USA/CDN/MEX 2023 · 119 min. · FSK: ab 18 Regie: Kevin Greutert Drehbuch: Josh Stolberg, Pete Goldfinger Kamera: Nick Matthews Darsteller: Tobin Bell, Shawnee Smith, Synnøve Macody Lund, Steven Brand, Michael Beach u.a. |
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Leben darf, wer leiden kann... | ||
(Foto: STUDIOCANAL) |
Wo im Zuge religiöser Wandlungen das Jenseitige und Transzendente an Bedeutung verliert oder neu ausgehandelt und in anderen Formen gesucht wird, braucht es ebenso neue Vorstellungen von der Hölle. Menschen können nicht von warnenden Horrorvisionen ablassen, um sich gegenseitig zu disziplinieren. In der kommerziell erfolgreichen SAW-Reihe ist die Hölle seit jeher menschengemacht und mitten in unserer Welt verortet. An die Stelle höherer Kräfte, von Gott und Teufel, tritt der richtende Mensch, der auf Ordnung und Moral beharrt. Er konfrontiert andere mit ihren Fehlern, fordert Bekenntnisse und Demut, an die der Schmerz als Denkzettel und Ausgleich gemahnen soll. Er legt genau dort Finger in Wunden, wo vermeintliche Ordnungshüter und integre Personen versagen und ihre Schattenseiten offenbaren.
Der Jigsaw-Killer, dem Tobin Bell eine unheimliche Präsenz leiht, konstruiert seine Hölle als maschinelles Spielfeld, errichtet in Industrieruinen, Folterkammern aus Rohren, Dreck und Stacheldraht. Früher taugte das einmal zum fiesen Experiment, obwohl seine Cleverness schon immer eine recht durchsichtige Fassade war. Zumal die Reihe früh begann, möglichst verachtenswerte Figuren in Spieler zu verwandeln und mit ihrem spektakulären Ableben die Schau- und Ekellust zu reizen. Saw X ist die Weiterschreibung dessen. Obwohl das Original von 2004 seine verstörende Auflösung noch aus dem Voyeurismus selbst strickte. Verstörend deshalb, weil sie die Zeugenschaft zur Diskussion stellte und spätestens in Saw II ebenso das Medium Film mit seinen illusionistischen Mitteln in die Mangel nahm. Inzwischen sind letzte Herausforderungen, wie man sich zu dem Killer und seinen Opfern verhalten soll, bloßen Behauptungen gewichen.
Saw X, inszeniert von Kevin Greutert, ist der vielleicht unmoralischste der Reihe. Gerade dann, wenn er Menschlichkeit beweisen will. In Teil 10 wird der Mörder vollends zum Sympathieträger, Life Coach und guten Gewissen einer toxischen Welt erhoben. Verunsicherungen in der Perspektivierung haben sich verengt und auf seine Seite geschlagen. Einerseits ist das der konsequente Schritt, den etwa Saw – Spiral zuletzt scheute. Andererseits gelingt damit innerhalb des Films keine kluge oder gar kritische Auseinandersetzung, weil alles so wahnsinnig affirmativ ins Bild gerückt wird.
Anklänge, die vertrauten Pfade der Horror-Saga zu verlassen, sind rein oberflächlicher Natur. So folgt die sonst obligatorische Eröffnungsfolter erst nach einigen Augenblicken – einem potentiellen Dieb im Krankenhaus sollen die Augen ausgesaugt werden. Das Geplante, Imaginierte und Verworfene verschmelzen dabei in Trugbildern. Doch im Kern bleibt alles bei den Konventionen, solch kleinen Kniffen zum Trotz. Neu ist die Geduld, mit der Saw X ein halbgares Charakter-Melodram an den gewohnten Horror klebt. Chronologisch zwischen den ersten zwei Teilen verortet, erzählt Saw X, wie Jigsaw alias John Kramer in die Fänge betrügerischer Ärzte in Mexiko gerät. Von seinem Krebsleiden wollen sie ihn erlösen, doch ihre Medizin entpuppt sich als ausgebuffter Schwindel und schmutziges Geschäft. Also kidnappt John mit seiner Gehilfin Amanda die Beteiligten, um sie zu testen.
Für Freunde des Phantomschmerzes fährt dieser zehnte Teil nun beachtliche Effekte auf: Mit zerstocherten Armen, abgesägten Beinen oder einer Selbstoperation am offenen Hirn kennt der Körperhorror kaum Grenzen. Erschütternd und beeindruckend brachial geraten all die Gewaltakte, weil sie sich wieder kleiner, reduzierter, unmittelbarer anfühlen als einige der absurden Todesmaschinen, die sich in vorherigen Episoden zu übertreffen versuchten. Somit geht Saw X tatsächlich zurück zu den stärkeren Anfängen der Reihe, auch atmosphärisch. Von deren Intensität und Überraschungsmomenten sind allerdings dürftige Rudimente geblieben.
Entsetzen kommt hier nach Sentimentalität. John grübelt über sein Schicksal oder liefert sich mit Amanda rührende Dialoge zwischen väterlichem Rat und Gehirnwäsche. Später gesellt sich ein kleiner Junge hinzu, um die Familie zu komplettieren und in das strahlende Licht der Verklärung zu wandeln, das Saw X wörtlich in den Kinosaal scheinen lässt. Erst werden Standpauken über den freien Willen des Menschen gehalten, mit dem Jigsaw seinen Rachefeldzug legitimiert. Dann werden Gegenargumente über soziale Einflüsse und Determinanten, die Amanda vorbringt, von ihrem Ersatzvater und der blassen Figurenzeichnung, dieser Parade an hassenswerten Stereotypen relativiert.
Wozu also die Nähe zum Killer? Nennenswert neue Informationen erfährt man jedenfalls nicht. Die Geschichte um Kramers Krankheit ist bekannt. Alles folgt einem unreflektierten Verständnis von Identifikation und Einfühlung. Man schmückt biographische Hintergründe aus, wie es heutige Serien- und Franchisekultur vorlebt, egal ob sie noch Anregendes beizutragen haben oder nicht. Dass diese gefühlige und platte Vermenschlichung des Jigsaw-Killers international auf so viel positive Resonanz stößt, will sich kaum erschließen. Zumal man für ein solches Lob den furchtbar militanten Unterton gänzlich verharmlosen müsste!
Saw X ist krude Propaganda, die munter Menschen in Hierarchien, in lebenswertes und unlebenswertes Leben einteilt. Wer weder Durchhaltevermögen noch Einsicht noch Opferbereitschaft bis zum Äußersten beweist, hat sein Dasein verwirkt, so lässt einen Saw X auf die Schmerzensbilder schauen. Das Weltbild des Spielmeisters wird nicht mehr zur Debatte gestellt, sondern nur noch ideologisch gerechtfertigt und dem Publikumsblick als Ästhetik übergestülpt. Man fiebert nicht mehr mit, wie noch im Original von James Wan, sondern wartet gierig auf die Schlachtung der Sünder, die zu lang an ihrer Selbstverstümmelung zweifeln, um ihren Kopf noch retten zu können. Wie es besser geht, beweist der Held persönlich, so die fragwürdige Pointe.
Kino, das so rabiat zum Durchbeißen aufruft und seiner Gewalt so wenige Brüche verleiht, sollte alle Alarmglocken schrillen lassen. Im Kosmos von Saw X polarisieren sich schlichte Freund- und Feindbilder bis zur finalen Probe und Auslöschung. Die erstarkte Wahlfamilie formt hier die resiliente, reine und letzte verlässliche Zelle, um sich gegen die Amoral der Gesellschaft zu verteidigen. Kevin Greutert lässt jene Familie erst unfreiwillig, dann immer entschlossener ihre Stärke und Überlegenheit im sinnbildlichen Blutbad demonstrieren. Im Lebenssaft muss der Heros ersaufen, um demütig und wertschätzend wiedergeboren zu werden. Mythisch aufgeladene, verkitschte Szenen für ein reaktionäres Weltbild sind das, mit denen Saw X nach Mitgefühl und Spannung heischt.
Selbstreflexionen weichen so dem ehrfürchtigen Aufschauen. Ihre diskursive Rahmung bietet keine Möglichkeiten zum Mitstreiten oder genaueren Hinsehen, sondern nur noch die Option einer Verweigerung an. Was Jigsaw und seine neue Familie in dem sepiafarbenen Klischee-Mexiko aufführen, ist ein hohler, reaktionärer Kampfgeist-Appell. Leben darf, wer leiden kann. Selbstjustiz und Selbstentwurf als natürliche Auslese. Schmerz erdulden für Rüstung und Bestätigung, selbst im Angesicht des Todes. Ansonsten drohen ewige Marter, einsames Verenden in selbstgebauten Höllen, deren Regeln man nicht gewachsen ist. Chancen und Gleichheit gaukeln sie dort vor, wo der mächtige Strippenzieher auf der Loge thronend gaffen kann. Und dem Kinopublikum droht diese Hölle ebenso: Aktuell besteht wenig Anlass zu Zweifeln, dass diese Reihe noch lange weitergehen wird.