Walter Kaufmann – Welch ein Leben!

Deutschland 2021 · 102 min. · FSK: ab 12
Regie: Karin Kaper, Dirk Szuszies
Drehbuch: ,
Kamera: Tobias Rahm, Dirk Szuszies
Schnitt: Tobias Rahm, Dirk Szuszies
Ein Mann, der auch an Martin Eden erinnert
(Foto: Karin Kaper Film)

Im Fluss der Zeit

Karin Kaper und Dirk Szuszies haben über den Schriftsteller und Jahrhundertzeugen Walter Kaufmann einen soghaften Film gemacht, der Zeugnis ablegt bis zum Letzten

Er habe ein Leben gelebt, wie es heute kaum noch vorstellbar ist, er habe Erfah­rungen gemacht, wie sie es heute kaum noch gibt. Das findet zumindest Gregor Gysi zu Beginn des Films bei einem öffent­li­chen Podi­ums­ge­spräch mit Walter Kaufmann, dem Jahr­hun­dert­schrift­steller. Nach diesem Teaser, der auch ein bestimmtes Framing – Gysi – setzt, darf sich in hundert Minuten ein Leben in einem ruhigen und unauf­ge­regten Erzähl­fluss entfalten, und doch gibt es für jedes Lebens­jahr nur knapp eine Minute. Walter Kaufmann wurde 97 Jahre alt; in diesem Frühjahr 2021 ist er im April verstorben.

Geboren ist er 1924, wuchs zunächst bei seiner »ledigen Mutter« auf, wie man damals Allein­er­zie­hende nannte, im Berliner Scheu­nen­tor­viertel, dem Armen­viertel für polnische Juden. Mit drei Jahren gab die Mutter ihn zu einer jüdischen Rechts­an­walts­fa­milie in Duisburg, die ihn adop­tierte. »Aus dem Lumpen­kind wurde ein Kind der Bour­geoisie«, amüsiert sich der fast 100-jährige Walter Kaufmann im Rückblick. Die Behütung brachte die Anleitung zur Künst­ler­exis­tenz, zum jüdischen Leben, und das Gymnasium. Dort dann in der Mathe­stunde auf einmal »Rassen­un­ter­richt« und markige Nazi-Sprüche. 1938 stellte er große Lücken im Klas­sen­ver­band fest, sagt er, von 18 Schülern fehlten sieben. In der Pogrom­nacht wurde das elter­liche Haus bis unter das Dach zerstört. 1944 werden diese in Auschwitz ermordet, zwei Stol­per­steine in Duisburg erinnern heute an ihre Depor­ta­tion. Aber das erfahren wir im Film erst viel später.

Walter Kaufmann erzählt im ruhigen Fluss, streng chro­no­lo­gisch. Er hat sein Leben genau im Kopf, er hat es in allen Einzel­heiten schon oft erzählt. Weitere Stationen folgen. Des Unglücks, der Todes­be­dro­hung. Den Vater holen sie aus Dachau ab, für die Mutter solle er ein Visum beim briti­schen Konsulat holen. Unter­dessen montieren Karin Kaper und Dirk Szuzies, die erfah­renen Doku­men­tar­filmer großer und einzig­ar­tiger Lebens­ge­schichten, histo­ri­sches Material: Fotos von Kaufmann im Grund­schul­alter, Aufnahmen aus dem Duisburg der frühen Dreißi­ger­jahre. Sie wagen auch den Sprung in die Gegenwart, zeigen die Schau­plätze der Lebens­reise heute, unter dem Eindruck der modernen Gegenwart, da fährt ein ICE ein, Schnitt, er wird von einer schwarz­rau­chenden Eisenbahn abgelöst.

Kaper und Szuszies verschränken die Vergan­gen­heit mit der Gegenwart, hier wird immer das eine auf das andere bezogen. Der alte Walter Kaufmann durch­fährt auf diese Weise weißhaarig die Gegenwart und erinnert sich an sein Leben. Aus dem Off seine gleich­mäßige, leicht knarrende und sehr eindring­liche Stimme. Am Ende des Films sagt er: »Jetzt bin ich in der Gegenwart ange­kommen.« Die ihn mit dem Auslän­der­hass und den Neo-Nazis erschüt­tern lässt. Doch so weit sind wir noch nicht.

Welch ein Leben! heißt der Doku­men­tar­film Walter Kaufmann program­ma­tisch im Unter­titel. Kaper und Szuszies geben so die Richtung vor, es geht immer weiter voran, ohne Abzwei­gungen, Sprünge oder Voraus­griffe. Heraus­ge­kommen ist dabei ein Film, in dem man sich ganz der Erzählung hingeben kann, in dem das Hören das Sehen begleitet, denn Walter Kaufmann sieht man selten sprechen. Seine Erzäh­lungen tragen das Bild vor allem aus dem Off.

In England kam bald die Inter­nie­rung als »Enemy Aliens«, feind­liche Ausländer, da war er sechzehn. Es ist 1940. Es folgt die Überfahrt auf der Dunera, alle dachten, es ginge über den Atlantik, und dann kamen sie doch in Sidney an, verarmt und heimatlos. Es ging in die Inter­nie­rung nach Hay, 1000 km von Sidney entfernt.

Wenn man Kaufmann sprechen hört, kommt auch Verwun­de­rung auf, wie gleich­mäßig, immer wieder anek­do­tisch er voran­schreitet. Als hätte es keine Emotionen gegeben. Erzäh­lungen vom Abschied und vom Verlassen werden als sachliche, routi­nierte Vorgänge wieder­ge­geben, Lebens­brüche waren normal.

Spürbar ist die Absenz des redak­tio­nellen Zugriffs in dem Doku­men­tar­film von Karin Kaper und Dirk Szuszies, die ihre Filme stets als Inde­pen­dent-Projekte reali­sieren, nur mit Mitteln der BKM und ohne Co-Produk­tion eines Senders oder gar einer Fern­seh­re­dak­tion. So bleibt man in Walter Kaufmann verschont vom einord­nenden Häppchen-Jour­na­lismus, von drama­tur­gi­schen Eingriffen und künst­li­chen Drama­ti­sie­rungen. Man lauscht der gleich­mäßigen Stimme, gelangt vom Soldaten der »pazi­fis­ti­schen« austra­li­schen Armee zum Hoch­zeits­fo­to­grafen Walter Kaufmann. Dann erzählt Kaufmann völlig beiläufig, wie er mit dem Schreiben begann und sein erstes Buch druckte. Um sich dann das Leben als Schrift­steller zu finan­zieren, arbeitete er auf den Welt­meeren.

1956 berichtet er für die DDR von den Olym­pi­schen Spielen in Melbourne, sein austra­li­scher Pass gibt ihm alle Frei­heiten, quer durch die poli­ti­schen Blöcke zu reisen. Auch die Schrift­stel­lerei bringt ihn mit vielen Menschen auf der ganzen Welt zusammen. »Eine Fülle von Erleb­nissen«, fasst das Kaufmann zusammen, als sei er plötzlich müde geworden vom Erzählen.

Aber das Leben macht nicht halt, geht weiter, nach Tokio, Hiroshima, New York. Immer wieder löst auch eine Erzäh­lerin Kaufmanns Stimme im Off ab, sie liest aus seinen Berichten über Städte und die Menschen vor, mit denen Kaufmann viele Bücher gefüllt hat.

Alles will man aufschreiben und wieder­geben, das Leben von Walter Kaufmann ist ein Faszi­nosum. Karin Kaper und Dirk Szuszies haben mit dem Schrift­steller einen der letzten Jahr­hun­dert­zeugen sprechen lassen. Kaufmann ist zugleich »Archiv und Zeuge«, in einer Formel gespro­chen, wie sie Giorgio Agamben geprägt hat. Archiv und Zeuge: In über vierzig Titeln, in Short Stories und Repor­tagen, hat Kaufmann sein Leben fest­ge­halten. Und hat doch nie aufgehört, von diesem zu erzählen.