Wir waren Kumpel

Schweiz/Deutschland 2023 · 107 min. · FSK: ab 0
Regie: Christian Johannes Koch, Jonas Matauschek
Drehbuch: ,
Kamera: Sebastian Klatt
Schnitt: Natali Barrey, Annette Brütsch, Jonas Matauschek
Filmszene »Wir waren Kumpel«
Weißt du noch, als wir noch Kohle hatten?
(Foto: Filmperlen)

Zeitenwende

Einfühlsamer Dokumentarfilm über fünf Arbeiter*innen, die nach der Schließung des letzten deutschen Steinkohlebergwerks neue Lebenschancen aufspüren

2018: Im September wird in Bottrop die letzte Kohle gefördert, im Dezember wird Prosper-Haniel als letztes Stein­koh­len­berg­werk in Deutsch­land mit einem Festakt geschlossen. Damit geht im Ruhr­ge­biet eine mehr als 500-jährige Ära zu Ende. Das brachte nicht nur wirt­schaft­liche Einschnitte für die Region mit sich, sondern auch eine gravie­rende Umstel­lung für alle Beschäf­tigten. Schließ­lich hatte der Abbau der Kohle­flöze Gene­ra­tionen von Arbeitern und ihre Familien ernährt.

Die Regis­seure Christian Johannes Koch und Jonas Matau­schek porträ­tieren in ihrem Doku­men­tar­film fünf Menschen, die sich auf sehr unter­schied­liche Weise auf diesen radikalen Umbruch vorbe­reiten und damit umgehen, sich neue Arbeits­stellen suchen und ihre Lebens­per­spek­tiven verändern müssen. Da sind die eng befreun­deten Kumpels »Locke« und Langer, der Lager­ar­beiter Thomas, der Lokführer »Kiri« aus Sri Lanka und die Transfrau Martina.

Wir waren Kumpel gliedert sich in zwei Teile, die durch ein Schwarz­bild und den einge­blen­deten Filmtitel getrennt sind. Das erste Drittel schildert die Arbeit der Berg­werks­an­ge­stellte unter und über der Erde, begleitet sie aber auch zu ihren Familien und in ihre Wohnungen und Häuser. Die Kamera zeigt die schwere Tätigkeit in den dunklen Stollen tief unten, die weit­läu­figen Werks­hallen oder fährt auf einem Kohlezug mit. Und sie proto­kol­liert den Abschied von Kollegen, die zum Teil Freunde geworden sind. »Locke« und »Langer« zum Beispiel sehen sich in den 12-Stunden-Schichten auf der Zeche länger als ihre Frauen und Kinder zu Hause. Die Prot­ago­nisten erzählen über sich und ihr Leben, reflek­tieren die Vergan­gen­heit, schauen auch nach vorne.

Die tief­grei­fende Umstel­lung in den Lebens­ent­würfen der Menschen beschreiben die übrigen zwei Drittel des Films. Wie die Arbeits­stätten kurz nach der Schließung von Baggern platt­ge­macht werden. Wie manche damit gut zurecht­kommen, weil sie sofort eine neue Arbeit finden wie Langer, der einen Schulbus fahren kann – für ihn eine erfül­lende, verant­wor­tungs­volle Tätigkeit. Andere bleiben zuerst einmal ohne Beschäf­ti­gung, hängen zu Hause ab, lang­weilen sich und können nachts nicht schlafen, obwohl der Schicht­dienst ja nun passé ist.

Auch Kiri, der vor zwanzig Jahren vor einem Bürger­krieg nach Deutsch­land geflohen war, tut sich schwer, bei ihm kommen schmerz­hafte Erin­ne­rungen hoch. Als die Ärzte bei ihm eine schwer­wie­gende Herz­schwäche infolge eines unbe­merkten Infarktes fest­stellen, kommt der heiß geliebte, aber anstren­gende Lokfüh­rerjob erstmal nicht mehr in Frage. So engagiert sich der Fami­li­en­vater in einem Bildungs­in­stitut, das Kindern die tami­li­sche Sprache vermit­telt.

Thomas, der noch immer bei seiner überaus selbst­be­wussten Mutter in einem Hochhaus wohnt, macht sich bei der Haus­ar­beit nützlich und entdeckt für sich das Kochen als neues Hobby. Martina, die zuletzt die einzige Frau war, die in Deutsch­land jemals im Stein­koh­le­bergbau gear­beitet hat, kann als einzige des Quintetts im Metier bleiben: Sie wechselt zur Leit­stelle in einem Salz­berg­werk. Dafür beschäf­tigen sie andere Fragen mehr als der Beruf: Wie finde ich eine passende Lebens­ge­fährtin? Und wie finde ich eine Stimmhöhe, mit der ich mich wohlfühle?

Über Martina erschließt der Film neben dem Struk­tur­wandel in der Industrie ein weiteres span­nendes Themen­feld: den Wandel des Männer­bilds. Er proble­ma­ti­siert ein über­kom­menes männ­li­ches Selbst­ver­s­tändnis und wirft Fragen nach wech­selnden Geschlechts­iden­ti­täten auf. Das zeigt sich insbe­son­dere bei Martinas Erzäh­lungen über die erstaunten Reak­tionen ihrer männ­li­chen Kollegen in der Zeche auf ihren Gender­wechsel von Mann zu Frau, der mit geschlechts­an­glei­chenden medi­zi­ni­schen Eingriffen verknüpft war.

Der Ausstieg aus der Stein­koh­le­för­de­rung fällt zeitlich mit dem Beginn der Klima­pro­test­be­we­gung »Fridays for Future« zusammen. Kein Wunder, wenn die aktuelle gesell­schaft­liche Debatte über Erder­wär­mung und Umwelt­schutz auch die Küchen­ti­sche von Berg­ar­bei­ter­fa­mi­lien mit Jugend­li­chen erfasst und hier lebhafte Diskus­sionen auslöst.

Das Regieduo Koch und Matau­schek kombi­niert die Episoden um die fünf boden­s­tän­digen Prot­ago­nisten in einer ruhigen alter­nie­renden Montage. Beide haben in Leipzig Foto­grafie studiert. Während der 1986 im schwei­ze­ri­schen Neuenburg geborene Koch ein Film­re­gie­stu­dium an der Film­uni­ver­sität Babels­berg absol­vierte, studierte der aus Dresden stammende Matau­schek Film in Halle. Ihr Gespür für ausge­wo­gene Bild­kom­po­si­tionen zeigt sich immer wieder, vor allem aber in der Schluss­se­quenz, in der Locke und Langer mit einem Wohnmobil nach Frank­reich fahren, um ihre Freund­schaft aufzu­fri­schen, und gemeinsam am weiten Sand­strand in die erfri­schenden Meeres­wellen springen. Ein schöner Schluss­punkt in einem authen­tisch wirkenden Mutma­cher­film, der trotz der Problem­fülle des Struk­tur­wan­dels Hoffnung generiert, indem er zeigt, wie gut sich viele, wenn auch nicht alle Menschen am Ende an neue exis­ten­zi­elle Bedin­gungen anpassen können.