Großbritannien/Irland 2012 · 101 min. · FSK: ab 12 Regie: James Marsh Drehbuch: Tom Bradby Kamera: Rob Hardy Darsteller: Andrea Riseborough, Clive Owen, Brid Brennan, Aidan Gillen, Domhnall Gleeson u.a. |
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Weder leicht noch beliebig. |
Shadow Dancer, der im Wettbewerb der 62. Berlinale außer Konkurrenz lief, ist einer jener Filme, die auf den ersten Blick wenig originelle Einsichten versprechen. Vermeintlich nichts anderes als ein neuerlicher Beitrag zur umfangreichen filmischen Aufarbeitung des blutigen Nordirlandkonfliktes, der Großbritannien bis Ende der 90er Jahre in Atem hielt. Scharen britischer und irischer Filmemacher setzten sich auf ganz unterschiedliche Weise mit dem hochbrisanten wie traumatischen Thema auseinander, darunter so arrivierte Regisseure wie Neil Jordan (The Crying Game), Jim Sheridan (Im Namen des Vaters), Ken Loach (The Wind That Shakes the Barley) und Steve McQueen (Hunger). Selbst Hollywood machte sich das dramatische Potenzial der gewaltsamen Auseinandersetzungen mehrfach zu Nutze, brachte, anders als das britische Kino, zumeist aber nur formelhafte Thriller hervor. Darin dient der Nordirlandkonflikt lediglich als spannungsgeladener, oftmals austauschbarer Handlungsrahmen.
Mit der Adaption des 1998 erschienen Romans Shadow Dancer von Tom Bradby wagt sich nun auch der zwischen Spiel- und Dokumentarfilm pendelnde Engländer James Marsh auf das Feld der jüngeren nordirischen Geschichte. Wenngleich die vorwiegend weibliche Perspektive auf das Geschehen – im Zentrum steht eine hin- und hergerissene junge Mutter – einen erfrischenden Zugang vermuten lässt, droht der Einstieg solch hoffnungsvolle Erwartungen fürs Erste zu enttäuschen. Wie es scheint, haben wir es einmal mehr mit einem bestenfalls klassischen Thriller-Stoff zu tun, der auf eine schematische Heldenreise samt Überwindung des zu Beginn etablierten Traumas hinausläuft.
Als junges Mädchen muss Collette McVeigh nicht nur mit ansehen, wie ihr kleiner Bruder von britischen Sicherheitskräften erschossen wird. Sie selbst fühlt sich auch noch verantwortlich für den Tod des Jungen, da er an ihrer Stelle das Haus verlassen hat, um für den Vater Zigaretten zu kaufen. Auch zwanzig Jahre später kann die Familie das schreckliche Ereignis nicht verdrängen. Collette (Andrea Riseborough) ist mittlerweile Mutter eines Sohnes und kämpft an der Seite ihrer Brüder Gerry und Connor für die Interessen der IRA. Als die junge Frau eine Bombe in der Londoner U-Bahn platzieren soll, wird sie vom britischen Geheimdienst MI5 verhaftet. Der Offizier Mac (Clive Owen) stellt Collette vor die Wahl. Entweder spioniert sie die IRA-Zelle rund um ihre Familie aus, oder sie geht für lange Zeit ins Gefängnis, ohne Aussicht, ihren Sohn jemals wiederzusehen. Widerwillig nimmt die Terroristin das Angebot des Geheimdienstmitarbeiters an.
Regisseur Marsh und Drehbuchautor Bradby verstehen es gekonnt, den Zuschauer mit dem in den 70er Jahren spielenden Prolog zu falschen Annahmen über den Fortgang der Geschichte zu verleiten. Prominent wird Collettes Bestürzung über den sinnlosen Tod ihres Bruders ins Bild gerückt. Mehr noch: Die strafenden Blicke des Vaters sowie die sich schließende Zimmertür vermitteln ein Gefühl der Ausgrenzung. Das kleine Mädchen, so suggeriert es die Inszenierung, ist mit einem Schlag ausgeschlossen aus dem Kreis der Familie. Ein Zustand, den sie im Folgenden möglicherweise zurechtrücken wird.
Der Sprung ins Jahr 1993 jedoch lässt derartige Mutmaßungen recht bald ins Leere laufen: Wie sich nach der eindringlich gefilmten Sequenz im Londoner Untergrund zeigt, hat Collette den Zugang zur Familie keineswegs verloren. Im Gegenteil, sie ist tief verstrickt in die terroristischen Machenschaften ihrer Brüder. Und das obwohl sie als junge Mutter eine große Verantwortung trägt. Die Vergangenheit scheint so tiefe Wunden gerissen zu haben, dass Collette sich dem gewaltsamen Kampf der IRA umso mehr verpflichtet fühlt. Erfreulicherweise verliert sich „Shadow Dancer“ zu keinem Zeitpunkt in einer ausufernden Psychologisierung der Figuren, wie sie im Mainstream-Kino gemeinhin üblich ist. Andeutungen, Gesten und Blicke reichen, nicht zuletzt dank Andrea Riseboroughs nuancierter Darstellung, aus, um den Schmerz, die Unsicherheit und den inneren Kampf der Protagonistin spürbar zu machen.
Auch als mit Collettes Annahme der Spitzeltätigkeit der Boden für einen tempo- und wendungsreichen Handlungsverlauf gelegt ist, bleibt Marsh seinem unaufgeregten Inszenierungsstil treu. Obschon die Zeit der ersten Friedensverhandlungen anbricht, künden die entsättigten Bilder Belfasts von einem erstarrten gesellschaftlichen Befinden. Der jahrelange Konflikt hat mürbe gemacht, und doch darf er nach Meinung vieler Untergrundkämpfer nicht beigelegt werden. Politische Entwicklungen finden am Rande immer wieder Erwähnung, sind letztlich aber weniger bedeutend, da sich der Film vor allem für den persönlichen Zersetzungsprozess interessiert. Die Familie als Hort von Geborgenheit und Vertrauen hat längst ausgedient. Man belauert sich, denn jeder könnte ein Verräter sein. Ein „Schattentänzer“, wie es der Titel formuliert, der in einer vergifteten Umgebung, zwischen Recht und Unrecht schwankend, nur eines zu erreichen sucht: Überleben.
Mehr Drama als atemloser Psychothriller, verzichtet der Film in weiten Teilen auf allzu konstruierte Drehbuchvolten. Als Collettes Enttarnung in der zweiten Hälfte immer wahrscheinlicher wird, gerät das wirksam aufgebaute Bedrohungsszenario allerdings zeitweise ins Straucheln. So wirkt Macs verzweifelter Kampf gegen seine Vorgesetzten, die ihn offensichtlich hintergangen haben, dramaturgisch wenig ausgereift. Ähnlich verhält es sich mit den Gefühlen, die der Geheimdienstoffizier plötzlich für seine Informantin zu hegen scheint. Ist die unaufdringliche und Leerstellen lassende Erzählhaltung andernorts positiv hervorzuheben, wären hier zusätzliche Ausführungen wünschenswert gewesen.
Wie deutlich sich der Film insgesamt von festgefahrenen Strukturen abhebt, unterstreicht das unerwartet brutale Ende, das in Collettes mütterlichem Beschützerinstinkt und ihrem unbändigen Überlebenswillen zwar einen Hoffnungsschimmer aufglimmen lässt, nüchtern betrachtet aber eine grausame Gewissheit bestätigt: In Zeiten des Krieges ist jedes Opfer Recht, wenn es nur dazu dient, die eigene Haut zu retten. Zurück bleibt ein fassungsloser Zuschauer, der sich zumindest in einer Hinsicht trösten kann. Shadow Dancer sticht mühelos aus der beliebig-leichten Kost hervor, über die man sich im Kino so oft ärgern muss.