Italien/F/B 2024 · 119 min. · FSK: ab 12 Regie: Maura Delpero Drehbuch: Maura Delpero Kamera: Mikhail Krichman Darsteller: Tommaso Ragno, Giuseppe De Domenico, Roberta Rovelli, Martina Scrinzi, Orietta Notari u.a. |
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Die Nische der Liebe... | ||
(Foto: Piffl Medien) |
So viele Geheimnisse – und so wenig Nischen, sie zu bergen. In dieser engen Welt. Wo sieben Geschwister sich eine Kammer und drei Betten teilen.
Ein Winkel zwischen Wäscheschrank und Wand nur bleibt der jungen Ada, allein erste Erkundungen ihrer aufkeimenden Sexualität zu machen. Auf dem Heuboden versteckt man die zwei Deserteure – den Sohn der Nachbarin und seinen sizilianischen Kameraden, der ihm auf der Flucht das Leben rettete. Und selbst der streng auf Ordnung und Ehrlichkeit pochende Vater hat unterm Teppich Schlüssel zu einer Schublade mit intimem Inhalt.
Vermiglio ist ein südtiroler Bergdorf, um Weihnachten 1944. Während die Männer fort sind, im Krieg, oder daheim in der Wirtsstube vom Krieg schwadronieren, halten die Frauen das Leben am Laufen. Wir erleben das durch die Augen der Familie Graziadei. Im Dorf zugleich angesehen und skeptisch beäugt. Gottesgnade bedeutet ihr Name. Aber mit selbiger ist es so eine Sache hier.
Glaube und Voksaberglaube sind kaum unterscheidbar in dieser Welt. Man nimmt ohne viel Hadern hin, wenn der Herrgott mal wieder ein Neugeborenes zu sich holt. Ada erlegt sich selbst bizarre Bußen auf – denen sie mitunter ebenso entgegenzufiebern scheint wie ihren angeblichen Verfehlungen. Lucia darf die gleichnamige Heilige spielen bei deren Lichterfest.
Das Licht des Films selbst ist bleich, kalt wie Kalk. Nirgends der güldene Schein der Nostalgie. Keine Landlebenslust, auch nicht in Form von Auskosten der Härte des Darbens. Delpero, die ihre Regie-Anfänge im Dokumentarfilm hat, sucht nicht das große Drama. Sie blickt nach den Nischen im Geschehen. Den kurzen Szenen, kleinen Momenten, in denen sich etwas erhellt. Das Große, Lebensverändernde, das in den Aussparungen passiert, zeigt sich lediglich in seinen Vorahnungen, Nachwirkungen.
Nur der Vater, Schulmeister und stets im weißen, zugeknöpften Hemd, dunklen Anzug, versucht der kargen Existenz einen Anstrich von Zivilisiertheit abzutrotzen. Er ist stolz auf die erbarmungslose Gerechtigkeit, mit der er über die Lebenswege der Seinen herrscht. Und ihnen bei ungenügender Leistung wie gewöhnlichen schulischen Schützlingen die Weihen der höheren Bildung versagt.
Er selbst gibt das knappe Geld für Bücher aus – »Nahrung für die Seele« statt Essen für
die Kleinen. Hört Chopin auf dem Grammophon – statt der Ehe-Realität die Vision vom transzendten Schmerz der unerfüllten Liebe. Hört Vivaldi – die zu erquickender Kunst transformierte Schilderung von Natur und Landleben.
Bei all seinen Mühen in der Schulstube aber: Kommunikation bleibt prekär. Das Dorf voller »Unalphabeten« (wie eins der Kinder es nennt). Briefe erreichen ihre Adressaten nicht – und wenn, verschweigen sie die Wahrheit. Dialekte sind Hürden – die Landesteile Italiens sich fremd untereinander. Man redet wenig hier. Und selten über das Wesentliche. Sie wäre gerne Priester, sagt Ada: Da hört man dir zu, wenn du sprichst.
Auch der sizilianische Deserteur hat seine Geheimnisse. Doch bis die ans Licht kommen, sind er und Lucia schon verheiratet, ist sie schwanger. Und damit vollends im Kreislauf des Gebärens gefangen, der hier in Wahrheit alles bestimmt.
Die Milch ist ein Leitmotiv des Films. In einem nüchternen Anerkennen, dass biologisch zwischen den Menschen und ihrem Nutzvieh nicht solch unüberwindbare Kluft herrscht, wie ihr Glauben ihnen einredet.
Der ach so kultivierte Vater hält seine Frau unablässig in Erwartung des nächsten Kinds, um nicht schlicht zu sagen: Trächtig. Und dass er seine Strenge gegenüber dem ältesten Sohn Dino besonders hart walten lässt, hat mehr als den Hauch eines Rivalenkampfs. Ein Platzhirsch, der sein Revier verteidigt gegen den inzwischen zeugungsfähigen männlichen Nachwuchs.
Ada unterdessen sucht nach einem Weg, sich dem ganzen Männer-Frauen-Ding zu entziehen. Raucht heimlich Zigaretten mit
einem Nachbarsmädchen – ohne Bluse, damit deren Mutter das nicht im Gewand riecht. Doch die einzigen Frauengesellschaften gibt’s hier unter den Nonnen.
Lucia soll schonmal »Antonio« aufs Babygewand sticken. Wird das Kind doch ein Mädchen, macht man später halt ein »a« aus dem letzten Buchstaben. Das Weibliche als Abweichung.
Und doch: Bei allem Kreatürlichen findet Vermiglio auch die Nische der Liebe. In diesem Kreislauf der Natur, und dem, was die Menschen, das Patriarchat daraus machen.
Der Film duldet keine Naivität im Blick auf diese Welt, geografisch wie zeitlich in den Ausläufern des großen Kriegs, der Vormoderne. Doch er ist nicht unbarmherzig. Hält Pessimismus nicht für etwas Wahreres, Wertvolleres, Kunstvolleres.
Gewidmet ist er Verstorbenen und
Neuankömmlingen in Delperos Leben. Und er verleugnet nicht die Liebe der Mütter zu ihren Kindern. »Hast Du Kinder?« »Ja.« »Welch Glück!« heißt es einmal. Und in jenem Moment steckt darin die zutiefst bittere Ironie eines Geheimnisses. Aber keine Lüge.
Ein leichtes, kindliches Atmen leitet den Film ein, bevor das erste Bild eingeblendet wird: Schlafende Kinder in einem kleinen, überfüllten Raum, zwei, drei pro Bett. Ein krächzendes Baby wird von der halbschlafenden Mutter in seiner Wippe sanft beruhigt. In der nächsten Szene melkt die älteste Tochter Lucia (Martina Scrinzi) eine Kuh und schmiegt dabei ihr Gesicht zärtlich an die Seite des Tieres an. Zurück im Haus wird die Milch erhitzt und an sieben Kinder nacheinander verteilt, die sich anschließend um den Tisch versammelt, in dessen Mitte ihr Vater, Cesare (Tommaso Ragno), der in der Mitte andächtig sitzt, versunken in ein Buch.
Der 2024 mit dem Großen Preis der Juri in Venedig ausgezeichnete Film Vermiglio von der italienischen Regisseurin Maura Valpero zeichnet das Leben einer italienischen Großfamilie in einem abgelegenen norditalienischen Bergdorf namens Vermiglio gegen Ende des zweiten Weltkrieges nach. Alles verändert sich, als ein junger, aus Sizilien stammender Deserteur Pietro (Giuseppe De Domenico) im Dorf Zuflucht findet – eine Begegnung, die leise beginnt,
dennoch tiefgreifende Veränderungen nach sich zieht.
Die Inspiration fürs Sujet fand die Regisseurin nach ihren eigenen Worten in sich selbst, in ihrer Familiengeschichte. Ihr Vater wurde in Vermiglio geboren, und ihr Großvater war der örtliche Dorfschullehrer – das als Vorbild für Figur Cesare dient, überzeugend gespielt vom italienischen Schauspieler Tommaso Ragno. Das überwiegende Schauspielerensemble besteht aber aus Einheimischen, was dem Film –
insbesondere durch die Unverstellheit der Kinder – eine starke authentische Note verleiht.
Mit Cesare kreiert Valpero eine komplexe, widersprüchliche und dennoch in sich stimmige Figur, die den Geist der damaligen Zeit einfängt. Einerseits ist er gebildeter, humanistischer und pazifistisch gesinnter Lehrer, der Kinder wie Erwachsene unterrichtet. Andererseits ein patriarchaler Vater, der keinen Widerspruch duldet. Er schert sich kaum um die Bedürfnisse und Sehnsüchte seiner Kinder. Seinem ältesten Sohn Dino begegnet er mit abweisender Härte. Er scheint über den Alltag hinweg zu schweben – unterrichtend, lesend oder seine Aktfotosammlung unter den Klängen klassischer Musik betrachtend. Er gibt das Geld für Schallplatten, denn die Musik sei Nahrung für die Seele, auch wenn das Geld gar für das Grundnötigste fehlt. Die daraus resultierende diegetische Musik von Chopin und Vivaldis „Le quattro stagioni“ durchzieht den Film, betont die Emotionen der Figuren und bringt einen naturgegebenen Rhythmus in die Erzählung.
Der Fokus liegt vor allem auf den drei Töchtern des Maestros. Die kleine, intelligente Flavia (Anna Thaler) soll auf Wunsch des Vaters ein Internat besuchen. Die mittlere, innerlich zerrissene Ada (Rachele Potrich) schwankt zwischen Frömmigkeit und aufbrechenden Begierden und bestraft sich dafür mit drastischen Bußritualen. Und die auf subtile Weise schöne Lucia verliebt sich in den wortkargen Deserteur Pietro, der sich im Dorf versteckt.
Mit ihren Augen streifen wir durch die Gegend – sie sind die Stimmen dieses wortkargen Films. Ihre Gedanken werden durch Flüstern nächtlicher Gespräche, Adas Schreiben und Flavias Neugier und Lucias scheues Lächeln nach dem ersten Kuss mit Pietro preisgegeben. Es entsteht eine vielstimmige, weibliche Perspektive, die sich visuell entfaltet.
Die im Zentrum stehende Liebesbeziehung zwischen Lucia und Pietro wird subtil und zurückhaltend erzählt. Sie sprechen kaum – Pietro versteht den lokalen Dialekt nicht, ist Analphabet. Ihre Kommunikation besteht aus Blicken, kleinen Gesten, Liebesbriefen mit nur einem gemalten Herz. Die Szene, in der Lucia ihn nach langem Zögern schüchtern küsst, spielt sich vor einer märchenhaft verschneiten Bergkulisse ab – ein Moment leiser Poesie, der fast traumhaft wirkt.
Die atemberaubenden Aufnahmen verdanken wir Kameramann Michail (Kameramann von Leviathan), der die Filmbilder in ruhigen, klaren Kompositionen einfängt – meist in kühlen, bläulichen Tönen. Die Kamera bleibt überwiegend statisch, kontemplativ. Nur einmal dreht sie sich mit dem frisch verheirateten Paar im Tanz – der einzige Moment fließender Bewegung in einem sonst stillen Film. Die Autochrom-Technik verbindet Vergangenheit und Gegenwart auf visuell eindrucksvolle Weise.
Der Krieg bleibt als abstrakt spürbare Hintergrundskulisse, die nur in den Kneipen- und Kindergesprächen herumgeistert. Und doch ist er überall: Wie ein Phantom, wie der Bär, den der kleine Pietrin noch nie gesehen hat, vor dem er sich dennoch so fürchtet. Man sieht und spürt ihn aber vor allem im traumatisierten Pietro, dessen Sprachlosigkeit Bände spricht.
Wie seine Figuren bleibt auch der Film konsequent zurückhaltend. Stattdessen erzählt er in Geräuschen und Bildern: flackernden Kerzen, das Blöcken der Ziegen, das Spritzen der Milch beim Melken, das Kratzen der Feder und dazu Vivaldis barocke Musik, die aus dem Arbeitszimmer des Maestros dringt und durch die stillen Räume hallt. Diese Klanglandschaft, verbunden mit den wechselnden Jahreszeiten und Landschaftsbildern, schafft ein Gefühl von Zeit, das mit dem Raum verwächst.
Mit der letzten Szene findet Maura Valpero ein gelungenes Ende, indem sie den Kreis schließt, aber nicht als Abschluss, sondern als leise Hoffnung: : auf eine aufkeimende Veränderung und auf Frieden.