Return to Dust

Yin ru chen yan

China 2022 · 134 min. · FSK: ab 6
Regie: Li Ruijun
Drehbuch:
Kamera: Wang Weihua
Schnitt: Li Ruijun
Darsteller: Wu Renlin, Hai Quing u.a.
Zärtliche Gesten mit trügerischem Zauber...
(Foto: Rapid Eye Movies/Real Fiction)

Der Matsch unter den Füßen

Zwischen gesellschaftlichem Leid und malerischen Naturbetrachtungen sucht Li Ruijun nach dem Erhabenen

Li Ruijun schickt seine Figuren in die Wüste. Auf einer Düne sitzen sie: Mann und Frau oben im Bild, darunter der leuch­tende Sand, von Verwe­hungen und feinen Spuren durch­zogen. Schon früh im Film handelt es sich dabei um eines der schönsten, aber auch grau­samsten Bilder von Return to Dust. Es zeigt zwei Charak­tere an einem Ende, ausge­stoßen aus der Gesell­schaft, einander fremd, ohne viel Besitz. Ein Nullpunkt und Neustart in der Wildnis.

Ma und Guiying heißen die beiden Schweig­samen. Ma (Wu Renlin), der »vierte Bruder«, wird zu Beginn von seiner Familie ins Haus gerufen, wo seine neue Braut auf ihn wartet: Guiying (Hai Qing), unfruchtbar, in ihrem Gang behindert. Ihre Eltern wollen die hoff­nungs­losen Fälle mitein­ander vermählen, auch ohne deren Einver­ständnis. Und nun ziehen sie in die Welt, nachdem sie ihr Obdach verloren haben, um sich eine neue, gemein­same Heimat zu errichten. Ein Haus soll mitten im Nirgendwo der chine­si­schen Provinz errichtet werden. Das Publikum darf hautnah ihrem Scheitern beiwohnen.

»Was meine Finger wussten«, nannte die Wissen­schaft­lerin Vivian Sobchak ihren Aufsatz über filmische Wahr­neh­mungs­pro­zesse. Sobchak beschreibt darin die Film­erfah­rung per se als eine leiblich sinnliche, eine durch Körper vermit­telte und an Körper­wissen adres­sierte, im Fleisch veran­kerte. Bei Return to Dust möchte man die Finger in Sobchaks Titel um die Füße erweitern. Was meine Füße wussten, was meine Füße spüren können. Die Bilder, die Li Ruijun insze­niert und welche die Kamera von Wang Weihua so elegant und in strengen Kompo­si­tionen einfängt, richten sich in erheb­li­chem Maße an das taktile Nach­emp­finden.

Schlamm und Matsch reichen bis zum Knie. In Groß­auf­nahme tritt ein Fuß auf die Masse ein, stampft sie fest in der Holzform, bleibt fast stecken in dem Brei, aus dem einmal Ziegel werden sollen. In anderen Szenen geht es barfuß durch Gras und nasse Tümpel. Hände binden Stroh, erschöpfte Körper wuchten Behält­nisse mit Mörtel in die Höhe, um die Mauer ein Stück höher zu bauen. Return to Dust ist ein ungemein physi­scher Film über Arbeits­pro­zesse. Er zeigt sie in ihrer beschwer­li­chen Dauer, in Rück­schlägen. Und er zeigt sie als spürbares, greif­bares Agieren in einer sinn­li­chen und sinnlich erlebten Welt.

Grausame, wunder­schöne Natur

Wie anmutig können solche Hand­lungen überhaupt aussehen, bis sie unbe­hag­lich werden? Das ist die Frage in Li Ruijuns sehens­wertem Drama. Return to Dust faszi­niert nicht nur mit der natu­ra­lis­ti­schen Archaik der Elemente, an denen sich seine Haupt­fi­guren abar­beiten. Er stellt damit auch eine Natu­ra­li­sie­rung der bestehenden Verhält­nisse zur Debatte. Trotz aller Mühen und Strapazen, die dieser Film in seiner langen Laufzeit von über zwei Stunden vorführt, zele­briert er eine gewisse Natur­ver­bun­den­heit als Idyll – und mag das Leben noch so furchtbar sein. Beim Schlürfen der Nudel­suppe teilt man sich den Platz mit gackernden Hühnern, ein Esel ist Teil der Familie. Immer wieder fällt goldenes Licht auf die Szenerien und bringt selbst das größte Elend zum Glänzen.

Und die Figuren, Ma und Guiying? Sie arran­gieren sich mit ihrem Schicksal und versuchen sich an einer Gegenwelt, nähern sich einander an, streben nach Glück in ihrer Misere. Träumen vom Zuhause als ewige Mühsal. Die Saat auf dem Feld wird rituell und symbol­trächtig aufge­laden, bis sich das Zyklische der Jahres­zeiten, des Beackerns und Anbauens auch in den Leben der Figuren mani­fes­tiert. Es geht darum, einen Ursprung zu finden, etwas fruchtbar werden zu lassen, heimisch zu werden, zumindest für kurze Zeit. Eine Zähmung der Land­schaft als Kampf gegen die eigene Entwur­ze­lung.

Einmal kommen Ma und Guiying in die große Stadt und nehmen an einer Wohnungs­be­sich­ti­gung teil. Zu Propa­gan­da­zwe­cken sind Kameras dabei. Alles schön und gut für die Menschen, aber wo sollen bitte die Tiere wohnen? Die urbane Moderne bietet keinen Platz für Lebens­ent­würfe wie jene von Ma und Guiying. Also zieht es die beiden doch wieder in das »einfache« Landleben zurück. Das Verspre­chen vom gesell­schaft­li­chen Aufstieg passt nicht zum Bild, das man von seinem Platz in der Welt verin­ner­licht hat.

Provokant und idea­li­sie­rend sind also das wieder­holte Betonen von Beschei­den­heit sowie die Akzeptanz des Schei­terns an der Gesell­schaft, die Li Ruijun hier insze­niert. Und dennoch gelingt ihm ein erstaun­lich eigen­sin­niges, ambi­va­lentes Werk. Es eman­zi­piert sich von rein vorder­grün­diger Verklä­rung, selbst wenn all die hinreißenden Bilder und zärt­li­chen Gesten noch so trüge­ri­schen Zauber versprühen. Weil sie bei aller Würde, die man den Figuren abringt, ihre unwür­digen Umstände nicht ausblenden können.

Bluten für das System

Return to Dust verortet seine Figuren ganz deutlich in umfas­senden Ausbeu­tungs­me­cha­nismen, von Neid und Missgunst anderer ganz zu schweigen. Der Groß­grund­be­sitzer ist krank, er braucht »Pandablut«. Ma kann mit der passenden Blut­gruppe dienen. Schließ­lich muss der Herr gesunden, damit die Arbeits- und Zahlungs­kreis­läufe im großen Mitein­ander fort­ge­führt werden können. Das heißt natürlich nur: bestehende Herr­schafts­ver­hält­nisse am Leben halten. Eine kanni­ba­lis­ti­sche Verein­nah­mung. Bis zur Erschöp­fung wird Ma zur Ader gelassen.

Kann bei alldem also noch irgend­eine Form von Erha­ben­heit geschehen? Das ist es doch, was Ma und Guiying sowie der gesamte Film suchen. Und zwar durchaus in dem Sinne, wie es Schiller in seinem Text »Über das Erhabene« als innere Spannung und Gleich­zei­tig­keit von Wehsein und Frohsein beschrieben hatte. Als Loslösen vom allein Sinn­li­chen und Schönen. Man federt über ein mora­li­sches Bewusst­sein die äußeren Zwänge und Gewalten ab, eignet sie sich an, indem man sich ihnen unter­wirft. Li Ruijungs Helden stellen sich dieser irri­tie­renden Heraus­for­de­rung.

Und der Autoren­filmer weiß um die Kraft der Kunst, einen solchen Erkennt­nis­pro­zess mit aller Zwie­späl­tig­keit und Emotio­na­lität vorzu­führen. Er setzt mit seinen Bildern selbst hinter die gefasste Aussöh­nung mit dem Grausamen noch eine größere, bittere Wirk­lich­keit, die das Vergehen in der Zeit über­dauert. Der Mensch, sein Besitz, ganze Biogra­phien werden da dem Erdboden gleich­ge­macht. Einer wie der andere. Alltag im System. Dort in der Abge­schie­den­heit, wo niemand hinsehen soll. China waren die kriti­schen Blicke auf eine solche Lebens­rea­lität offenbar ein Dorn im Auge. In seinem Herkunfts­land gelang Return to Dust ein Über­ra­schungs­er­folg an den Kino­kassen – bevor er zensiert und einge­zogen wurde.