Tótem

Mexiko/DK/F 2023 · 95 min. · FSK: ab 6
Regie: Lila Avilés
Drehbuch:
Kamera: Diego Tenorio
Darsteller: Naíma Sentíes, Montserrat Marañon, Marisol Gasé, Saori Gurza, Teresita Sánchez u.a.
Der Wunsch nach ewigem Sonnenschein...
(Foto: Piffl Medien)

Totem und Tabu

Robert Altman lässt grüßen: Die Regisseurin Lila Avilés feiert in ihrem Film Tótem das Ungefähr des Lebens und die Magie des Kinos

Ein Tag in einer mexi­ka­ni­schen Groß­fa­milie. Im weit­läu­figen Haus mit großem Garten finden die Vorbe­rei­tungen für ein Fest statt. Es wird gekocht, geputzt und gegessen, Geister werden ausge­trieben, Fami­li­en­mit­glieder und Freunde treffen ein.
Mitten­drin die sieben­jäh­rige Sol, deren größter Wunsch es ist, endlich ihren Vater Tona wieder­zu­sehen, für den die Feier ausge­richtet wird. Aber sie ahnt es mehr als sie es weiß: Er ist todkrank, und dieser Geburtstag wird sein letzter sein. Die Feier ist ein Ausnah­me­zu­stand, in dem das normale Leben weiter­geht.

Dieser junge Maler Tona heißt eigent­lich Tonatiuh, ein Name, der in dieser Mytho­logie für den Gott des Feuers, der Sonne, steht. Die Idee des Vaters als Herrscher und Orga­ni­sator der Welt, als Lebens­spender, als Erleuchter, gewinnt an Kraft aus all dem, was diese Figur erweckt.

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Der mexi­ka­ni­sche Film Tótem, die zweite Arbeit von Lila Avilés nach La camarista (2018), verbindet Fami­li­en­ge­schichte und Kinder­per­spek­tive. Avilés zeigt eine Familie, die mit einem großen Geburts­tags­fest Abschied nimmt von einem jungen Vater, Bruder, Sohn, weil der bald sterben wird. Wir Zuschauer aber erfahren das erst nach einer Weile, denn wir nehmen das alles wahr mit den Augen eines Kindes, des Kindes, das seinen Vater verlieren wird. Wir erleben es mit seinen ganzen Vorbe­rei­tungen.
Das könnte leicht in Rühr­se­lig­keit und Kitsch münden, aber es gelingt gerade durch diese Erzähl­per­spek­tive erstaun­lich gut.

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Der Film zeigt das große Gegenteil des bei diesem Thema Erwart­baren. Es ist nämlich ein humor­voller Film; nicht zuletzt durch die Kinder – und es gibt eine ganze Menge Kinder in diesem Film. teilweise puber­tie­rende Heran­wach­sende, teilweise ganz kleine Kinder, fünf- oder sechs­jäh­rige, die zu dieser Familie aus drei Gene­ra­tionen gehören.
Am Anfang kapiert man die einzelnen Verwandt­schafts­ver­hält­nisse in dieser Groß­fa­milie noch nicht richtig, und man weiß auch noch nicht, wer hier Angehö­riger und wer Dienst­per­sonal ist. Denn alles geht inein­ander über, wie im Leben, wie in den Filmen des großen Robert Altman.

Es sind in etwa 20 Figuren, die wir hier näher kennen­lernen.

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Alles ist erzählt aus der Perspek­tive eines jungen Mädchens. Die ist ein bisschen die Haupt­figur und viel­leicht auch die Iden­ti­fi­ka­ti­ons­figur für die Regis­seurin.
Zunächst ist es auch nicht völlig klar, dass der Vater sterben wird. Zumindest eine Weile lang bekommt man nur mit: Der Vater möchte die Tochter nicht sehen, und man begreift, dass seine Krankheit schwer ist. Aber die Details kennt man nicht. Es ist alles mehr zu ahnen, als dass es wirklich ausge­spro­chen wird.
Vieles bewegt sich im Ungefähr, in einem Zwischen­raum, der viel­leicht gerade der originäre Raum des Kinos ist.

Genau das lässt die Möglich­keit, dass wir Zuschauer selber diesen Raum füllen und etwas hinein­pro­ji­zieren, dass wir auch unsere Perspek­tiven wechseln. Man weiß nicht genau, worauf das alles zuläuft. Aber es hat immer trotz des ernsten Subtextes, zu dem auch Geld­sorgen und ein paar andere Sachen hinzu­kommen, etwas unglaub­lich Leichtes.

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Tiere spielen eine große Rolle. Eine Schlange, ein Skorpion, ein Papagei, ein Hund, die Insekten – alle sind selbst­ver­s­tänd­lich.

Tiere sind nun auch Symbole. Aus einer Reihe von Symbolen, die auf der Mytho­logie verschie­dener Indio­stämme basieren, konstru­iert Lila Avilés eine Geschichte über die Bestän­dig­keit des Lebens und den Kampf gegen seine Auslö­schung.

Darum muss man auch noch auf den Titel eingehen, denn man denkt hier ja auch an Sigmund Freuds Buch »Totem und Tabu«. Der Großvater in dieser Familie ist tatsäch­lich Psycho­ana­ly­tiker; er sieht auch schon ein bisschen aus wie Papa Freud, und dieser Bezug macht natürlich auch nochmal klar: das Private ist politisch, die Familie hier ist politisch.

Die Art, wie Menschen unter­ein­ander agieren, ist politisch. Politisch ist es oft nämlich gerade nicht, wenn im Kino irgend­welche Manifeste vorge­lesen werden, irgend­welche poli­ti­schen Flaggen geschwenkt werden oder Trans­pa­rente vorge­führt – das ist, glaube ich, ein sehr plattes Vers­tändnis von Politik, dem schon Jean Luc Godard wider­spro­chen hat: Nicht poli­ti­sche Filme machen, sondern politisch Filme machen. Ein Film ist zum Beispiel nicht schon politisch, weil er aus der Ukraine kommt oder von ihr handelt. Und dann wäre auch noch die Frage: Was ist denn das für eine Politik? Das eigent­lich Poli­ti­sche ist ja das, was uns irritiert, provo­ziert, was uns zum Nach­denken bringt, was uns aufrüt­telt. Nicht das, was uns in unseren oft verengten Sicht­weisen bestätigt.

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Es wird in diesem Film dauernd gegessen und gekocht und gebacken. Es wird zube­reitet. Die Kinder – man kann es gar nicht anders sagen – machen auch viel Quatsch mitein­ander und mit den Erwach­senen, sie benehmen sich nicht, sie gehen einem zwischen­durch auch richtig auf die Nerven – man ist also als Zuschauer Teil der Familie mit allen Gefühlen.
Man muss auch nicht immer alles süß und nett finden, man kann trauern und auch lachen, und dies ist auch deswegen ganz großartig, weil es eben alles eine Insze­nie­rungs­leis­tung ist – das darf man nie vergessen: Es ist keine Familie; es sind Schau­spieler, auch sechs­jäh­rige Schau­spieler, denen dann von der Regis­seurin gesagt wird, was sie spielen sollen. Das ist eine wahn­sin­nige Leistung dieser jungen Filme­ma­cherin.

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Man erlebt eine wunderbar funk­tio­nie­rende Familie, gerade weil sie nicht immer funk­tio­niert. Zugleich geht es auch um soziale Konflikte, aber der Film verlässt den unmit­tel­baren Raum des unmit­telbar Poli­ti­schen, Gesell­schaft­li­chen und verlagert seine Themen auf das Feld des Persön­li­chen. Es wird gezankt und sich versöhnt, man erlebt die gewisse abge­stumpfte Vertraut­heit der Routine einer Familie.
Avilés zeigt das Chaos und den Alltag des Lebens, sie zeigt aber auch den Ausnah­me­zu­stand von alltäg­li­chen Verhält­nissen, in denen eine ganze Familie versucht, den Sohn zu retten.
Geldnot und Psycho­ana­lyse, Kinder­per­spek­tive und Eltern­liebe sind nur einige der vielen Themen, die in diesem Film eine Rolle spielen, und ab und zu wie in einer Art Solo in den Vorder­grund gerückt werden, um dann wieder zurück­zu­treten, und zugleich aber doch latent präsent zu bleiben.

So ist Tótem nicht einfach ein Film über den Blick eines kleinen Mädchens auf ihren rekon­va­les­zenten Vater an einem Geburtstag oder über die beste Geburts­tags­party der Welt, sondern ein Werk über Kame­rad­schaft, den nahen Tod und die Sehnsucht nach dem Unsterb­li­chen. Die Aufnahme der Tochter, die verhin­dert, dass die Kerzen auf der Torte ihres Vaters ausge­blasen werden, fasst diesen Wider­stand gegen das Vergäng­liche sensibel und klug zusammen. Der Wunsch nach ewigem Sonnen­schein.
Ein wunder­barer Film!