Mexiko 2010 · 89 min. · FSK: ab 18 Regie: Jorge Michel Grau Drehbuch: Jorge Michel Grau Kamera: Santiago Sánchez Darsteller: Francisco Barreiro, Alan Chávez, Paulina Gaitan, Carmen Beato, Jorge Zárate u.a. |
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Smarter Horrorfilm |
Eigentlich sind sie eine ganz normale Familie. Sie halten zusammen; arm aber anständig fristen sie im Moloch von Mexico City ihr Dasein, und die drei erwachsenen Kinder versammeln sich regelmäßig an Mamas Tisch, wo die Mutter nach Spezialrezept das Lieblingsessen der Familie zubereitet. Doch diese Idylle ist von Anfang an mehrfach gebrochen. Denn wir wissen schon, dass der Vater, auf den die Familie wartet, nicht mehr nach Haus kommen wird, wir haben gesehen, wie der zerlumpte alte Mann vor einer Luxusboutique inmitten einer Shopping-Mall im Stadtzentrum zusammenbrach, und die Art seines Todes in einer eidringlichen Anfangssequenz ließ überhaupt nichts Gutes ahnen: Unter Schmerzen kotzte er schwarzen Schleim auf den Bürgersteig, und es dauert nur ein paar Minuten, bis der Film seine Prämisse lüftet: Die, die hier nun ohne Vater und Ernährer ums nackte Überleben kämpfen, für die die tägliche Nahrungsbeschaffung schon ein existentielles Problem ist, sind eine Familie von Kannibalen.
Im Horrorkino fristet der Kannibale ein Schattendasein. Das ist kaum überraschend, ist er doch von allen Filmmonstern das Menschlichste, uns mit Abstand am nächsten stehende: Jeder kann ein Kannibale werden, zumindest, wie man aus schrecklichen Extremsituationen – das Floß der Medusa, der Flugzeugabsturz in den Anden 1972 – weiß, in höchster Not. Wir wissen, dass Kannibalen im Unterschied zu Vampiren und Zombies mehr sind, als »nur« Metaphern. Und diese Wirklichkeitsnähe möchte man sich lieber nicht so gern zumuten.
Die Kannibalen in Wir sind, was wir sind (Somos lo que hay) vom mexikanischen Regisseur Jorge Michel Grau erinnern allerdings oft an Zombies, die Proletarier unter den Monstern: An jene Menschen, die wir alle kennen, die mal ausgemergelt, mal seltsam aufgedunsen, immer wieder auf uns zukommen, schlurfend, in schmutzigen, manchmal zerlumpten Klamotten, stinkend, krank, kaputt. Sie fragen uns um Geld, Brot oder und wir geben ihnen etwas, oder auch nicht, wir weichen aus, oder geben ihnen zu verstehen, dass sie weitergehen sollen. Es sind die Armen, die Mexikos, aber auch die der Welt.
Grau interessiert sich vor allem für das Familiendrama, den Überlebenskampf und für die innere Dynamik unter ihren Mitgliedern. Die Frauen erweisen sich hier als die deutlich überlegen: Während Bruder Julián mit seinem Hang zu Gewalt alle gefährdet, ist Alfredo ein Sensibelchen, das unfähig ist, die zur Versorgung der Familie nötigen Bluttaten zu übernehmen. Außerdem ist er verkappt schwul. Gesellschaftliche Tabus wie Homosexualität und Prostitution spielen eine wichtige Rolle, denn potentielle Opfer sucht die Familie unter solchen Randgruppen – weil deren Tote die Polizei kalt lassen. Die Armen essen sich selber auf – das ist unter anderem die tiefere Botschaft von Graus Film.
Man kann auch sonst nicht behaupten, dass der Subtext von Wir sind, was wir sind besonders subtil aufgetragen wäre: Der Film ist eine Allegorie für soziale Verwahrlosung und Gewalt und die Lage der Armen in Mexiko: Es ist eine schmutzige Welt, voller Ruß und Dreck – ein düsteres Portrait der mexikanischen Wirklichkeit.
Stilistisch versucht Grau eine Verbindung von Horrorgenre und Arthousefilm. Die beiden Eben klaffen freilich oft auseinander: Über weite Strecken dominiert eine präzise, konzentrierte Erzählweise mit langen Plansequenzen, die mehr an Graus Landsmann Carlos Reygadas erinnert, als an die berühmten Cuarón und Innaritu. Da kann man, zumal die Familie gut katholisch ist, auch noch ans Abendmahl und den Leib Christi denken. Im letzten Viertel mündet dann alles in ein furioses Horrorfinale im B-Movie-Stil, einen Fress-Konsum-Exzess, der natürlich auch als Menetekel verstanden werden kann: In der neoliberalen Gesellschaft werden wir alle zu Kannibalen – friss oder stirb.