Stiller

Deutschland/Schweiz 2025 · 99 min. · FSK: ab 12
Regie: Stefan Haupt
Drehbuchvorlage: Max Frisch
Drehbuch: ,
Kamera: Michael Hammon
Darsteller: Albrecht Schuch, Paula Beer, Max Simonischek, Marie Leuenberger, Stefan Kurt u.a.
Stiller und Yulika am Wasser
Zwischen Fremdbild und Selbstbild...
(Foto: Studiocanal)

Identität ohne Risiko

Stefan Haupt bebildert Max Frischs Roman mit Respekt, aber ohne Wagemut. Aus einem existenziellen Drama über Identität und Selbsttäuschung wird ein gepflegtes, aber seelenloses Schulfilm-Panorama

Man hätte sich gewünscht, Stefan Haupt hätte Max Frischs Stiller nie gelesen – oder ihn wenigs­tens vergessen. Denn seine Verfil­mung des Romans von 1954, urauf­ge­führt im Wett­be­werb CineCoPro beim Filmfest München 2025, wirkt wie ein pflicht­be­wusstes, bildungs­bür­ger­li­ches Referat über einen Text, den man bewundert, aber nicht wirklich verstanden hat. Haupt verfilmt Frischs Jahr­hun­der­t­roman so, wie man ein Denkmal abstaubt: mit Respekt, Sorgfalt – und völliger Leblo­sig­keit.

Albrecht Schuch spielt James Larkin White, den angeb­li­chen Ameri­kaner, der an der Schweizer Grenze verhaftet wird, weil man in ihm den verschol­lenen Bildhauer Anatol Stiller zu erkennen glaubt. »Ich bin nicht Stiller«, lautet sein Mantra, das im Roman zum bitteren Leitmotiv einer Iden­ti­täts­suche wird, hier aber eher wie ein büro­kra­ti­scher Form­fehler wirkt. Paula Beer gibt Stillers Frau Julika, Marie Leuen­berger die mitfüh­lende frühere Geliebte von Stiller und spätere Frau des Staats­an­walts Rolf Rehberg, Sibylle Rehberg. Und doch bleibt alles, trotz dieses heraus­ra­genden Ensembles, seltsam papiern, distan­ziert, statisch – als stünden die Figuren selbst in einer Ausstel­lung über sich.

Max Frischs Roman war ein radikales Expe­ri­ment: formal kühn, psycho­lo­gisch präzise, sprach­lich eine Melange aus Tagebuch, Parabel, Reflexion und Selbst­zer­le­gung. »Stiller« ist ein Roman über das Ungeheuer Sprache, über Identität und Selbst­täu­schung, über die Unmög­lich­keit, sich selbst zu erzählen. Stefan Haupt aber vertraut der Sprache nicht. Er illus­triert sie. Und zwar so brav, dass man den Eindruck hat, der Film sei eigens für den Schul­un­ter­richt produ­ziert worden – mit erklä­renden Rück­blenden in Schwarz­weiß, weil Gegenwart offenbar nur in Farbe existiert, Vergan­gen­heit aber nost­al­gisch gefiltert werden muss.

Was Frisch mit schmerz­hafter Mehr­deu­tig­keit anlegt – die Frage nach Fremdbild und Selbst­bild, nach dem Verhältnis von Mann und Frau, nach der schwei­ze­ri­schen Enge – verwan­delt Haupt in museale Bebil­de­rung. Julika ist hier weniger die zerris­sene, lebens­müde Frau, die Frisch so gnadenlos ausleuchtet, sondern eine hübsch in Sepiatöne getauchte Ehefrau, die auf ihre Erlösung wartet. Schuch wiederum darf sich zwischen Schuld und Trotz abmühen, bleibt aber einge­sperrt im Korsett einer Insze­nie­rung, die jede psycho­lo­gi­sche Ambi­va­lenz glättet.

Frischs lite­ra­ri­scher Stiller lebt vom Dazwi­schen: von den Brüchen, den unzu­ver­läs­sigen Erzählern, den inneren Stimmen, den einge­floch­tenen Geschichten, die wie Spie­gel­ka­bi­nette funk­tio­nieren. Haupts Film tilgt all das. Er reduziert den Text auf Handlung, verwech­selt Klarheit mit Simpli­fi­zie­rung. Besonders schmerz­lich ist, dass er eine der wich­tigsten Passagen des Romans einfach auslässt: jene Episode nach dem Prozess, als Stiller und Julika im herun­ter­ge­kom­menen Chalet in Glion über dem Genfer See leben. Dort, in dieser trost­losen Alltäg­lich­keit, beginnt im Buch das eigent­liche Drama: die langsame Auflösung der Illusion, dass Liebe oder Kunst einen Menschen vor sich selbst retten können. Haupt aber schneidet diesen Teil heraus – viel­leicht, weil er zu still, zu unfil­misch, zu wahr wäre.

Hinzu kommt: Der Roman arbeitet mit zwei Erzäh­le­benen, zwei Zeit­maßs­täben – Stillers eigene Notate, fast in Zeitlupe, und die Gegen­stimmen des Staats­an­walts Rolf Rehberg, im Tempo eines Proto­kolls. Diese dialek­ti­sche Struktur, die den Leser in das innere Vakuum zwischen Wahrheit und Wahr­neh­mung stürzt, geht im Film volls­tändig verloren. Statt eines viel­stim­migen Diskurses erleben wir einen linearen Plot, der auf seine psycho­lo­gi­sche Essenz herun­ter­ge­kocht wird – als würde jemand Thomas Mann in eine Tele­no­vela pressen.

Und doch ist alles »gut gemacht«: Die Kostüme sitzen, das Zeit­ko­lorit der 1950er Jahre ist liebevoll gestaltet, die Kamera von Roland Stäbler umspielt die Alpen­land­schaften mit male­ri­scher Gelas­sen­heit, als wolle sie dem Zuschauer beweisen, dass die Schweiz auch schön sein kann, wenn man ihre Enge schon nicht mehr kriti­sieren darf. Das ist hübsch, aber seelenlos. Haupts Blick auf die Schweiz bleibt höflich – wo Frischs Blick grausam war. Der Film ahmt die Form nach, aber nicht den Mut.

Dass Haupt das Ende entschärft, die Tragik des Romans rela­ti­viert, ist sympto­ma­tisch. Frischs Stiller ist ein Scheitern – an sich, an der Liebe, an der Sprache. Haupts Stiller dagegen wird zu einem Mann, dem man viel­leicht verzeihen kann, der ein wenig gelitten, ein wenig geliebt, ein wenig verloren hat. Ein Exis­ten­zia­lismus light, der im Nach­mit­tags­pro­gramm des öffent­lich-recht­li­chen Fern­se­hens nicht stören würde.

Man spürt den guten Willen, man spürt die Ernst­haf­tig­keit. Paula Beer spielt mit einer stillen Inten­sität, Schuch verleiht seiner Figur Gewicht, und selbst Max Simo­ni­schek als Staats­an­walt Rolf Rehberg bringt einen Hauch von Wucht in diese akade­mi­sche Versuchs­an­ord­nung. Doch sie alle spielen gegen ein Drehbuch an, das Frischs Abgründe in psycho­lo­gi­sche Fußnoten verwan­delt.

Was dabei fehlt, ist jener exis­ten­ti­elle Schmerz, jene brennende Frage, die Frisch 1954 stellte und die heute wieder von beklem­mender Aktua­lität wäre: Wer sind wir, wenn wir nicht mehr glauben, jemand zu sein? Diese Frage, die in Zeiten von digitalen Iden­ti­täten, Avataren, Selbst­in­sze­nie­rungen und künst­li­cher Intel­li­genz brisanter denn je wäre, beant­wortet Haupt nicht – er stellt sie nicht einmal. »Stiller« bleibt bei ihm ein nost­al­gi­sches Kammer­spiel, kein Spiegel unserer Gegenwart. Man stelle sich nur einmal vor, »Stiller« in unsere Gegenwart zu trans­po­nieren. Was für ein Wagnis, was für eine Chance!

Es ist diese Mutlo­sig­keit, die am meisten schmerzt. Haupt hätte die Chance gehabt, Frischs Roman zu befreien – aus dem lite­ra­ri­schen Museum, in dem er so oft einge­sperrt wird. Statt­dessen konser­viert er ihn, poliert ihn, versieht ihn mit einem Audio­guide. Das Ergebnis: ein solider, gepflegter, aber völlig unle­ben­diger Film, dem die exis­ten­zi­elle Wucht fehlt, die Frischs Text bis heute besitzt.

»Ich bin nicht Stiller« – im Film klingt dieser Satz wie eine Behaup­tung, im Roman war er ein Schrei. Und dieser Unter­schied ist entschei­dend. Denn wo Frisch das Gefängnis des Ichs aufsprengt, baut Haupt es detail­ge­treu nach. Viel­leicht ist das dann auch der größte Verrat: nicht an der Geschichte, sondern an der Verzweif­lung, aus der sie geboren wurde.

Am Ende verlässt man den Kinosaal wie nach einem gut gemeinten Muse­ums­be­such: Man hat etwas gelernt, viel­leicht sogar gestaunt – aber nichts gespürt. Stefan Haupts Stiller ist ein Film, der seine Quelle respek­tiert, aber sie gleich­zeitig trocken­legt. Ein Film, der Max Frischs Fragen beant­wortet, bevor er sie gestellt hat. Und so bleibt dieser Stiller das, was Frischs Held niemals sein wollte: ein Fremder in seiner eigenen Geschichte.