Ungarn 2017 · 92 min. · FSK: ab 12 Regie: Bernadett Tuza-Ritter Drehbuch: Bernadett Tuza-Ritter Kamera: Bernadett Tuza-Ritter Schnitt: Bernadett Tuza-Ritter |
![]() |
|
Der Zuschauer als Zeuge... |
Sein Arm ist gebrochen. Sie macht ihn wieder ganz. Mit Sekundenkleber. Aber was nützt ein ganzer Arm, wenn die Hand ans Kreuz genagelt ist? Der Heiland ist tot, mit heilem Arm, aber für den Paradeplatz auf dem Kleiderschrank ist er wieder tadellos hergerichtet.
Marisch repariert, näht, kocht, putzt, versorgt Mensch und Tier – unter normalen Umständen wäre sie die gute Seele des Hauses, irgendwo in Ungarn. Aber diese Umstände sind alles andere als normal. Denn Marisch, Anfang 50, arbeitet seit elf Jahren hier. Ohne Lohn, mit Schlafplatz auf dem Sofa und wenig Verpflegung. Sie ist eine »Sklavin«, so wird sie von Eta, der Hausherrin, bezeichnet, die Marisch körperlich und seelisch regelmäßig misshandelt, ihr das Geld abknöpft, das sie für ihre zusätzliche Putzarbeit in der Fabrik verdient. Die Angeberei Etas, sie hätte eine Sklavin zu Hause, weckt das Interesse der Filmemacherin Bernadett Tuza-Ritter, die Bekanntschaft mit Marisch macht und diese filmisch durch ihren Alltag begleitet. Protagonistin und Regisseurin freunden sich immer mehr an, sodass irgendwann nur noch gegen Bezahlung an Eta gedreht werden darf. Von Marischs Plan, in den die Filmemacherin eingeweiht wird, scheint Eta nichts mitzubekommen.
Mit A Woman Captured – Eine gefangene Frau ist Bernadett Tuza-Ritter nicht nur das erschütternde Porträt einer schwer in Not geratenen Frau gelungen. Ihre zahlreichen, sorgsamen Detailaufnahmen zeigen Marisch als Leidende, die gleichzeitig jedoch eine herzliche Offenheit, lebhaften Humor und eine immer erkennbarere Resilienz an den Tag legt. So wird der Zuschauer Zeuge unerwarteter Veränderungen auf unterschiedlichen Seiten: Aus der Regisseurin wird die Mitwisserin, aus dem Opfer eine entschlossene Agentin in eigener Sache.
»… wenn du das nur einmal zeigen kannst, dann merken die Menschen vielleicht, wie sie einander nicht behandeln sollen. Dass allen Respekt zusteht, auch denen, die alles verloren haben«, so begründet Marisch ihre Motivation, in dem Dokumentarfilm mitzuwirken. Und stößt damit selbst die Tür auf zum großen Ganzen, aus der Beschreibung eines Einzelschicksals wird ein engagiertes Plädoyer des genauen Hinsehens und der Bewusstwerdung des Themas moderner Sklaverei. Diese ist laut Film die augenblickliche Lebenssituation von sage und schreibe 22.000 Menschen in Ungarn, im »reichen Deutschland«, so zitiert das Presseheft zu A Woman Captured den »Global Slavery Index«, seien es »immerhin noch 15.500 Menschen«, die in moderner Sklaverei lebten. Sie zieht sich durch unzählige Handwerks- und Servicegewerbe, bildet eine weltweit geächtete Schattenwirtschaft, von der die am wenigsten profitieren, die gezwungen werden, ihre Arbeit ohne oder gegen geringstes Entgelt zur Verfügung zu stellen.