Frankreich 2012 · 105 min. · FSK: ab 6 Regie: Lorraine Lévy Drehbuch: Lorraine Lévy, Nathalie Saugeon Kamera: Emmanuel Soyer Darsteller: Emmanuelle Devos, Pascal Elbé, Jules Sitruk, Mehdi Dehbi, Areen Omari u.a. |
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Auf dem Weg zur Selbstakzeptanz |
Die französische Regisseurin Lorraine Lévy erzählt in ihrem feinfühligen Familiendrama Der Sohn der Anderen von der Fragilität von Identitäten sowie einer behutsamen Annäherung zweier Familien, die damit konfrontiert werden, dass ihre fast volljährigen Söhne direkt nach der Geburt in der Klinik vertauscht wurden. Der japanische Regisseur Hirokazu Koreeda widmet sich in Like Father, Like Son derselben Thematik und beschreibt mit Feingefühl die gedanklichen Irritationen, Ängste und Schuldgefühle der Eltern sowie das kindliche Umgehen der vertauschten Sechsjährigen mit der prekären Situation. Nachdem die Kindsaustauschprämisse seit Étienne Chatiliez’ Das Leben ist ein langer ruhiger Fluss vor allem für Culture-Clash-Komödien Verwendung fand, teilt Lévy mit ihrem leisen Drama den ernsthaften-ruhigen Ansatz Koreedas, um das Leid und die Verunsicherung der Familien herauszuarbeiten. Doch während es dem japanischen Regisseur vor allem um die unterschiedlichen sozialen Schichten, Ansichten und Erziehungsmethoden der verstörten Elternpaare geht, kreisen die Identitätsprobleme der um einiges älteren entwurzelten Söhne in Lévys Drama um religiöse Differenzen, gesellschaftliche Stellungen und verinnerlichte Vorurteile: Treffen in Der Sohn der Anderen doch eine jüdisch-israelische und eine arabisch-palästinensische Familie aufeinander, die jeweils den Sohn des anderen Paares geliebt und aufgezogen haben. So wird das persönliche Familiendrama zum Spiegelbild von sozialen und gesellschaftlichen Grenzen innerhalb einer zerrissenen Nation und zum hoffnungsvollen Appell einer Besinnung auf Gemeinsamkeiten.
Die das Westjordanland umgebende Mauer ist ein steinernes Relikt einer festgefahrenen Situation zweier von Hass und Schuldzuweisungen separierter Bevölkerungsgruppen. In Der Sohn der Anderen werden ein ums andere Mal die strikten Grenzkontrollen und eben jene einschüchternde Mauer ins Bild gerückt, welche die zementierte Grenze in den Köpfen eindrücklich versinnbildlicht. Als die israelisch-jüdischen Silbergs aus Tel Aviv und die palästinensisch-arabischen Al Bezaazs aus dem Westjordanland im Krankenhaus in Haifa zum ersten Mal zusammentreffen, würdigt man sich denn auch keines Blickes. Nachdem Englisch als neutrale Verhandlungssprache vereinbart wurde, offenbart der Klinikarzt die von beiden Paaren gefürchtete Gewissheit. Bestürzte Gesichter und betretenes Schweigen einen die beiden Familien in diesem unwirklichen Moment, in dem die Zeit still zu stehen scheint und die Gesichter von kompletter Überforderung künden. Doch bald treten individuelle Gefühle von Trauer, Unverständnis und Zorn hervor. Die mitgebrachten Bilder der vertauschten Söhne untermauern für die beiden bestürzten Paare die medizinischen Fakten der Bluttests und ihre gravierende Bedeutung – werden doch sogleich physiognomische Charakteristika der Familie bei dem bisher unbekannten Sohn wiedererkannt. Während die Väter sich überaus schwer tun den genetisch wahren, aber dennoch fremden Nachkömmling mit seiner andersartigen kulturellen Prägung in den eigenen Familienreihen zu akzeptieren und damit die gedanklichen Grenzen zwischen den nun zwangsläufig verknüpften Familien einzureißen, üben sich die beiden Frauen als Vermittler zwischen den Kulturen. In emotional aufwühlender Weise berichtet Lévy in ihrer reduzierten, auf Neutralität bedachten Inszenierung somit von störrischer Männlichkeit und Grenzen überwindenden Muttergefühlen.
Zugleich folgt sie den zwei ihrer Identität beraubten Jugendlichen auf ihrem Weg der Selbstakzeptanz. Während der behütet aufgewachsene Joseph von der religiösen Frage eingenommen ist, ob er überhaupt noch als Jude angesehen werden kann, geht es Yacine um den tieferen Sinn des Verwechslungsschicksals, das ihn kulturell zu entwurzeln droht, ihm gleichzeitig aber ungeahnte Perspektiven und Freiheiten in Israel verschafft.
Inmitten eines babylonischen Sprachengewirrs aus Hebräisch, Arabisch, Französisch und Englisch müssen die zwei von religiösen, politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen getrennten Familien zwangsläufig lernen miteinander umzugehen und den Schock über die Vertauschung der Kinder zu verarbeiten. Wie schon Eran Riklis Tragikomödie Mein Herz tanzt fängt auch die Regiearbeit der französischen Jüdin Lévy dabei die Ressentiments, die finanziellen Unterschiede und arbeitsmarkttechnische Ungleichbehandlungen der jüdischen und islamischen Bevölkerungsgruppen in Israel mit graziler Beiläufigkeit ein und konzentriert sich auf die Gefühlswirren ihrer Figuren. Und in beiden Filmen haben gänzlich unpolitische Jugendliche mit Identitätskonflikten und den gesellschaftlich formulierten Trennwänden zu kämpfen. Doch angesichts der verfahrenen Situation erscheint der hoffnungsvolle Blick auf die nachfolgende Generation wie ein verklärter, frommer Wunsch.