Vortex

Frankreich/B 2021 · 142 min. · FSK: ab 12
Regie: Gaspar Noé
Drehbuch:
Kamera: Benoît Debie
Darsteller: Dario Argento, Françoise Lebrun, Alex Lutz, Kylian Dheret u.a.
Mit dem Leben entweichen auch die Filmbilder und geraten in Stillstand...
(Foto: Rapid Eye Movies/Real Fiction)

Bald sind wir Gespenster

Körper, Geist, Familie, Liebe, Besitz – in Gaspar Noés neuem Geniestreich strebt alles der Auflösung entgegen

Mit einem Werk wie Vortex würden sich andere Filme­ma­cher womöglich in den Ruhestand verab­schieden. Wüsste man nicht, dass Gaspar Noé immer wieder für Über­ra­schungen gut ist, immer neue Möglich­keiten findet, das Abgrün­dige und Verdrängte in Formen zu gießen, würde man meinen, nach diesem Film wäre alles auser­zählt, was es zu erzählen gäbe. Es hätte überhaupt keinen Zweck, nach dieser hoff­nungslos melan­cho­li­schen filmi­schen Ster­beü­bung noch weitere Mühen aufzu­bringen.

Schon Noés vorhe­rigem Film, der Meta-Spielerei Lux Æterna, wohnte ein Gefühl von Endpunkt inne, von einem Exor­zismus am eigenen Schaffen, das noch einmal die einzelnen Zutaten des Mediums wild arran­gierte, einzelne Substrate heraus­fil­terte und letztlich dem Publikum mit voller Wucht ins Gesicht schleu­derte. Wo dort der Film an sich und seine Branche mit ihm in Flammen aufgingen und in bunt flackernden Licht­ka­dern tran­szen­dierten, befreit sich Noé in Vortex nun vom meta­phy­si­schen Wunder. Sein neuestes Werk ist ebenfalls eines, das sich im Übergang begreift, in dem alles auf das Vergehen zusteuert, doch dieses Mal findet er vor allem das Drama des körper­lich gebun­denen Daseins, das er fein­füh­liger denn je auf die Leinwand bringt. Sein Sinnieren über das Numinose, Jensei­tige ist längst blanke Sisy­phus­ar­beit geworden, der die mensch­liche Vergäng­lich­keit ein Ende bereitet.

Noés Kino war immer eines der Biogra­phien, die sich hier um Kopf und Kragen plap­perten, dort von hinten nach vorne die eigenen Schick­sals­schläge durch­kämmten oder störrisch versuchten, Überreste für die Nachwelt zu erschaffen. Immer leuch­teten sie als Bruchs­tücke auf, in ihrer Chro­no­logie verwirrt, über­schattet von der Heftig­keit einzelner Momente und Empfin­dungen, die die Kamera mal als lebender, blin­zelnder Orga­nismus und Zeuge, mal als Akteur und bild­wer­dender Affekt begleitet. In Vortex ist nun von den Biogra­phien zweier Leben nichts als nackte Existenz geblieben. Ein Dahin­ve­ge­tieren und letztes verzwei­feltes Aufbäumen, während der eigene Kosmos und Körper längst zum Hindernis, die Erin­ne­rung zur Leere und die vertraute Umgebung zum musealen Irrgarten verkommen ist.

Das Ende durch­spielen

Die Schau­spie­lerin Françoise Lebrun und Giallo-Regisseur Dario Argento spielen in Vortex im fort­ge­schrit­tenen Alter den eigenen Tod. Noé insze­niert die beiden als Paar, das in einer Pariser Wohnung den gemein­samen Lebens­abend verbringt. Sie war Psych­ia­terin, er arbeitet als Schrift­steller. Doch weil Noé selten ein Freund hoff­nungs­voller Geschichten war, bleibt auch in dieser Liebes­er­zäh­lung nur das Warten auf ihr Ende. Irgend­wann versagt der Orga­nismus. Später gesellt sich die Perspek­tive des Sohnes hinzu, gespielt von Alex Lutz, der am eigenen Unver­mögen zerbricht, daran etwas ändern zu können.

Da hilft auch das angehäufte Wissen nicht weiter, das aus dieser Leinwand-Wohnung und ihren Bewohnern spricht. Bücher, überall Bücher, aber was nützen sie, wenn der Geist nicht mehr mitspielt und sich all die griff­be­reiten Infor­ma­tionen und Geschichten nurmehr in beklem­mende Müll­halden verwan­deln, die die beiden Ster­benden wie ein Labyrinth durch­wan­deln?

Nicht einmal einen Namen hat Noé seinen erdachten Figuren gegeben, im Sterben werden sie alle zu Arche­typen. Die Namen ihrer Akteure sind hingegen bereits im Vorspann mit Geburts­jahren versehen. Eine Lücke für das Todesjahr wartet drohend darauf, mit einer weiteren Zahl gefüllt zu werden. Im Kino trainiert man bereits dafür, sich damit abzu­finden.

Noé schreibt sich fort

In Michael Hanekes Liebe, mit dem Vortex gern vergli­chen wird, war es der Einbruch des Unsicht­baren in das traute Heim, mit dem die Zerstö­rung der Zwei­sam­keit einsetzte. Bei Noé ist es das Medium selbst, das diesen destruk­tiven Akt vollführt. Und so tut sich in Vortex der Abgrund zwischen den Liebenden auf: Eine Linie zerschneidet das Bild in zwei Teile, die fortan simultan neben­ein­ander ablaufen. Eines verfolgt Lebrun, deren Figur an Demenz erkrankt ist, während Argento die andere Bild­hälfte gebührt, der versucht, Autonomie zu wahren und sein Buch fertig­zu­stellen. Eine letzte große Tat, um der Nachwelt unsterb­lich zu werden. Irgend­wann wird sein Werk in der Toilette landen. Für solch naive Träu­me­reien ist in Noés Welt kein Platz mehr und er beweist erneut große Stärke, einen für die Dauer seines Films von dieser finsteren Sicht zu über­zeugen.

Vortex ist bei alldem nicht minder provo­kativ, nicht minder nieder­schmet­ternd als Noés rasendes Frühwerk, weil ihm erneut meis­ter­haft die Konfron­ta­tion mit dem Abscheu­li­chen gelingt. Nur die Betrach­tungs­weise ist ein wenig gesetzter, der Fokus schärfer, der Tonfall andäch­tiger geworden. Vortex mag nicht der aufre­gendste Film im Schaffen des Skan­dal­re­gis­seurs sein, in seiner formalen Reife fügt er ihm dennoch eine weitere, ungemein spannende Facette hinzu.

Noé braucht dabei nur leichte Verschie­bungen vorzu­nehmen, um seine Arbeiten konse­quent fort­zu­schreiben und neu zu befragen. Aus den wilden Drogen­erfah­rungen von einst sind nunmehr etwa bloße Lethargie und Abhän­gig­keit geworden. Berau­schende Substanzen brechen das Alltä­g­liche im Alter nicht mehr auf, sondern konser­vieren den Ist-Zustand lediglich noch wenige Tage, für deren zähe Un-Zeit­lich­keit der Regisseur eine ange­messen üppige Filmdauer gewählt hat.

Tragische Blicke

Traurig, schwer­mütig ist dieser Film, weil Noé den Zugang zum Traum­haften, Tran­szen­denten versperrt. Er zeigt keinen bewusst­seins­er­wei­ternden, surrealen Ego-Trip mehr wie in Enter the Void. Die Kamera von Benoît Debie obser­viert allein rastlose, verfal­lende Körper von außen, ähnlich wie in Noés Tanzfilm Climax. Sie hat verlernt, in die Bereiche des Unbe­wussten, Wunder­samen vorzu­dringen. Der innere Terror und die Orien­tie­rungs­lo­sig­keit bleiben einge­sperrt in der physi­schen Hülle. Ihre Ohnmacht und Getrie­ben­heit machtlos zu bezeugen, lässt das Zusehen in Noés Kino erneut zur schmerz­haften Ange­le­gen­heit werden.

Der aufge­spal­tene Blick in Vortex ist dabei keiner, der sich an bloßer senso­ri­scher Über­rei­zung ergötzen würde – das hat Noé oft genug getan. Er ist ebenso wenig bloßes Abbild einer von Demenz zerrüt­teten Psyche, dafür behält die Regie- und Kame­ra­ar­beit ein viel zu hohes Maß an Konzen­tra­tion und Kalku­lie­rung in der Gegenü­ber­stel­lung bestimmter Szenen. Statt­dessen ist er ein zutiefst tragi­scher, in seinem Chaos geord­neter, der auf konge­niale Weise mit dem Unaus­weich­li­chen, Vorge­schrie­benen spielt. Der gerade in seiner Nüch­tern­heit erst das gesamte Ausmaß der Tragödie des mensch­li­chen Dahin­sie­chens einfangen und die Begren­zung des Sicht­feldes aufsprengen kann.

Dem Split Screen gelingt das, was dem Menschen versagt ist: Die gleich­zei­tige Anwe­sen­heit an mehreren Orten, das Bestreiten verschie­dener Lebens­rou­tinen, vereint in einer Seherfah­rung, vor der man lieber die Augen verschließen würde. Denn im Sterben sind da nur noch Terror und Hilf­lo­sig­keit, weil der gelassene, naive Alltag in der einen Bild­hälfte umso grau­en­er­re­gender erscheint, wenn das Publikum längst die sich anbah­nende Kata­strophe im anderen Bildkader erspähen kann. Wenn das Kino Träume offenlegt, wie Dario Argentos Figur sinniert, dann ist es in Vortex der Albtraum des passiven Beiwoh­nens.

Diskretes Sterben

Die Auslö­schung selbst ist Noé wahr­schein­lich nie ambi­va­lenter, eindring­li­cher gelungen, gerade weil er auf allzu offensive Schän­dungen durch Dritte verzichtet. Mit schau­riger Stille erlöst Noé seine Figuren aus ihrem Gefängnis und die Schau­spie­lerin, den Schau­spieler aus der filmi­schen Fixierung. Jeder stirbt für sich, verschwimmt zur abstrakten Farb­fläche. Die Leinwand wird zur Grenze des Abschieds wie zur abstoßenden Leere. Noé lässt sein Filme­ma­chen im Verenden demons­trativ an die Grenze des Darstell­baren prallen. Nach und nach verflüch­tigt sich alles in Vortex zum Gespens­ti­schen, mit dem Leben entwei­chen auch die Film­bilder. Sie geraten in Still­stand. Mit einer trost­losen Diashow endet dieses Drama. Schnapp­schüsse, die ihres eigenen Inhaltes und ihrer Leben­dig­keit beraubt werden. Wo Noé in früheren Werken versucht hat, in höhere Sphären, jensei­tige Erfah­rungen vorzu­dringen, zittert er nun vor dem puren Nichts.

Selbst das Geis­ter­haus, das am Ende dieses Films übrig bleibt, erscheint nur noch als unbe­seelter Ort, als Gerüm­pel­kammer, totes Material, dessen Spuren beseitigt werden. Eine letzte Himmel­fahrt über die Dächer versagt, bevor sie sich vollends aufschwingen kann. Mit dem Verlassen des Körpers, dem Aufsteigen der Seele begann einst die Jenseits­reise von Enter the Void. Inzwi­schen ist Noé offenbar skeptisch geworden, säkular, medi­zi­nisch, desil­lu­sio­niert. Keine Seelen­reise, keine Wunder, keine Wieder­ge­burt, auch wenn die Welt kopfsteht. Einfach ein Ende. Fin. Und doch hat diese kompro­miss­lose Zäsur, mit der einen Vortex nach all dem Brabbeln, Weinen und Irren entlässt, etwas eigen­artig Versöhn­li­ches. Noé lässt seinen Geistern die Diskre­tion der Unsicht­bar­keit, ihr würde­volles Entschwinden. Sie medial erneut zum Leben zu erwecken, hieße, sie diesem schwer erträ­g­li­chen Zerfalls­pro­zess erneut auszu­setzen.

Der Tod ist Vereinzelung

Sterben lernen: Gaspar Noés großartiger Film Vortex

»Der Tod ist unver­meid­lich. Das Ziel unseres Lebens­laufes ist der Tod; zwangs­weise richten wir unseren Blick auf ihn: wenn er uns erschreckt, wie können wir da einen Schritt ohne Schaudern gehen? Philo­so­phieren heißt sterben lernen.« – Montaigne

»Es ist leicht jemanden Provo­ka­teur zu nennen. Die, die nur den Wald der Provo­ka­tion sehen, wollen aber offenbar nicht die einzelnen Bäume der Analyse und der Wahrheit sehen, der Wahr­heiten, die wir nicht gerne hören.« – Giona Nazzaro, Direktor des Locarno-Film­fes­ti­vals über Gaspard Noé.

Es war eine besondere Vorfüh­rung in Cannes 2021, dem Jahr der Pandemie und des großen Sterbens. Es war die letzte des Festivals, nicht zufällig gewählt. Eine Feier der Jugend und des Lebens. Denn wahn­sinnig viele junge Menschen waren gespannt auf diesen Film und wollten da unbedingt rein. Und das bei einem Film, bei dem es um das Alter und das Sterben geht.

Typi­scher­weise haben sämtliche deutsche Tages­zei­tungen diesen Film in Cannes übersehen, also nichts dazu geschrieben – das sind dann die gleichen, die sicher in ein paar Wochen wieder erklären werden, dass Cannes gar nicht so wichtig ist und über­schätzt und dass da ja eh immer nur die gleichen Filme laufen. Geschrieben hat nur die Dame von Spiegel-Online. Und auch die nicht sehr viel.

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Zwischen Skylla und Charybdis muss man sich gerade nicht entscheiden – sondern man geht mitten zwischen ihnen hindurch. Beide Seiten sind gleich gefähr­lich, und ausnahms­weise liegt nicht in der Mitte der Tod, sondern die Rettung.
Die gespal­tene Wirk­lich­keit, in der jeder für sich in seiner Filter­blase sitzt, wieder zusam­men­zu­führen und doch als gespal­tene, als je eigene zu erhalten, sie aufzu­heben in beider Zusam­men­füh­rung, das ist genau das, was Gaspar Noé hier tut.

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Es beginnt beinahe betulich. Wir sehen eine mit vielen Blumen pracht­voll bepflanzte kleine Dach­ter­rasse, die, wie sich heraus­stellt, zu einer geräu­migen Pariser Altbau­woh­nung gehört. In der wird der größte Teil des Films spielen. Aus einer Nach­bar­woh­nung ist Schla­ger­musik zu hören. Auf dieser Terrasse beginnt alles im Abend­licht eines warmen Tages. Zwei alte Menschen machen sich einen schönen gemein­samen Moment; es gibt etwas zu essen, eine Flasche Crémant wird entkorkt, man prostet einander zu: »à nous«, auf uns. »Das Leben ist ein Traum, nicht wahr!« sagt sie. Und er antwortet: »Ja. Ein Traum in einem Traum.«

Dann dreht sich die Kamera auf eine seltsame Weise etwas ruckartig von den beiden weg, schwenkt nach links, kommt auf der alten stei­nernen Brand­mauer des Nach­bar­hauses zum Stehen und kippt kurz nach unten weg. Ein Fall, ein Sturz, ein Taumel. Während dieser Bewegung wird die Musik immer leiser und alles wechselt in Ton-Atmo­s­phären, die eine diffuse Bedrohung, einen nahenden Horror ausstrahlen. »Vortex« bedeutet in vielen Sprachen so etwas wie »Abgrund«, »Strudel«, »starker Wirbel«, »Wirbel­be­we­gung«.

Gemeint ist damit in jedem Fall das, was uns allen bevor­steht, das, was diese beiden jetzt verschlingt: Der Tod, der ein Abgrund ist, in den die beiden zwangs­läufig früher oder später hinab­ge­rissen werden, der sie aber zuvor auch schon im Leben ausein­ander treibt und dann doch wieder zusam­men­presst.

Das nächste Bild zeigt dieses alte Ehepaar, deren Namen wir nicht erfahren, auf dem Ehebett liegend; die Kamera blickt sie von oben an und lässt sie wie aufge­bahrt wirken. Dann frisst sich wie ein Monster von oben ein schwarzer Streifen langsam durchs Bild und teilt es, unten ange­kommen, in zwei Teile,

Und von nun an sieht man über die gesamte Dauer des Filmes eigent­lich zwei Filme: Quasi zwei Bild­qua­drate neben­ein­ander, links und rechts. Wir verfolgen dabei auch das gemein­same Leben von zwei alten Menschen. Das ist filmisch für sich schon sehr inter­es­sant: Manchmal sieht man den gleichen Raum aus zwei Perspek­tiven. Während das parallel verlau­fende Leben der beiden Figuren am Anfang betont wird, driften sie dann zunehmend öfters ausein­ander, haben immer weniger Über­schnei­dungen – zum Beispiel, weil der Mann noch ausgeht, andere Leute trifft –, um aber regel­mäßig doch auch wieder zusam­men­zu­kommen, auch im Bild.

Dieser filmische Exzess, der den Zuschauer bewusst etwas über­for­dert, ist faszi­nie­rend zu sehen. Der Split­screen hat auch die Funktion, extrem viele Perspek­tiven mitein­ander zu konfron­tieren, zwischen ihnen immer wieder zu wechseln, sie zugleich mitein­ander zu kombi­nieren. Dies ist ein großer, auch schel­mi­scher Spaß des Regis­seurs, es ist aber auch einfach ganz hervor­ra­gendes Kino, das in seiner formalen Strenge und Betonung der Form voller Anspie­lungen und Zitate ist, und zeigt, was im Kino möglich ist. Und darin ist Vortex tatsäch­lich auch ein ästhe­tisch sehr diverser Film.

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Mit diesen Mitteln verfolgt man relativ nahe, relativ detail­liert und alltä­g­lich in großer Intimität das Leben dieses alten Paares. Der Mann im Film wird von dem bekannten italie­ni­schen Horror-Regisseur Dario Argento gespielt, den man als Schau­spieler so noch nicht erleben konnte – er spielt hier die Rolle eines Exil-Italie­ners in Paris. Der ist ein Autor von Film­büchern, wohl auch ein Film­kri­tiker und Dozent. In jedem Fall plant er ein neues Buch und zwar über das Verhältnis von Film und Traum.

Die Frau war eine Psych­ia­terin, und wird gespielt von Francoise Lebrun. Sie ist offen­sicht­lich auf eine gewisse Art dement. Sie hat auf jeden Fall klare und weniger klare Tage – es geht insofern dann doch um Drogen, nämlich um Medi­ka­mente, die sie auch mal verwech­selt oder viel nimmt, und es geht darum, diesen Alltag überhaupt noch zu meistern in seinen schieren nackten Details.

Er ist herzkrank, hat kleine Schwäche­an­fälle, aber man sieht ihn auch mal in einem Lokal sitzen mit Freunden, man sieht ihn auch mit einer viel­leicht früheren oder immer noch Geliebten; es ist auch klar, dass das Paar durch eine große Loyalität verbunden ist. Sie wollen beide zusammen bleiben und die offen­sicht­lich letzte Phase ihres Lebens gemeinsam verbringen und erleben wollen.

Die tolle Wohnung ist eine weitere Haupt­figur. Voll­ge­stopft mit Büchern, mit Erin­ne­rungen, sie trägt die Spuren eines voll­endeten Lebens. Es ist ein privates Labyrinth, und es trägt auch die Spuren der Beziehung, an den Wänden hängen Poster aus den Jahren des poli­ti­schen Akti­vismus – neben ihnen Poster der Filme von Fritz Lang und Jean-Luc Godard. Weitere Plakate, weitere Bücher verweisen auf die poli­ti­sche Vergan­gen­heit, die diese beiden Figuren offen­sicht­lich haben: der Mai 68 und die 70er Jahre. Dies ist ein Film über Mut, über den Mut des Akzep­tie­rens des Todes. Des eigenen, und darüber, wie es ist, wenn man dem geliebten Menschen im Sterben zusieht. Das einzige Kind der beiden, gespielt von Alex Lutz, kämpft gegen seine Abhän­gig­keit und um seine Verant­wor­tung.

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Vortex ist ein Produkt von Corona. Es wurde geschrieben, gefilmt und fertig produ­ziert in weniger als vier Monaten. Er ist ganz am Anfang, bevor die Film­credits richtig beginnen, mit einer Widmung versehen: »An die, deren Verstand implo­dieren wird vor ihrem Herzen«. Er ermuntert uns ganz sachte, uns unserer eigenen Sterb­lich­keit zu stellen. Wir nähern uns der täglichen Intimität eines alten Pariser Paares. Manchmal ist das zärtlich, manchmal auch hart, manchmal bekommt man Mitleid mit den beiden Alten.

Jeder von Noés Filmen ist geprägt von einer Idee von Kino, die obsessiv ausge­kund­schaftet wird und mit großer Leiden­schaft. Vortex ist Gaspard Noés emotio­nalster und in vieler Hinsicht über­ra­schendster Film. Para­do­xer­weise ist es auch sein provo­zie­rendster. Auch deswegen, weil er voll­kommen befreit ist von den ganzen Elementen, die diesen Regisseur ausmachen und die seine Verächter verrückt machen. Nur der Split­screen ist noch übrig. Mit der Kompli­zen­schaft eines so niemals vorher­ge­se­henen Dario Argento ist Vortex ein Gedicht; das Gedicht eines unver­meid­baren Endes. Und nur ein so provo­ka­tiver Regisseur wie Gaspar Noé kann es wagen, uns mit einem noch radi­ka­leren Provo­ka­ti­onsakt zu konfron­tieren: Sein Kino auf die Essenz zu redu­zieren, es an sein Herz zu bringen und alle seine geheimen Puls­schläge aufzu­nehmen.

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Man könnte sagen, dass dieser Film auch ein Horror­film ist.

Der leise Horror des Abschieds ist der laute Horror des Todes.