Spanien 2022 · 97 min. Regie: Alberto Gastesi Drehbuch: Alberto Gastesi, Alex Merino Kamera: Esteban Ramos Darsteller: Loreto Mauleón, Iñigo Gastesi, Aitor Beltrán, Vera Milán, Agurtzane Intxaurraga u.a. |
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Unschuld, Melancholie und Poesie | ||
(Foto: Mubi) |
Der Wind fegt durch die Straßen von San Sebastian. Er trägt den Geruch des Meeres in die Stadt, kündigt wohl möglich einen Sturm in den Abendstunden an. Spielerisch weht er durch die Haare zweier Frauen. Sie stehen vor der Glastür eines Immobiliengeschäfts und kommen ins Gespräch. Laura (Loreto Mauleón) ist gerade erst von Paris in ihr Heimatland zurück gekehrt, Vera (Vera Milán) lebt seit Jahren in der baskischen Großstadt. »Ich vermisse den Sturm«, sagt Laura. »Weil er dich beruhigt?«, fragt Vera nach. »Nein, nein.« entgegnet Laura. Gedankenverloren verabschiedet sich Vera, sie hat es eilig. Eine flüchtige Begegnung, ein flüchtiger Dialog.
Stillness in the Storm (Gelditasuna ekaitzean) ist ein reduzierter Film. Keine Einstellung ist verschwenderisch, kein (Musik)Ton zu viel und kein Wort überflüssig. Tatsächlich vibriert die (Liebes)Geschichte in dem Film förmlich, die Bildsequenzen changieren zwischen verschiedenen Ebenen. Zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Hell und Dunkel, zwischen hier und dort. Sätze setzen selbstverständlich von einer Sprache in die andere über, vom baskischen ins spanische oder französische – und umgekehrt. Rückkehrer bringen mehr mit als ihr Gepäck. Erinnerungen, Zweifel, eventuell auch Unvermögen.
Mit dem Wind verbindet Laura etwas anderes als nur ein Wetterphänomen. Als junge Frau bringt sie ein Sturm mit Daniel (Iñigo Gastesi) zusammen. Vor der Musikhochschule – unter dessen Vorbau vor dichten Regenschauern geschützt – warten beide schweigsam die stärksten Böen ab. Daniel kommt gerade von seiner Arbeit, Fische in der Markthalle zu verladen. Laura trägt ein Cello auf dem Rücken. Nach kurzem Zögern bricht sie auf, Daniels Blick folgt ihr. Ein anderer Tag, bei Sonnenschein. Daniel fordert Laura zur Spritztour auf seinem Roller auf, um ihr seine Heimatstadt zu zeigen. Laura nimmt das Angebot an, eine Annäherung beginnt. Mit Gesprächen wie sie nur junge Menschen führen, zart, direkt und ungestüm. In den Dialogen zeigt sich Lauras Figur abwägend, zurückhaltend. Daniels Figur ist eher stringent und zugleich innerlich zerrissen angelegt, durch eine familiäre Last in sich gefangen. Ihre Wege trennen sich wieder, driften äußeren Umständen geschuldet abrupt auseinander – an andere Orte. Bis Laura Jahre später mit ihrem Lebenspartner, dem Musiker Telmo (Aitor Beltrán) nach San Sebastian zurückkehrt, um eine Wohnung zu besichtigen. Wohl mit der Überlegung, dem Masterplan sich dieser Orts niederzulassen. Telmo pusht diesen Plan, Laura zaudert. »Eine leere Wohnung ist wie eine Einladung, das Leben neu zu beginnen«, sagt sie. Der Makler, der ihnen eine infrage kommende Wohnung zeigt, ist Daniel – oder ein Mann, der Daniel sein könnte.
»I wanted to make a geometric film, with faces, light and shade«, erzählt Regisseur Alberto Gastesi in einem Interview. Gewählt hat er für die Umsetzung dieser Geschichte das Academy-Format, wo das Bild in einem Verhältnis 4:3 auf die Leinwand projiziert wird. Ein Format mit einer langen Tradition, bis es 1953 von CinemaScope abgelöst wird und in den letzten Jahren wieder zaghaft, aber bewusst cineastisch von Regisseuren wie Eric Rohmer, Hou Hsiao-hsien, Gus Van Sant, Wes Anderson oder Andrea Arnold aufgegriffen wurde. Die britische Regisseurin Andrea Arnold äußert einmal über diesen speziellen Bildausschnitt, es sei »ein sehr humanes Format«. Bei Alberto Gastesi ist es weniger das Menschliche, als dass dieses Format ihm die Möglichkeit eröffnet, den Protagonisten, den Orten nahe zu kommen, sprunghaft zu erzählen und gleichzeitig vieles in der Schwebe zu lassen. Kameramann Esteban Ramos setzt die Erzählung eindrucksvoll in schwarz-weiß Bilder, einer Komposition von Licht und Schatten um, in den wechselnden Schattierungen der Gebäude, der Straßen, der Räume, der Gesichter. Und überhaupt, immer wieder die Hafenstadt San Sebastian. Die Markthalle am Hafen, der strenge, architektonische Bau der Musikhochschule, eine Steinmauer mit weitem Blick über das Meer, all das ist fotografiert, dass die Stadt zu atmen scheint, der aufkommende Sturm greifbar. In diesem Rahmen bewegen sich die Schauspieler ganz selbstverständlich. Spielerisch behaupten sie sich in diesem Wettergemenge und zugleich spürt man die Freiheit, die Weite ihre Rolle überzeugend zu interpretieren und darzustellen.
Alberto Gastesi hätte diese Geschichte mit großer Dramatik erzählen können, zumal neben den bisher erwähnten Protagonisten auch Vera, Daniels Lebensgefährtin, ein Teil des Geschehens ist. Stattdessen stille Bilder von enormer Intensität – mit einer Unschuld, Melancholie und Poesie. Schnörkellos zeichnet der baskische Regisseur in diesem Sturm – in dem sich Laura und Daniel nach Jahren in einer zum Kauf angebotenen Wohnung erneut begegnen – das zeitgenössische Porträt einer Generation, die ihren Platz sucht und nicht unbedingt findet.
»Einige der schönsten und aufregendsten Filme der letzten zwanzig Jahre aber sind im 4:3 Format gedreht worden.« ist im aktuellen Programmheft des Filmmuseum München zu lesen. Stillness in the Storm ist einer davon.
Anmerkung: Die Reihe Academy-Format, in der Stillness in the Storm lief, war vom 5. September bis zum 3. Oktober im Filmmuseum München zu sehen.
Regisseur Alberto Gastesi arbeitet aktuell an einem Science-Fiction-Film, der den Arbeitstitel „Singular“ trägt.