Das weiße Band

D/Ö/F/I 2009 · 144 min. · FSK: ab 12
Regie: Michael Haneke
Drehbuch:
Kamera: Christian Berger
Darsteller: Leonie Benesch, Josef Bierbichler, Rainer Bock, Christian Friedel, Burghart Klaußner u.a.
Das weiße Band DVD
Wo kommt das her? Wie konnte es dazu kommen?
(Plakat: Amazon)

Die Farbe der Wahrheit

Schwarz und Weiß wie Gut und Böse: Michael Hanekes Siegerfilm aus Cannes zeigt protestantischen Fanatismus und die Erziehung vor Auschwitz

»Denn wen der Herr liebt, den züchtigt er; er schlägt mit der Rute jeden Sohn, den er gern hat.« – Die Bibel, Hebräer, 12.6

»Der Herr straft der Väter Missetat an den Kindern, bis ins dritte Glied.« – Mose 4. 14,18

Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Wir aber, das hat Michael Haneke in allen seinen Filmen immer wieder betont, und uns damit nicht nur den Spiegel vorge­halten, sondern das Urteil gespro­chen, wir alle mitein­ander leben unge­achtet gewisser Fort­schritte, und die augen­fäl­ligen Rück­schritte konse­quent igno­rie­rend, ganz und gar ein falsches Leben: Unbewusst, stumpf, kalt, angst­ge­trieben, von Freiheit und Wohlstand nicht etwa befreit, sondern noch mehr verdorben, in einer, wie es der wunder­bare ZEIT-Redakteur Thomas Assheuer in einem Haneke-Text treffend auf den Punkt gebracht hat, »politisch gewollten Lebens­ver­säumnis-Anstalt«. Wo kommt das her? Wie konnte es dazu kommen? Hanekes neuester Film, der in Cannes mit der »Goldenen Palme« prämierte »Das Weiße Band«, gibt eine Antwort.

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Ein Film ist ein Film. Auch wenn er von Michael Haneke stammt. Es gibt nun aber Menschen, die sehen bei Hanekes Filmen immer das Gleiche. Das heißt: Eigent­lich sehen sie gar nichts. Es ist typisch, dass, wenn jetzt Das weiße Band ins Kino kommt, manchen Film­kri­ti­kern auch nur wieder die üblichen fünf Schlag­wörter aus der Haneke-Phra­sen­dresch­ma­schine einfallen: »Verglet­scherungs­theorie« – eine »1« dafür, bitte setzen! –; »pädago­gi­scher Furor«; und, oje oje: »Gewalt-Refle­xionen«; dann, nicht vergessen bitte: die »Medi­en­kritik«; sowie, natürlich, genau: Die »düstere Weltsicht«. Wobei einem gleich die Frage auf die Lippen huscht, ob denn wirklich Hanekes Weltsicht so düster ist, oder nicht eher die Welt, von der seine Filme handeln, zumindest ein wenig viel­leicht? Wenn man dann auch noch zufällig gern ein Buch zu David Lynch geschrieben hätte, heißt es noch: »Alles ist wie Twin Peaks , bloß in Schwarzweiß«, nur weil die Handlung in einem Dorf spielt, und ein Verbrecher gesucht wird.«

Das ist ja alles nicht völlig falsch. Es ist aber auch nicht besonders einfalls­reich, vielmehr ziemlich banal. Denn all das findet man zwar in Das weiße Band, vom Film weiß man danach aber immer noch gar nichts. Und weil ein Film eben ein Film ist, darf man viel­leicht erst einmal, bevor wir auf all das kommen, wovon er handelt, hingucken und daran erinnern, wie er aussieht.

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Schwarz­weiß. Wie alte Filme, wie die Filme von Bergman, die Ähnliches im Sinn führen, wie Heimat von Edgar Reitz. Auch Das weiße Band war ursprüng­lich, vor vielen Jahren mal als Fernseh-Miniserie in drei Teilen konzi­piert, konnte dort aber schon seiner­zeit nicht reali­siert werden. Schwarz­weiß – das liebt Haneke einfach, wie er sagt, und wer es sieht, versteht warum: Überaus klar sieht es aus, brillant und scharf, trotzdem nicht zu kontrast­reich. Es ist weicher und wirkt damit wärmer als das spät­ex­pres­sio­nis­ti­sche Schwarz­weiß des Film Noir; es ist fähig zu Dutzenden von Abstu­fungen und Nuancen, zu 'zig Schat­tie­rungen. Es erinnert an die Photo­gra­phien von August Sander und anderen Foto­künst­lern des frühen 20. Jahr­hun­derts. Ein leichtes Sepia mischt sich in dieses Schwarz­weiß, das daher noch alter­tüm­li­cher und weiter hergeholt wirkt. Es ist ein Schwarz­weiß, das direkt ins visuelle Gedächtnis des Zuschauers eindringt, es freilegt für den Film, auf dass beide verschmelzen. Schwarz und Weiß wie Tage und Nächte. Schwarz und Weiß wie Wahrheit und Lüge. Schwarz und Weiß wie Gut und Böse.

Dieses Schwarz­weiß besitzt eine Klarheit, Reinheit, die mit dem Inhalt des Films zu tun hat, die erinnert an den protes­tan­ti­schen Rigo­rismus und Rein­heits­terror im evan­ge­li­schen Pfarrhaus, und im Kontrast natürlich auch an den Titel des Films. Dieses Schwarz­weiß verstärkt noch den Erzählton des Films, der etwas Doku­men­ta­ri­sches hat; es wirkt wie eine histo­ri­sche, philo­so­phi­sche, ethno­lo­gi­sche Studie.

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»Die weiße Farbe soll Euch an Unschuld und Reinheit erinnern« – wer »gesündigt« hat unter den Pfar­rers­kin­dern, bekommt von den Eltern eine weiße Schlaufe ans Haar oder den Arm, ein Ritual, das im Pfarrhaus üblich ist und dem Film den Titel gibt: »Das Weiße Band«. Das ist, so reich an Themen wie präzise in seiner Milieu­zeich­nung, ein überaus genau recher­chierter Film – und die Sache mit dem weißen Band stammt aus einem protes­tan­ti­schen Erzie­hungs­hand­buch, das seiner­zeit fort­schritt­lich war – Bänder sind natürlich sanfter, als Schläge.

Das weiße Band, das nicht ohne Erlaubnis abgelegt werden darf, markiert den Sünder, stellt ihn an den Pranger und macht ihn zum Sünden­bock, es grenzt ihn aus. Wie später der Juden­stern andere. Das fiktive Dorf, in dem »Das Weiße Band« spielt, heißt Eichwald, und so wenig, wie Haneke anderes dem Zufall überlässt, ist er sich natürlich bewusst, dass dieser idyl­li­sche Name, aus den Namen »Eichmann« und »Buchen­wald« zusam­men­ge­setzt ist.

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Das weiße Band ist in vielem ein unge­wöhn­li­cher Haneke: Erstmals seit 1996 hat der Öster­rei­cher wieder auf Deutsch gedreht, in einem Dorf in der Uckerm­arck, das wirkt wie nach hundert Jahren frisch aus dem Dorn­rö­schen­schlaf erwacht. Dort siedelt Haneke das Portrait eines kleinen nord­deut­schen Dorfes im Jahre 1913/14 an: Es gibt den Gutsherrn (Ulrich Tukur) und den Lehrer (Christian Friedel), den Arzt (Rainer Bock) und den – natürlich evan­ge­li­schen – Pfarrer (Burghart Klaussner in einem absolut sensa­tio­nellen Auftritt), den Verwalter (Josef Bier­bichler), die Bauern. Es gibt die Frauen (Leonie Benesch, Ursina Lardi, Steffi Kühnert, Susanne Lothar). Und vor allem die Kinder. Lauter Arche­typen. Das Leben geht seinen Gang, sonntags fehlt keiner in der Kirche und man singt »Ein feste Burg ist unser Gott«, und zu Erntedank wird der Psalm 104 gelesen – »Aller Augen warten auf Dich, Herr, und Du gibst ihnen ihre Speise zur rechten Zeit.« –, dann darf man sich besaufen.

Es geht also weniger um Klas­sen­un­ter­schiede, auch nicht um Bildungs­dif­fe­renzen, denn wie wenig das bringt, kann man immer hier wieder sehen, auch wenn der Lehrer, in diesem Film als Vertreter eines gewissen Bildungs­hu­ma­nismus auch Erzähler aus dem Off, ein wenig zum Hort des Guten wird. Mehr geht es um die Bruta­lität, die alle Teile der Gesell­schaft über ihre Unter­schiede hinweg gemeinsam durch­dringt, um die Wahrheit hinter dem etwas zu idyl­li­schen Bild jener »Welt von Gestern« (Stefan Zweig), die durch den Sommer von Sarajewo unrettbar zerstört wurde. Eine Zeit, die eben nur im nost­al­gi­schen Rückblick mit sich im Reinen war, und von Zuver­sicht geprägt. »Böswil­lig­keit, Neid, Stumpf­sinn und Bruta­lität...«, so beschreibt hier einmal eine Figur die univer­sale Primi­ti­vität, die sie umgibt. Die Kinder spiegeln, was ihnen geschieht: Väter die ihre Kinder prügeln, sie nachts ans Bett fesseln, damit sie nicht onanieren können, oder sie sexuell miss­brau­chen.

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Sonder­bare Vorkomm­nisse ereignen sich schon in den ersten Minuten, die Verdacht, Miss­trauen und Unbehagen nach sich ziehen. Und neue Taten: Ein dünnes Drahtseil wurde zwischen zwei Bäume gespannt, das Pferd des Arztes fällt darüber und dieser verletzt sich schwer. Eine Holzdecke bricht ein, worauf eine Arbei­terin zu Tode kommt. Der Sohn des Barons wird miss­han­delt. Eine Scheune brennt ab. Der behin­derte Junge der Hebamme wird brutal zusam­men­ge­schlagen und an einen Baum gefesselt. Der Versuch, das Geschehen aufzu­klären, treibt die Handlung voran.

Doch vor allem treibt sie das Vergehen der Zeit selbst. »Das Weiße Band« bietet in Form eines Soziotops eine mikro­sko­pi­sche Reflexion der deutschen Gesell­schaft, der wilhel­mi­ni­schen Gesell­schaft, einer Gesell­schaft – und unser Wissen darum ist hier immer mit präsent –, die nur noch auf Abruf da ist und sich bald in den Mate­ri­al­schlachten des Ersten Welt­kriegs auflösen wird; der reflek­tiert den Ausgang dieser Gesell­schaft und das Ende jenes von Vorah­nungen und Überdruß geprägten »Zeital­ters der Nervo­sität« (Joachim Radkau).

Auch wenn es so scheinen mag: Hier ist an sich nichts böse und nichts gut, keiner der Menschen, noch nicht mal der Pfarrer, ist grund­sätz­lich ein böser Charakter, keiner, höchstens der Lehrer, ist ein wirklich sympa­thi­scher, sondern alle sind Menschen, die man in und aus ihrer Epoche verstehen muss: Teile dieser bereits verklin­genden feudalen Gesell­schaft, verlorene Charak­tere, die berühren, weil sie spüren, dass sie nur noch kurze Zeit vorhanden sind.

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Es gibt einen Erzähler in Das weiße Band, es handelt sich keines­wegs zufällig – aber was ist schon Zufall bei Haneke – um den Lehrer des Dorfes. Er ist einer der wenigen, der von Außen kommt, und als solcher perfekt geeignet zum Beob­achter. Auch wenn der Lehrer hier als einziger Erzähler fungiert, zeigt der Film aber vieles, was der Lehrer nicht erlebt haben kann. Später wird der Lehrer sich in die noch jugend­liche Eva verlieben, die als Kinder­mäd­chen beim Baron arbeitet. Leonie Benesch verkör­pert großartig dieses Wesen von entwaff­nender Naivität und strah­lender Unschuld. Das Paar, das hier zarte Bande knüpft, bleibt die eine warm­her­zige Ausnah­me­erschei­nung in diesem Film – nicht zufällig kommen beide Menschen nicht aus diesem Dorf, sondern von außerhalb. (Aller­dings zeigt genaueres Erinnern auch, wie viele hier selbst in dem über­schau­baren Dorf eigent­lich nicht wirklich von dort stammen: Die Baronin, der Verwalter, der Arzt – ein Reflex auf die Mobilität der Gesell­schaft bereits im ausge­henden 19. Jahr­hun­dert. Über die Pfar­rers­fa­milie wird in der Hinsicht nichts erzählt, doch zumindest wird der Pastor irgendwo studiert haben.)

Den Lehrer lernen wir jung kennen, er ist durchaus schüch­tern, sich auch der Grenzen seines Standes und seiner Möglich­keiten bewusst; er lebt ein eher karges Leben, dessen Glück sich am ehesten noch in der Musik findet. Aber er ist auch aufge­schlossen, offen, versteht die Kinder ein wenig, und spricht eine modernere Sprache, die auch von den Kindern eher verstanden wird. Dieser Lehrer erzählt die Geschichte des Films im Rückblick als alter Mann. Wir wissen nicht, zu welchem Zeitpunkt dies genau sein soll, aber es handelt sich hörbar zumindest um einen 70-jährigen, und da der Lehrer, das erfahren wir irgend­wann, zum Zeitpunkt der Film­hand­lung Anfang 30 ist, könnte die Erzählung sich ungefähr gegen Mitte, Ende der 50er-Jahre ereignen. Über der Erzählung liegt der Schatten dessen, was ihr folgt: Der Erste Weltkrieg, die Zeit der Weimarer Republik, die Nazi-Diktatur mit ihren Verbre­chen und der Zivi­li­sa­ti­ons­bruch der Shoah.

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Vom Zivi­li­sa­ti­ons­bruch handelt auch die Geschichte von Das weiße Band. Die Erzählung ist eine Parabel. Der Erzähler als Erzieher, nicht etwa umgekehrt. Als Erzieher des Publikums. Die Verbre­chen bleiben unauf­ge­klärt. Aber alles deutet darauf, dass die Kinder die Täter waren. Diese Kinder sind vor allem die der mora­li­schen Auto­ri­täten dieser Gemein­schaft, sie sind Opfer und Täter zugleich. Sie tun Böses, auch um sich zu schützen – vor dem Bösen. »Die Kinder werden gestraft für die Sünden der Eltern« heißt es einmal. Die Kinder müssen die Last ihrer Herkunft, das Erbe der Eltern tragen. Sie bestrafen die, die anders sind, aber sie bestrafen damit auch sich selbst. Trotz ihrer Indi­vi­dua­lität agieren sie als Kollektiv.

Unschuld und Sünde, Schuld und Verant­wor­tung, Erziehung und Strafe – einmal mehr stellt Michael Haneke in »Das Weiße Band« Facetten des Mensch­li­chen und Rituale der Gesell­schaft auf den Prüfstand und entdeckt das Böse als untrenn­baren Bestand­teil eines jeden sozialen Zusam­men­hangs.

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Es gibt nun mehrere Perspek­tiven, unter denen man das alles betrachten kann. Keine ist privi­le­giert. »Das Weiße Band« funk­tio­niert wie ein Kalei­do­skop: Je nachdem, wie man es dreht und man hinein­schaut, so verändert sich der Film.

Da ist zum einen der Protes­tan­tismus: Die seltsame Logik eines strengen Vaters, der aus Liebe züchtigt, konse­quent zuende gedacht ein sado­ma­so­chis­ti­scher Charakter ist, und seine perversen Erzie­hungs­me­thoden. Das weiße Band ist ein Lehrstück, in dem der Protes­tan­tismus als exem­pla­ri­sches Beispiel und die histo­ri­sche Epoche als Folie dient, um den Zusam­men­hang von Macht, Zwang und Gewalt zu ergründen. Das Hanekes Filme mehr sind, als die oft erwähnte Medi­en­kritik, dass sie noch weit mehr als Eltern­kritik und Erzie­hungs­kritik verstanden werden müssen, ist schon öfters ausge­führt worden – »Das Weiße Band« unter­mauert diese These mit vielen zusätz­li­chen Argu­menten.

So ist dies, zweitens, natürlich eine ganz grund­sätz­liche Geschichte über Gewalt und ihre Genese. darüber wie Gewalt entsteht und wo sie hinführen kann. Haneke beschreibt die Geburt der Gewalt aus dem Geiste des Auto­ri­ta­rismus. Erziehung vor Auschwitz. Nichts Neues. Aber gut und diffe­ren­ziert begründet.

Es ist damit – drittens – eine Vorge­schichte des Faschismus. Der Film zeigt in den Kindern die Erwach­senen von morgen. Und es ist genau die Gene­ra­tion, die 1933 Ende 20, Anfang 30 Jahre alt sein wird. Die Kinder wurden miss­braucht und miss­han­delt und genießen insofern mildernde Umstände, sie haben die Werte ihrer Eltern aber auch verin­ner­licht, und sind damit deren Reprä­sen­tanten. Sie stehen für alles Falsche, Perverse, Verbre­che­ri­sche jener Zeit.

Schließ­lich – viertens – ist der Film eben »eine Kinder­ge­schichte«. So hätte er heißen sollen. Diese Kinder sind auch als Kinder ernst zu nehmen. Das heißt, sie sind nicht nur die späteren faschis­ti­schen Erwach­senen, sondern bereits eine HJ avant la lettre, eine HJ des Wilhel­mi­nismus. Kinder, die als Kinder boshaft und verschlagen sind und darin idea­lis­tisch und von sich selbst überzeugt. Und die sich zu radikalen Richtern ihrer Eltern aufschwingen, die auch zur Bedrohung für sie werden.

Zugleich sind sie Figuren aus einem Horror­film: Die Präsenz der Kinder, ihre Blicke auf die Erwach­senen, scheint, vor allem, wenn sie in Gruppen auftreten, immer etwas Ankla­gendes zu haben, etwas Unheim­li­ches auch. Man kann »Das Weiße Band« daher ganz und gar als Horror-Mystery begreifen, nur ist eine solche Betrach­tungs­weise im Fall von Haneke etwas unüblich.

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Manche Gesell­schafts­theo­re­tiker sind überzeugt: Verbre­chen sind dazu da, um eine Gesell­schaft zu stabi­li­sieren, durch ein komplexes Geflecht aus Strafe und Angst. Verbre­chen können aber eine Gesell­schaft auch desta­bi­li­sieren. Genau diese Dialektik zeigt Haneke: Die Gesell­schaft reagiert auf die Unfälle, Merk­wür­dig­keiten und Verbre­chen zunächst soli­da­risch. Doch zunehmend wird sie durch sie innerlich ausgehöhlt. Haneke zeigt eine Gesell­schaft, die sich ihrer eigenen Abgründe nicht stellen will, will sich die Ursachen der Vorgänge nicht bewusst machen, weil sie instinktiv spürt, dass diese in ihr selbst liegen. Diese Verdrän­gung verschärft die Spannung und gebiert neue Untaten.

Auch wenn all dies nicht explizit gemacht wird, so vermit­telt Haneke doch deutlich genug für alle, die Augen haben zu sehen, Ohren zu hören und einen Verstand zum denken, dass der gezeigte Gewalt- und Schre­ckens­zu­sam­men­hang konse­quent in den Faschismus mündet. Die Verbin­dung ist keine histo­ri­sche, eine mora­li­sche aber sehr wohl. Haneke, der subtiler ist, als er dem einen oder anderen scheinen mag, bietet in Das weiße Band auch sämtliche geläu­figen Motive auf, die den Faschismus konsti­tu­ieren: Konfor­mismus, rigorose Diszi­pli­nie­rung, patri­ar­cha­li­sche Macht, sexuelle Repres­sion, Verdrän­gung, ein Klas­sen­system, soziale und mate­ri­elle Ungleich­heit, die Kreation von Sünden­bö­cken aus Außen­sei­tern.

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So über­zeu­gend das ist, so sind doch die Paral­lelen zur Gegenwart kaum weniger nahe­lie­gend: Das weiße Band leuchtet hinein in das Dunkel, das unter den schein­baren Sicher­heiten von Familie, Ordnung, Bürger­lich­keit liegt; der Film zeigt, dass Bildung nicht vor Verbre­chen schützt, er zeigt, wie Religion geradezu zwangs­läufig in Fana­tismus mündet.

Einmal mehr spielt Haneke mit Sicht­bar­keit und Unsicht­bar­keit. Obwohl der Film vom Schuldig-werden, Urteilen und Strafen handelt, bringt er den Zuschauer nie in eine Position, die ihm selbst ein sicheres Urteil erlaubt. Die Verbre­chen bleiben ungeklärt und unge­straft. Die Strafe wird später folgen, und sie wird härter sein, oder, wie es heißt »der Herr straft der Väter Missetat an den Kindern, bis ins dritte Glied.«

Wo kommt das her? Wie konnte es dazu kommen? Das weiße Band gibt die Antwort. Viele werden es nicht hören wollen, aber, wer nicht hören will, das steht nicht nur in protes­tan­ti­schen Erzie­hungs­rat­ge­bern, muss fühlen.

»Ein Jahr ist kurz – da stürzt die Welt nicht ein« heißt es einmal, um Weih­nachten 1913/14. Aber genau das ist passiert. Die Welt ist einge­stürzt. So wie unsere, irgend­wann.