Spider-Man: A New Universe

Spider-Man: Into the Spider-Verse

USA 2018 · 117 min. · FSK: ab 6
Regie: Bob Persichetti, Peter Ramsey, Rodney Rothman
Drehbuch: ,
Musik: Daniel Pemberton
Schnitt: Robert Fisher Jr.
Große Kunst

Psychedelischer Pop Art-Trip durchs Multiversum

Let’s lay it right on the line. Bigotry and racism are among the deadliest social ills plaguing the world today. But, unlike a team of costumed super-villains, they can’t be halted with a punch in the snoot, or a zap from a ray gun. The only way to destroy them is to expose them—to reveal them for the insidious evils they really are. (Stan Lee)

Unserer Welt muss es schon ziemlich beschissen gehen, wenn man sieht, welche Mengen an Super­helden in den letzten Jahren so auf den Filmmarkt geworfen wurden. Betrachtet man allein die Marvel-Film- und Seri­en­pro­duk­tionen seit den 1940ern, kann man seit den 2010ern wirklich Angst kriegen: Von einer, manchmal zwei oder drei Produk­tionen im Jahr sind wir inzwi­schen weit entfernt. Allein 2017 gab es neun (!) Super­hel­den­pro­duk­tionen aus dem Hause Marvel. Dabei sind es ja nicht nur Kinder und Jugend­liche, die sich hier preis­günstig ihre Therapie-Sitzung abholen und vom psychisch labilen Nerd mit Außen­sei­ter­syn­drom zum wieder eini­ger­maßen funk­tio­nie­renden Mitglied unserer Gesell­schaft werden. Auch Erwach­sene scheinen den Helden- und Eska­pismus-Booster immer drin­gender zu benötigen – wer will auch nicht davon träumen dürfen, zumindest im Geheimen, in einer Gesell­schaft der unüber­sehbar Vielen etwas Einzelnes, Beson­deres zu sein? Und dann ist da immer noch die Komple­xität einer globalen Welt­ord­nung, die eh von keinem normalen Menschen mehr zu meistern ist.

Dennoch nervt die »Marve­li­sie­rung« der Welt, nicht nur weil Disney seit 2009 hinter Marvel steht und man bald einen weiteren Strea­m­ing­dienst bezahlen muss, nämlich den von Disney. Nein, was vor allem nervt, ist, dass man das Gefühl nicht loswird, dass es mit den vielen Super­helden so ist wie mit der Geld­schöp­fung während einer monetären Inflation. Je mehr es gibt, desto weniger ist es wert.

Aber auch das stimmt natürlich so nicht, gibt es doch bei aller Vorher­seh­bar­keit des Marvel-Univer­sums dann und wann auch eine Über­ra­schung, auch wenn man dafür das Universum für ein Multi­versum aufgeben muss. Denn dorthin führt uns die neueste Produk­tion Marvels, und zwar mit einem ihrer ausdau­erndsten Helden, Spider Man, von dem man nach allem, was schon da war, wirklich nichts mehr erwartet hätte. Gerade nach Sam Raimis Spider-Man-Trilogie (2002-2007), Marc Webbs Amazing Spider-Man (2012) und Amazing Spider-Man 2 (2014) und Jon Watts Spider-Man: Home­co­ming (2017) schien eigent­lich schon alles auser­zählt zu sein, was es zu erzählen gab.

Weit gefehlt. Aber wie weit gefehlt, war wirklich nicht voraus­zu­sehen. Denn wer bitte außer den wahren Hardcore-Fans hat denn mitge­kriegt, dass es seit August 2011 einen vom Texter Brian Michael Bendis und der Zeich­nerin Sara Pichelli neuen Spider Man, nämlich Miles Morales gibt, den Sohn eines schwarzen Poli­zisten und einer schwarzen Kran­ken­schwester? Zwar ist die Idee längst über­fällig gewesen, aber sie dann auch umzu­setzen, ist etwas anderes, und noch einmal etwas anderes ist es, sie nun auch als animiertes Abenteuer auf die große Leinwand und das kleine Display zu trans­por­tieren.

Animation? Die gab es im Spider-Universum natürlich auf der großen Leinwand noch nicht und auch keinen schwarzen Spider Man. Und da Animation ja meistens bedeutet, dass ein gene­ra­ti­ons­über­grei­fendes Ziel­pu­blikum ange­spro­chen werden soll, betritt Marvel unter der Regie von Bob Persi­chett, Peter Ramsey und Rodney Rothman auch hier Neuland. Aber Dreh­buch­autor und Produzent Phil Lord und sein Team wollten noch mehr Eman­zi­pa­tion, wollten zeigen, was ein Live-Action-Film nicht kann – wollten dem Medium Comic, ohne das kein Spider Man-Film zu denken ist, ein Denkmal setzen, nicht nur an die komplexen zeich­ne­ri­schen Techniken erinnern, sondern auch an die erzäh­le­ri­sche Struktur, die das Medium Comic ausmacht. Die ersten zehn Sekunden einer Art Blaupause für die folgenden Sequenzen benö­tigten ein Jahr Entwick­lungs­zeit und am Ende des gesamten Projekts die Mitarbeit von 142 Anima­ti­ons­spe­zia­listen, das größte Anima­tions-Team, das jemals für eine Sony Pictures Image­works-Produk­tion tätig war.

Das Ergebnis ist atem­be­rau­bend.

Und es ist ein Ergebnis, das selbst Kunst­ge­schichtler und Comic-Muffel ohne jedes Faible für Action, Animation oder modernes Story-Telling in ihren Bann ziehen dürfte. Denn Spider-Man: A New Universe riskiert nicht nur viel, sondern gewinnt noch viel mehr.

Da ist zum einen das nur allzu bekannte Narrativ der Bedrohung unserer Welt. Phil Lord und Rodney Rothman unter­füt­tern es in ihrem Drehbuch jedoch mit modernen mathe­ma­ti­schen und physi­ka­li­schen Paral­lel­welt-Ideen, einer Multi­versen-Realität, in der mehrere Spider-Wesen aus verschie­denen Dimen­sionen sich plötzlich in der Realität, in der die Kern­er­zäh­lung beginnt, wieder­finden, um die Bedrohung zu bändigen, vor allem aber um Michael Morales in seinem aufrei­benden Coming-of-Age-Prozess von einem normalen schwarzen Jungen zu einem Super­helden zu unter­s­tützen – und die Marvel-Moral, die ja nicht frei von auto­kra­ti­schen Grund­ideen ist, politisch ein wenig korrekter aussehen zu lassen. Und damit auch Politik zu machen, indem die Notwen­dig­keit wieder und wieder betont wird, dass das Andere, sei es nun schwarz, braun, gelb oder einfach nur defor­miert, ein Recht auf vorur­teils­freie Entfal­tung hat. Gleich­zeitig lässt sich diese Geschichte genauso gut als morbider Prozess einer Persön­lich­keits­spal­tung sehen oder natürlich auch als Lehr­stunde über Segen und Fluch persön­li­cher Entwick­lungs­mög­lich­keiten in unserer west­li­chen Welt: Lebst du in anderen Umständen, bist du auch wer anders.

Doch diese sowohl Grund­schul­kin­dern mit Medi­en­kom­pe­tenz als auch Erwach­senen ohne Berüh­rungs­ängste über Humor, Spannung und Tragik gut vermit­tel­bare Geschichte wäre nicht so außer­ge­wöhn­lich ohne ihre außer­ge­wöhn­liche künst­le­ri­sche Umsetzung.

Denn Spider-Man: A New Universe erzählt über die verschie­denen Paral­lel­welten und ihre Charak­tere auch die Geschichte des Marvel-Comics und seiner Erzähl­tech­niken der letzten 70 Jahre. Schraf­furen, Unschärfen, verquere Bilder, und Szenen­folgen, das von Stan Lee im Marvel­versum hoch­sti­li­sierte Fores­hor­tening, mit Texten versehene Gedan­ken­blasen, die den eigent­li­chen Dialog unter­füt­tern, das Einbinden von modernen Kunstat­tri­buten wie Pop-Art-Elementen und psyche­de­li­schen Schwur­be­leien – alles ist da und reibt sich anein­ander, bis es in einem großen, an Stanley Kubricks Dimensionenritt in 2001 – Odyssee im Weltraum erinnerndes Finale, in dem Erzählung und »Artwork« zu einem Ganzen fusionieren, aufgelöst wird.

Und das ist – mal ganz ohne feuil­le­to­nis­ti­sches Geplapper – einfach große, tolle Kunst und einer der aufre­gendsten Anima­ti­ons­filme dieses Jahres.