugleich ist Philipp wie ein unschul­diges Kind, das nicht erwachsen werden kann. Seine Freundin Katja ist die Schwester seines Chefs, weswegen er sich viel erlauben darf – und zugleich gar nichts. Katja zum Beispiel kann er nicht verlassen, obwohl er längst spürt, dass er das sollte.

Ein Thriller aus Deutsch­land, über Gefühle und über Verhält­nisse, Schuld und Sühne, Rettung und Verdammnis. Das Kind stirbt. Als Philipp das erfährt, sucht er die Nähe zur Mutter, die wie im Trance weiter­lebt, sterben will, und den Unfall­fahrer sucht. Doch das Wich­tigste bleibt ungesagt. Als Laura sich, mehr aus einer Laune und unend­li­cher innerer Müdigkeit heraus eines Nachts von einer Brücke stürzt, rettet Philipp sie aus dem Wasser – so wie einst James Stewart Kim Novak am Fuß der Golden Gate Bridge in Hitch­cocks Vertigo. Auch dessen Grundidee, der Dialog über Unge­sagtes und die Annähe­rung eines Mannes an eine Frau, die ebenso seine Konstruk­tion ist, wie die Wirk­lich­keit, ist in diesem anspie­lungs­rei­chen, mit feinen, fast unsicht­baren Signalen erzäh­lenden Film immer mit präsent.

Glänzend insze­niert Petzold seine Geschichte über Autos und Liebe. Psycho­lo­gisch kris­tall­klar und konse­quent, in ruhigen, nüch­ternen, so inten­siven wie enthalt­samen Bildern, konzen­trierter Leere. Ein Film, der nie dick aufträgt, sondern mit Andeu­tungen und Auslas­sungen arbeitet. Wer nicht alles sagt, sagt mehr. Man denkt an Hitchcock, Chabrol, auch an Rivette. Das Resultat sind Glanz­leis­tungen der Haupt­dar­steller Nina Hoss und Benno Fürmann und der bisher mit Abstand beste deutsche Film des Jahres, bei der Berlinale 2003 mit dem Preis der FIPRESCI ausge­zeichnet, ein Drama, das mit der persön­li­chen Geschichte, von der es handelt, auch etwas über uns alle erzählt, über die Welt, in der wir leben.

Flucht ohne Ende

Manchmal reicht ein einziger kurzer Moment, um das Leben aus den Angeln zu heben, um alles bisher gewesenen in Frage zu stellen. Eine unauf­merk­same Sekunde, eine unbe­dachte Entschei­dung reicht dazuauch wenn es manchmal länger dauert, bis man es bemerkt. Etwas wird in Bewegung versetzt, und eines Tages erwacht man, um fest­zu­stellen, dass nichts mehr ist, wie es war.

Stress! Bezie­hungs­krise am Handy, im Auto. Und dann rumst es plötz­li­chim Rück­spiegel sieht Phillip Wagner noch den kleinen Jungen mit seinem Fahrrad, den er offenbar gestreift hat. Aber dafür hat er jetzt echt keinen Kopf. Er muss weiter Fahrer­flucht.

Später wird es ihm leid tun. Halb­herzig versucht er, sich zu stellen. Doch als er im Kran­ken­haus erfährt, dass der Junge wohl wieder in Ordnung kommt, dass der sich überdies falsch an den Wagen erinnert, meint Phillip, er sei aus dem Schneider. Und fährt erst mal in Urlaub. Beziehung kitten.

Aber der Junge kommt keines­wegs in Ordnung. Und seine Mutter Laura bricht zusammen, verliert den Halt, kennt nur noch ein Ziel: die verzwei­felte Suche nach dem Schul­digen. Vergeb­lich.

Als Phillip frisch verhei­ratet zurück­kommt und mit dem tragi­schen Ergebnis seiner Feigheit konfron­tiert wird, sieht er nur einen Weg mit seinen Schuld­ge­fühlen umzugehen: Laura zu helfen. Dafür setzt er seinen Job, seine Ehe aufs Spiel. Das selbe Ereignis hat beiden den Boden unter den Füßen wegge­rissen. Es hat sie beide plötzlich in eine fremde, feind­liche Welt gestellt – aber verbindet es sie nicht auch?

Themen, denen man eher aus dem Weg geht: Es geht um Schuld. Um Verant­wor­tung, Um Wieder­gut­ma­chung und ihre Grenzen. Und um die Einsam­keit des Herzens, die kein noch so gut gemeintes Hilfs­an­gebot, keine herzliche Teilnahme lindern können, bevor man sich im Gefühls­chaos nicht selbst wieder­ge­funden hat.

Worst-Case-Szenario: Wie bombas­tisch und tränen­selig hätte ein solches Melodram geraten können, wenn es als Privat-TV-Movie verwurstet worden wäre. Over­ac­titing, gepaart mit einem dicken Musik­tep­pich, der garan­tiert zu jedem Moment die passende Emotion hervor­zau­bert. Aber erfreu­li­cher­weise ist alles ganz anders gekommen in diesem ZDF-Fern­seh­spiel, das nach seinem Erfolg auf verschie­denen Festivals nun zum Glück auch im Kino zu sehen ist.

Mit sparsamen Mitteln verfilmte Regisseur Christian Petzold diese Geschichte von Schuld und Sühne. Die knapp anskiz­zierten Situa­tionen sprechen für sich, in den beherrschten Gesich­tern der Darsteller gibt es mehr Raum für Einfüh­lung als für bloßes Ablesen. Die Bilder bestechen durch die sorg­fäl­tige Kompo­si­tion, die keinen Platz für Über­flüs­siges lässt.

Und so erzählt Petzold, faszi­nie­rend unspek­ta­kulär wie schon in Die innere Sicher­heit, eine Geschichte, die einen angeht.