Deutschland 2013 · 89 min. · FSK: ab 12 Regie: Thomas Sieben Drehbuch: Christian Lyra, Thomas Sieben Kamera: Jan Vogel Darsteller: Friedrich Mücke, Liv Lisa Fries, Dominic Raacke, Arnd Schimkat, Lucy Wirth u.a. |
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Spröde, kalt, vielschichtig |
Die tragischen Ereignisse in Städten von Erfurt bis Winnenden zeigen, dass das Thema Amoklau auch in Deutschland nicht mehr länger ignoriert werden kann. In den USA, wo die Thematik der „School-Shootings“ schon länger bekannt ist, hatte Gus Van Sant bereits im Jahre 2003 mit Elephant einen Film zu dem Massaker an der Columbine High School gedreht. Zehn Jahre später haben der Regisseur Thomas Sieben und sein Koautor und Produzent Christian Lyra mit Staudamm den ersten deutschen Film zu einem Amoklauf fertiggestellt. Dabei haben sie einen eigenständigen Ansatz gewählt. Während Elephant sich auf die Zeit unmittelbar vor der Tat und auf den Amoklauf an sich konzentriert, spielt Staudamm ein Jahr nach einem fiktiven Schulmassaker. Obwohl die eigentliche Tat somit bereits Monate zurückliegt, ist sie in der Form eines bleibenden Traumas bei den Überlebenden weiterhin präsent.
Staudamm zeigt das Leben des orientierungslosen Mittzwanzigers Roman (Friedrich Mücke), dessen Leben in München vor allem aus Partys und aus Computerspielen besteht. In seinem Herzen ist er ein Eigenbrötler, dem seine Mitmenschen weitestgehend gleichgültig sind, woran auch die Beziehung zu seiner Freundin zerbricht. Roman jobbt bei einem Staatsanwalt, für den er Akten auf Tonband einliest, damit der Anwalt sich diese während der Autofahrt anhören kann. So gelangt Roman dazu die Protokolle zu einem Amoklauf zu studieren, der vor einem Jahr in einem kleinen bayrischen Provinzort stattfand. Der Fall beginnt Roman zunehmend persönlich zu interessieren. Dennoch muss der lethargische junge Mann fast von seinem Chef dazu gezwungen werden selbst einmal an den Ort zu fahren, um dort noch weitere wichtige Unterlagen bei der Polizei abzuholen. Da für die Herausgabe dieser Unterlagen der Hauptkommissar unterschreiben muss, jener jedoch durch Abwesenheit glänzt, sitzt Roman dann für mehrere Tage in dem Ort fest. Immerhin lernt er dort die sympathische Schülerin Laura (Liv Lisa Fries) kennen. Während die beiden sich immer näher kommen, erfährt Roman zuerst, dass Laura selbst eine Überlebende des Amoklaufs ist und später, dass sie den Täter sogar recht gut kannte. Während Lauras genaue Rolle im Zusammenhang mit der Tat für Roman lange geheimnisvoll bleibt, machen ihm einige Unbekannte unmissverständlich klar, dass seine Anwesenheit im Ort nicht erwünscht ist.
Roman ist für den Zuschauer die Identifikationsfigur, mit der zusammen er immer tiefer in die Suche nach einem Motiv für das eigentlich Unbegreifliche eintauchen kann. Immer wieder prallt Roman dabei an einer Wirklichkeit ab, die ihr dunkles Geheimnis nicht preisgeben mag. Dabei wird die weite Voralpenwinterlandschaft zu einer leeren Projektionsfläche, die eine Vielzahl an möglichen Bedeutungen aufzunehmen vermag. Zum einen ist diese kalte Winterlandschaft ein Sinnbild für die gewaltige unausgesprochene Leerstelle, welche die Tat im Ort hinterlassen hat. Sie ist ein schweigender Zeuge für all die Toten, die Traumata der Hinterbliebenen und für das zerstörte Beziehungsgeflecht. Diese Landschaft versinnbildlicht auch die große Leere, die sich Roman bei seiner Suche nach einer konkret greifbaren Ursache für die Tat entgegenstellt. So war der Täter zwar ein Einzelgänger, aber er war weder sonderlich unbeliebt, noch sozial isoliert. Laura würde ihn sogar fast als einen Freund bezeichnen. Somit beginnt das unbekannte Ungeheuer zunehmend menschliche Züge anzunehmen. Der Täter scheint Roman stückweise näher zu kommen, obwohl die Frage nach dem Warum weiterhin im Dunkeln bleibt. Erst gegen Ende wird ein kurzer Einblick in die Geistesverfassung des Täters gewährt. Das erscheint einerseits ein wenig inkonsequent. Doch letzten Endes sind auch diese Begründungen des Täters keine ausreichende Erklärung dafür, weshalb er die Tat tatsächlich begangen hat.
Die Persönlichkeit des Amokläufers spiegelt sich bis zu einem gewissen Grad in Roman. Auch Roman ist ein Außenseiter. Auch er pflegt zwar auf seine Art einige soziale Kontakte, doch wie bei dem Täter kommt niemand so recht an Roman heran. Das ändert sich erst, als Roman die jüngere Laura kennenlernt und sich zwischen den beiden eine zarte Liebe zu entspinnen beginnt. Das lebendige Mädchen vom Lande erweckt den in sich abgekapselten Großstädter zunehmend aus dessen tiefer Lethargie. Im Gegenzug gewinnt Laura durch Roman eine neue Perspektive, die ihr erlaubt langsam die tragische Vergangenheit loszulassen. Denn innerlich durchlebt Laura nach wie vor immer wieder den Amoklauf vor einem Jahr. So schleicht sie sich regelmäßig nachts in ihre seit der Tat leerstehende Schule und geht den Ort des fatalen Geschehens ab. Staudamm gelingt das erstaunliche Kunststück die im Zusammenhang mit einem Amoklauf äußerst ungewöhnliche Romanze so unsentimental und lebensnahe darzustellen, dass niemals der Eindruck von Kitsch entsteht. Dass dies gelingt, liegt an den sehr realistischen Dialogen des Drehbuchs und an dem sehr natürlichen Spiel von Friedrich Mücke als Roman und von Liv Lisa Fries als Laura.
Diese Liebesgeschichte bringt ein wenig Wärme in den Film, der ansonsten recht kalt und zudem auch recht spröde ist. Staudamm entfaltet seine Geschichte nur sehr langsam, ist dabei allerdings sehr präzise im Detail. Die relative Handlungsarmut spiegelt auch die Lethargie, der nicht nur Roman verfallen ist, sondern in der sich seit dem Amoklauf auch der gesamte Ort befindet. Der titelgebende Staudamm ist zum einen der reale Staudamm, an welchem der Amoklauf durch die Erschießung des Täters sein Ende fand. Dabei schien es Laura zufolge so, als hätte der Amokläufer den Staudamm von vornherein als sein letztendliches Ziel gewählt. Darüber hinaus ist der Staudamm auch ein Bild für die geistige Verfassung des Täters. Er versinnbildlicht all die Dinge, die sich bei dem Amokläufer so weit innerlich aufgestaut haben, bis sich der ungeheure seelische Stau in der fatalen Tat entladen hat. Staudamm erreicht gerade durch seine starke äußerliche Reduktion eine große innere Fülle und Vielschichtigkeit. Der Film ist ein starker Beitrag zu einem schwierigen Thema, dessen filmische Aufarbeitung hierzulande längst überfällig war.