Toxic

Akiplesa

Litauen 2024 · 99 min.
Regie: Saule Bliuvaite
Drehbuch:
Kamera: Vytautas Katkus
Darsteller: Vesta Matulyte, Ieva Rupeikaite, Giedrius Savickas, Vilma Raubaite, Egle Gabrenaite u.a.
Toxic
Lithuania’s Next Topmodel
(Foto: Grandfilm)

Geplatzte Model-Träume

Eine gehbehinderte Jugendliche und ihre Freundin träumen in Litauen von einer Karriere als Model und peinigen dafür ihre eigenen Körper

Die 13-jährige Marija wird von ihrer Mutter im Stich gelassen und zu ihrer Groß­mutter in einer trost­losen Indus­trie­stadt im Hinter­land Litauens abge­schoben. Weil sie leicht hinkt, wird sie in ihrer neuen Schule gemobbt. Beim Unter­richt in der Schwimm­halle wird ihre neue Jeans gestohlen. Als wenig später die gleich­alt­rige Kristina auf der Straße diese Jeans trägt, greift die sonst eher schüch­terne Marija sie an. Damit erkämpft sie sich den Respekt Kristinas. Die beiden verbringen immer mehr Zeit mitein­ander und freunden sich an. Die lebhafte Kristina besucht wie etliche andere junge Mädchen in der herun­ter­ge­kom­menen Gegend eine kost­spie­lige Model­schule, die den Mädchen eine Karriere in der inter­na­tio­nalen Mode-Szene verheißt. Auch Marija wird in der Schule ange­nommen – trotz ihrer Gehbe­hin­de­rung.

Um die hoch­ge­steckten Normmaße für Models zu erreichen, versuchen die Mädchen, so wenig zu essen wie möglich. Um die hohen Gebühren der Schule zahlen können, lassen sich Marija und Kristina (und andere Minder­jäh­rige) auf dubiose oder gar selbst­ge­fähr­dende Aktionen ein. Kristina bestellt sich sogar im Darknet eine Kapsel, aus der sich ein Wurm entwi­ckelt, der sich in ihrem Darm einnistet und zum Verlust von Körper­ge­wicht beitragen soll. Die geteilten leid­vollen Erfah­rungen vertiefen zugleich die Freund­schaft der beiden Mädchen.

Wie der Titel schon signa­li­siert, dreht sich der Film um toxische Sehn­süchte, toxische Bezie­hungen, toxische Figuren. Die Regis­seurin Saulė Bliuvaitė (Jahrgang 1994) hat in ihrem Drehbuch zu ihrem ersten langen Spielfilm eigene Erfah­rungen verar­beitet. Sie wuchs in einem unwirt­li­chen Indus­trie­ge­biet auf und wollte mit Dreizehn weg aus diesem Milieu. Damals war sie nach eigenen Angaben sehr dünn und versuchte, sich in einer Model­agentur anzu­melden. Als zentrales Thema ihres Films bezeichnet sie in einem Regie­state­ment den mensch­li­chen Körper: »Er erforscht die Art und Weise, wie wir uns zu unserem Körper verhalten und mit unseren Unvoll­kom­men­heiten umgehen. Wie der Körper ein Produkt, eine Währung, ein Objekt der Begierde, ein mensch­li­ches Wesen, eine einzig­ar­tige Kreation ist.«

Mit distan­zierter Härte beschreibt Toxic die triste Ödnis einer verfal­lenden post­in­dus­tri­ellen Region, in der zwei Teenager gegen die Perspek­tiv­lo­sig­keit rebel­lieren. Die Kamera von Vytautas Katkus folgt ihnen gleichsam auf Schritt und Tritt auf ihren aben­teu­er­li­chen Wegen hinein in Räume, die sich nicht selten als gefähr­lich erweisen, oft begleitet von einer schnellen Musik mit harten Rhythmen. Die Kamera lässt sich Zeit, wenn sie in sorg­fältig kompo­nierten Bildern zeigt, wie die Mädels in Orten der Verwahr­lo­sung abhängen, wie sie einem anderen Girlie einen bösen Streich spielen, wie sie sich ihre Träume vom Erfolg als Model ausmalen. Bliuvaitė konfron­tiert uns aber auch mit den häss­li­chen und schmerz­haften Seiten dieser illu­si­onären Bestre­bungen, von expli­ziten Szenen mit Essstörungen, Anorexie und Bulimie über Sauf­ge­lage mit Halb­starken bis zu unschönen ersten sexuellen Begeg­nungen und demü­ti­genden Ausflügen in bezahlte sexuelle Dienst­leis­tungen. Dabei schreckt sie nicht vor expli­ziten bis abstoßenden Bildern wie das Piercen einer Zunge oder Maden in einem mensch­li­chen Auge zurück.

Vesta Matulyté (Marija) und Ieva Rupei­kaité (Kristina) verkör­pern die beiden rastlosen Heldinnen mit großer Natür­lich­keit. Weil Kamera und Regie jedoch stets eine gewisse Distanz zu ihnen halten und nur wenige Blicke in ihr Seelen­leben erlauben, machten sie die emotio­nale Anteil­nahme der Zuschau­enden mit den Mädchen nicht gerade einfach.

Indem der Film immer wieder verdeut­licht, wie der weibliche Körper zum Objekt männ­li­cher Blicke wird, verdeut­licht er die Struk­turen der Ausbeu­tung, in die sich die Mädchen mit ihren naiven Ambi­tionen verstri­cken. Zugleich hinter­fragt er in der Figur der Marija gängige Schön­heits­ideale, denn mit ihrer Gehbe­hin­de­rung und auch mit ihrer Körper­größe entspricht sie nicht den gefor­derten Garde­maßen der Model-Industrie. Bliuvaitė gewährt auch erhel­lende Blicke hinter die Kulissen einer Mode-Agentur, etwa wenn deren dubiose Leiterin Romas (Eglé Gabré­naité) die Körper der Minder­jäh­rigen akribisch vermisst, ihnen ein profes­sio­nelles Coaching empfiehlt und stolze Gebühren für angeblich erfor­der­liche Foto-Shootings kassiert.

Auffällig ist, dass die Eltern und andere erwach­sene Bezugs­per­sonen abwesend sind oder allen­falls eine marginale Rolle spielen. Während Marija völlig auf sich allein gestellt zu sein scheint, lebt Kristina in der ärmlichen Wohnung ihres Vaters, der sich aber mehr um seine Geliebte kümmert als um die Tochter. Wenn der Vater dann aber sein Taxi verkauft, damit Marija die teuren Model-Fotos bezahlen kann, setzt die nüchterne Insze­nie­rung über­ra­schend doch einmal ein Signal der Humanität und lässt einen Funken Hoffnung aufscheinen. Wie die Schul­lei­terin bleiben auch die anderen Erwach­se­nen­fi­guren leider im Skiz­zen­haften stecken, hier verschenkt Bliuvaité ohne Not Möglich­keiten, die Figuren zu vertiefen.

Nach diesem eigen­wil­ligen Regie-Einstand, der auf dem Film­fes­tival in Locarno 2024 den Goldenen Leoparden für den besten Film und den besten Debütfilm gewann, darf man auf die nächsten Arbeiten der litaui­schen Filme­ma­cherin gespannt sein.