Wie im echten Leben

Ouistreham

Frankreich 2021 · 107 min. · FSK: ab 6
Regie: Emmanuel Carrère
Drehbuch: ,
Kamera: Patrick Blossier
Darsteller: Juliette Binoche, Hélène Lambert, Louise Pociecka, Steve Papagiannis, Aude Ruyter u.a.
Ein Film, der mit offenen Karten spielt...
(Foto: NEUE VISIONEN)

Undercover-Thriller im Reinigungsmilieu

Emmanuel Carrère gelingt ein packender Spielfilm über eine Journalistin, die in einer Putzkolonne im französischen Fährhafen Caen anheuert

Regisseur Emmanuel Carrère ist auch Buchautor und steht mit seinem neuesten, lesens­werten auto­bio­gra­fi­schen Werk »Yoga« derzeit in den Buchläden. Mit dem gleichen scho­nungs­losen Blick, den er auf sich selbst hat, schaut er auch auf die fran­zö­si­sche Gesell­schaft. Kein Wunder, dass ihm der Erfah­rungs­be­reicht »Le Quai d’Ouis­t­reham« der fran­zö­si­schen Jour­na­listin Florence Aubenas gefallen haben dürfte, die mona­te­lang under­cover als Reini­gungs­kraft arbeitete. Zusammen mit Hélène Devynck bastelte er daraus das Drehbuch für Wie im echten Leben.

Eine erfolg­reiche Repor­terin und Jour­na­listin (Juliette Binoche) gibt sich eine Fake-Identität und zieht als arbeits­lose Marianne Winckler in die Hafen­stadt Caen, um für ein Buch­pro­jekt in das Leben einer Reini­gungs­kraft einzu­tau­chen. Sie will am eigenen Leib erfahren, wie sich Prekariat anfühlt. Dafür nimmt sie auch äußer­liche Verän­de­rungen vor und kleidet sich entspre­chend ihrer neuen Rolle.

Von Anfang an lässt sich der Film viel Zeit und begleitet, fast wie ein Doku­men­tar­film, Marianne bei der Jobsuche, unter anderem auf einer Jobmesse, wo sie erklären muss, warum sie lange Ausfall­zeiten hat und was ihre Schwächen sind. Nach und nach legt sie sich so eine neue Lebens­ge­schichte als Tarnung zu. Auch um die härtesten, schlecht bezahlten Arbeits­stellen gibt es einen harten Konkur­renz­kampf. Juliette Binoche spielt dies spek­ta­kulär unspek­ta­kulär. Sie ist eine der Schau­spie­le­rinnen, bei der sich – oft infla­ti­onär einge­setzte – Nahauf­nahmen wirklich lohnen, weil sie in kleinsten mimischen Nuancen eine ganze Geschichte erzählen kann. Nach äußerst holpe­rigen Anfängen landet sie schließ­lich in einer Putz­ko­lonne im Fährhafen Ouis­t­reham (so lautet auch der fran­zö­si­sche Origi­nal­titel), zu dem sie lange Anfahrts­wege in Kauf nehmen muss. Hier nimmt Wie im echten Leben richtig Fahrt auf, denn die Akkord­ar­beit auf den leeren Fähr­schiffen ist von einem beängs­ti­genden Tempo geprägt (230 Kabinen in einein­halb Stunden!), das die Kamera und der Schnitt dynamisch einfangen und was einem anschau­lich den Stress dieser knüp­pel­harten Arbeit (wie übrigens auch im auf dem 39. Filmfest München gezeigten À Plein Temps) vor Augen führt.

Was die Arbeit überhaupt erträ­g­lich macht, ist die Soli­dar­ge­mein­schaft der Frauen. Sie arbeiten hart und erwarten dies auch von ihren Kolle­ginnen, sie unter­stützen sich aber auch, teilen Freuden, Sehn­süchte, Erfolge, wenn zum Beispiel eine einen besseren Job ergattert hat. Schwer zu sagen, ob das Sozi­al­kitsch ist oder auf authen­ti­schen Erfah­rungen von Florence Aubenas beruht – auf jeden Fall ist es herz­er­wär­mend. Marianne freundet sich besonders mit der Mitt­dreißi­gerin und drei­fa­chen Mutter Christèle (Hélène Lambert) an, mit der sie eine Fahr­ge­mein­schaft bildet. Sie ist faszi­niert von dieser starken, prag­ma­ti­schen Frau und es entsteht eine immer größere Nähe zwischen den beiden. Hier ist spätes­tens der Punkt, wo man als Zuschauer Bauch­schmerzen bekommt, weil sich Christèle ganz unver­stellt auf die Freund­schaft einlässt, während Marianne zwar echte Gefühle zeigen, aber ihre Fake-Identität nicht aufdecken kann oder will. Wie in klas­si­schen Under­cover-Thrillern (etwa Departed, einem absoluten Höhepunkt des Genres, oder in dem älteren Verraten), wo echte Gefühle die geheime Mission in Gefahr bringen, wächst auch hier die Spannung und die Angst vor der Reaktion der Hinter­gan­genen bei der Preisgabe der wahren Identität. Schon im ersten Teil des Films, in dem der Arbeiter Cédric (anrührend: Didier Pupin) Marianne Avancen macht und sie zu einer Pizza in seine beschei­dene Wohnung einlädt, beschleicht einen Unbehagen über dieses unfaire Spiel mit unter­schied­li­chen Einsätzen.

Denn natürlich stellt der Film auch unan­ge­nehme Fragen. Wäre eine Doku­men­ta­tion mit Inter­views und Videos von der Arbeit nicht die ehrli­chere und bessere Alter­na­tive gewesen, um über das Leben als Reini­gungs­kraft zu berichten? Ist es intel­lek­tu­elle Hybris und kapi­ta­lis­ti­sche Ausbeu­tung einer reichen Akade­mi­ker­schicht, mal für ein paar Monate in eine anstren­gende exotische Rolle zu schlüpfen, um dann in einer Villa in der Toskana die Notizen gewinn­trächtig auszu­schlachten? Denn der Knochenjob zeigt ja vor allem erst nach vielen Jahren seine gesund­heit­li­chen und seeli­schen Folge­schäden. Noch simpler: Ist es nicht Verrat an den Menschen, die sich mit 100% Offenheit auf eine Person einlassen, welche selbst einen Großteil ihres Lebens verheim­licht? Kann unter solchen Umständen echte Freund­schaft gedeihen?

Und der Bruch kommt. Irgend­wann ist Juliette Binoche als kulti­vierte, elegante Autorin zu sehen, die ihr Recherche-Buch der Öffent­lich­keit vorstellt. Einge­laden sind auch die ehema­ligen Kolle­ginnen von der Fähre. Kleider machen Leute. Faszi­nie­rend zu sehen (und hier an My Fair Lady erinnernd), wie hier plötzlich eine andere Persön­lich­keit zu sitzen scheint. War alles nur ein Spiel?
Wie immer man die ethischen Fragen der Under­cover-Recherche, auf der das Drehbuch aufbaut, für sich beant­wortet: der Film spielt mit offenen Karten. Er ist erzäh­le­risch absolut über­zeu­gend gelungen und in allen Rollen fantas­tisch besetzt, wobei die Reini­gungs­kräfte nach Angaben des Pres­se­heftes Laien­dar­steller sind, die aber, allen voran Hélène Lambert, Juliette Binoche in nichts nach­stehen. Wie im echten Leben lehrt Respekt vor Arbei­te­rinnen, die im richtigen Leben von Schiffs­rei­senden fast unsichtbar bleiben, obwohl sie in wenigen Minuten eine Müllhalde in eine adrette Kabine verwan­delt haben und deren Rücken irgend­wann den Preis dieser Arbeit einfor­dern werden.